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Auf der Erde leben einundeinedreiviertel Milliarde Menschen (die Anwesenden
natürlich ausgenommen) - und im Grunde denkt jeder, er sei allein,
was die Qualität anbetrifft. »So wie ich …« denkt jeder,
»so ist kein anderer - so kann kein anderer sein.« Ob das wohl
richtig ist?
Wir sehen den Verbrecher und den Jubilar als Einzelwesen und rechnen
beiden das allgemeine Niveau mit an; es ist so, wie wenn sich ein Seehund
rühmen wollte, daß er schwimmen kann. Alle Seehunde können
es.
Da ist zum Beispiel der Beruf.
Sie kennen ja alle die Festrede, die bei der Jahresversammlung des
Reichsverbandes wissenschaftlich geprüfter Traumbuch-Verfasser steigt:
jeder Traumbuch-Verfasser ist mindestens ein Napoleon, ein Goethe, ein
Rockefeller, ein … nach Belieben auszufüllen. Andere Berufe kommen
da gar nicht mit. Vor wem erzählt der Mann das eigentlich? Damit kann
er doch nur einem Eskimo imponieren, einem der nicht weiß, daß
die in der Festrede gerühmten Eigenschaften heute so ziemlich alle
zivilisierten Menschen besitzen: wir alle können telefonieren, ein
Grammophon anstellen, das elektrische Licht anknipsen; viele von uns können
schoffieren, viele haben Entschlußkraft, verstehen, sich in einer
fremden Stadt zurechtzufinden, können Reisedispositionen treffen -
es ist die Zeit, die die Menschen so geformt hat; das Verdienst eines einzelnen
ist es nicht. Aber das hören sie nicht gern - sie spielen vor sich
selber und vor einem imaginären Publikum gern den Wundermann. »So
schön wie ich das kann …« Verlaß dich drauf: der andere
kann das alles auch.
Der Schriftsteller tut gern so, als sei er von einem Zauberwesen begnadet
und als sei dies etwas ganz und gar Einzigartiges: schriftzustellern -
und vergißt dabei, daß es Tausende und Tausende können,
wie er. Der Arzt umgibt sich gern mit einer Atmosphäre des geheimnisvollen
Medizinmannes (wobei nicht untersucht werden soll, inwieweit der Patient
das braucht und wünscht). Der Industrielle tut gern so, als habe er
allein - Herr Generaldirektor Bölk - Tatkraft, Klugheit und Umsicht
der ganzen Welt gepachtet … kurz: jeder will als Einzelwesen gewertet und
möglichst verehrt werden und läßt unbewußt-bewußt
außer acht, daß Millionen neben ihm und um ihn sind, die sich
auf genau derselben Ebene bewegen wie er es tut.
Dagegen wehrt sich das Individuum - es ist sein letzter, sein verzweifelter
Kampf gegen unbarmherzige Uniformierung einer mechanistischen Zeit. Er
will nicht. Er spielt: einmaliges Individuum.
Die klugen (die Anwesenden natürlich eingeschlossen) geben das
alles für den Beruf und für das Gemeinschaftsleben zu. »Aber«,
sagt jeder von ihnen, »aber … man hat doch da so seine kleinen Eigenheiten
…« Und hier wird die Sache restlos komisch.
Denn gerade bei den »kleinen Eigenheiten« ist die Übereinstimmung
so groß, daß man glauben sollte, die Menschen würden in
Serien hergestellt.
Die Tage der Niedergeschlagenheit, wo alles aus ist: Beruf grau, Liebe
danebengegangen, Geld flöten, Bücher langweilig, das ganze Leben
verfehlt - der andere auch! Der merkwürdige Waldspaziergang damals,
wo von den Fichten lauter Gestorbene heruntergrüßten und so
schauerlich nickten, und wo du schneller gingst, weil du Furcht hattest,
dich drüber ärgertest, Mut markiertest, und nun noch mehr Furcht
hattest - der andere auch! Der wie ein Nieskitzel plötzlich auftretende
Reiz, bei ganz ernsten Situationen lachen zu müssen, die Angst davor,
das Bemühen, dieses blödsinnige Lachen gerade noch herunterzuschlucken
- der andere auch! Immer: der andere auch.
Du hast da morgens, wenn du dich anziehst, eine Reihe kleiner, fast
sakraler Handlungen … der andere auch. Du hast manchmal, bevor du in ein
fremdes Haus gehst, die »Portalangst« … der andere auch. Du
bist mutig, sagen wir, beim Zahnarzt und feige vor dem Examen - oder umgekehrt
… der andere auch. Du machst so eine komische Bewegung mit den Kinnbacken,
wenn du ein Buch aufschneidest … Immer, immer: der andere auch.
Ja, zum Donnerwetter, sollen wir denn nun gar nichts mehr haben, das
uns ganz allein gehört? Doch, das gibt es vielleicht … aber es finden
sich stets, wenn man näher hinsieht, Hunderte, die machen es dann
doch genau so, und Tausende, die machen es beinah so, und Zehntausende,
die machen es ähnlich … der andere auch.
Es tut gut, das zu wissen.
Denn nichts ist gefährlicher, als den Partner zu niedrig einzuschätzen
- auf diese Weise sollen schon Kriege verloren gegangen sein. Glaub du
ja nicht, du seist der einzig Schlaue weit und breit; du allein verständest
den Reiz der Einsamkeit auszukosten; habest allein den Wunsch, mit einer
Frau auf einer einsamen Insel (für vier Wochen) zu wohnen … glaub
das nicht. Und doch glauben wir es im stillen alle.
Wir besetzen das Theater des Lebens so:
Hauptrolle: ICH. Dann eine ganze Weile gar nichts. Dann eine unübersehbare
Statisterie: die andern. Nicht, daß wir sie nun alle für dämlich
hielten … aber eben doch nur: für die »andern« … und es
gehört schon eine ganze Menge Lebensklugheit, nein, Weisheit dazu,
einzusehen, daß es mit den andern im Grunde genau, aber ganz genau
so bestellt ist, wie mit uns. Denn jeder von ihnen hat schon verzweifelt
vor einem Haus auf eine Frau gewartet und dabei an dem Haus hochgesehen
wie an einem bösen Urwelttier … jeder von ihnen hatte seinen kleinen
Stolz, als er sich freigeschwommen hatte; jeder von ihnen hat vier kleine
dumme Gegenstände in den Schubladen, die behangen sind mit Erinnerungen
… jeder hat das. Nicht nur du allein. Nicht nur ich allein. Jeder hat,
um es mit einem Wort zu sagen, die unaufgeräumte kleine Schublade,
auf die jeder so stolz ist, als habe er sie ganz allein.
(Peter Panter, Uhu, Jg. 7, Heft 9, Juni 1931, S. 72-76)
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