Auf den ersten Blick scheinen „Talmud und Internet“ nur wenig miteinander
zu tun zu haben, sich sogar auszuschließen: hier die jahrtausende
alten religionsgesetzlichen Lehrsätze und Traktate zu allen Bereichen
jüdischen Lebens, dort das sich ständig neuschreibende, weltumspannende
Verständigungsnetz unserer Zeit. Doch der amerikanische Publizist
Jonathan Rosen, der die beiden Begriffe in seinem gleichnamigen Büchlein
mit dem Untertitel „Eine Geschichte von zwei Welten“ (Jüdischer
Verlag, 113 Seiten, 16,90 Euro) in Verbindung setzt, macht auf verblüffende
strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Wortmeeren aufmerksam.
Der 39-jährige New Yorker, dessen Liebesroman „Evas Apfel“ (1997,
Fest Verlag) über eine Hungerkünstlerin noch in guter Erinnerung
ist, beginnt beim Offensichtlichen: Auf einer Talmudseite steht in der
Mitte der Mischnatext, die Diskussionen der frühen Schriftgelehrten
über die Bibelauslegung, darunter die Gemara, die Diskussion späterer
Rabbinen über die Diskussionen der früheren Rabbinen. Daneben
stehen die Kommentare des Exegeten Raschi sowie Querverweise zu anderen
Talmudstellen. Nicht anders sieht ja auch eine Homepage aus: mit ihren
Texten und Bildern, Icons und Links. Und da – als Ganzes betrachtet
– weder Talmud noch Internet einen verantwortlichen Autor haben, bieten
beide eine Fülle von unvereinbaren Deutungen, von Geschichten, Gegengeschichten
und Widersprüchen.
„Wende es immer von neuem, denn alles ist darin enthalten“ – dieser
berühmte Ausspruch aus dem Babylonischen Talmud, trifft ebenso aufs
World Wide Web zu: Es gibt wohl nichts, was so clevere Suchmaschinen wie
Google nicht aus dem Netz fischen, ob nun Schafzucht, Pornografie oder
Elefantenpolo. Oder auch die
virtuelle Rekonstruktion zerstörter Synagogen, die der Autor auf
der Seite der Universität
Darmstadt fand.
Rosen, der über John Miltons „Das verlorene Paradies“ promovierte
und zehn Jahre lang das Feuilleton der jüdischen New Yorker Wochenzeitung
„The Forward“ leitete, bringt in seinem persönlichen Gedankenspiel
aber noch zwei andere Welten zusammen: die seiner beiden Großmütter,
von denen eine in Europa, die andere in Amerika aufwuchs. Ihr Leben (und
Sterben) symbolisiert für ihn Katastrophe und Wohlstand, Christentum
und Judentum, Antisemitismus und Toleranz. Und so bietet sich an, Rosens
Essay, den er in Anspielung auf William Blake eine „Hochzeit von Himmel
und Hölle“ nennt, als Einladung zur Offenheit zu begreifen.
© 2002 Reinhard Helling