Spatenstiche in den
gefrorenen Acker
Vom Ende der
Einsamkeit – der vierte Roman des 31-jhrigen Benedict Wells
Von REINHARD HELLING
Das
Drama beginnt 2014 mit einem Motoradunfall von Jules Moreau und seinem Seufzer:
Ich kenne den Tod schon lange, aber jetzt kennt der Tod auch mich. Der Name
des einzelgngerischen Ich-Erzhlers ist – das Buchcover deutet es an
– eine Anspielung auf Franois Truffauts Film Jules und Jim mit Jeanne
Moreau – eine traurig-schne Geschichte, wie Kinogeher wissen.
Ganze
sieben Jahre hat der 31-jhrige Shooting-Star Benedict Wells an dem Roman mit
dem hoffnungsvollen Titel Vom
Ende der Einsamkeit geschrieben, fr den Diogenes-Verleger Philipp Keel
ihm so viel Zeit gab, wie ich wollte. Und der gebrtige Mnchener macht klar,
wofr er den Freiraum nutzte: Die Handlung erstreckt sich ber 35 Jahre, ich
musste eine vllig andere Sprache verwenden, als Schriftsteller quasi alles neu
lernen.
Die
Geschichte von Jules, Martin und Liz Moreau, in der weder die Liebe noch der
Tod zu kurz kommen, beginnt 1980. Die drei wachsen behtet in Mnchen auf, bis
sie im Januar 1984 ihre Eltern durch einen Autounfall in Frankreich verlieren.
Von einem Tag auf den anderen ist alles anders: Die ungleichen Geschwister
kommen aufs Internat, gehen verschiedene Wege, verlieren sich aus den Augen,
treffen sich wieder. Zur entscheidenden Helferin in Jules Kampf gegen das
Gefhl von Einsamkeit wird seine Klassenkameradin Alva, mit der er sich mhsam
anfreundet: Bei den ersten Gesprchen war es, als msste ich fr jedes
Wort einen Spaten in einen gefrorenen Acker rammen. Bewundernswert, mit
welcher Sicherheit Wells die richtigen Worte fr schwierige Gefhle findet.
Sein
Eindringen ins Reich der Bcher erinnert an Benjamin
Lebert, das andere literarische Wunderkind aus Mnchen. Wie der Autor von Crazy
(1999), der sein in 33 Sprachen bersetztes Debt als 17-Jhriger gab, ist
Wells eher schchtern, reist ungern, meidet Talkshows und gibt kaum Interviews.
Und wie Lebert ging der gefeierte Jungautor aufs Internat, und nicht nur auf
eines: Seine komplette 13-jhrige Schullaufbahn absolvierte Wells in drei
bayerischen Schuleinrichtungen mit angeschlossener Unterkunft. Gerade die letzten Jahre im Heim waren die schnsten meines
Lebens. Mit seinen besten Freunden zusammenzuwohnen, nachts Unsinn zu machen
oder bis zum Morgen zu reden, diese Zeit bedeutet mir sehr viel, sagt
er rckblickend. Fr die Geschwister im Roman ist es viel schwieriger auf dem
Internat, weil sie schon Teenager sind, aus ihrem alten Leben herausgerissen
werden und Freunde und ihr Zuhause zurcklassen mssen.
Nach
dem Abitur zog Wells nach Berlin. Nicht zum Studieren, sondern um – in
einer echten Absteige hausend – tagsber zu jobben, damit er sich nachts
den Traum vom Schreiben erfllen konnte. Sein Debt Becks
letzter Sommer (2008), die Geschichte des Musiklehrers Robert Beck, der
mit Ende 30 sein Leben berdenkt, ins Auto steigt und nach Istanbul fhrt,
erhielt 2009 den Bayerischen Kunstfrderpreis und wurde 2015 mit Christian
Ulmen und Friederike Becht in den Hauptrollen verfilmt. Nur ein Jahr nach dem
vielbeachteten Erstling folgte Spinner,
der parallel zum Debt entstandene Roman ber Jesper Lier, einem am Prenzlauer
Berg lebenden Jungautor. Mit diesem zweiten Buch konnte Wells – wie
Lebert mit Der Vogel ist ein Rabe (2003) – den Verdacht ausrumen,
lediglich ein One-Shot-Autor zu sein.
Wie
der Schulabbrecher Lebert, der spter seinen Hauptschulabschluss nachholte,
hielt auch der Abiturient dem Erwartungsdruck stand und lieferte seinen Fans
neuen Stoff: 2011 legte Wells, der beim Schreiben gern Bob Dylan hrt und
Scarlett Johannson Paris Hilton vorzieht, den Roman Fast
genial vor, der ber 100000-mal verkauft wurde und monatelang auf den
Bestsellerlisten stand. Er erzhlt von Francis Dean aus dem Trailerpark in
einer Kleinstadt in Delaware, dessen Zukunft aussichtslos erscheint. Bis der
17-Jhrige erfhrt, dass sein ihm unbekannter Vater ein Genie ist und er sich
auf die Suche nach ihm macht – das Abenteuer seines Lebens. Bei der
Gestaltung der Figur hat sich der jngste Diogones-Autors aller Zeiten
offensichtlich an Holden Caulfield orientiert, dem Helden aus J.D. Salingers
Kultroman Der
Fnger im Roggen. Neben Salinger gehren John Irving (Das
Hotel New Hampshire) sowie Kazuo Ishiguro (Was vom Tage brigblieb) zu
seinen literarischen Vorbildern.
Fr
die erste Fassung seines neuen, sehr reifen Romans hat Wells, aktives Mitglied
der deutschen Fuball-
Benedict
Wells:
Vom Ende der Einsamkeit, Diogenes, 357 Seiten, 22 Euro.
Hrbuch (6
CDs, 7:35 Stunden), gelesen
von Robert Stadlober, Diogenes Hrbuch, 25 Euro.
Abdruck nach Rcksprache per Mail
an helling.reinhard@gmail.com mglich.
2016 Reinhard Helling