Das produktive Phantom
Mit dem 9/11-Roman ãBleeding EdgeÒ behauptet Thomas Pynchon seinen Ruf als einer der interessantesten US-Autoren
der Gegenwart
Von REINHARD HELLING
Als
Thomas Ruggles Pynchon noch jŸnger war – inzwischen ist er auch schon 77 Jahre
alt –, nahm er sich mehr Zeit fŸr ein Buch: Ganze 17 Jahre lagen zwischen
dem schwer zu entschlŸsselnden Roman ãDie Enden der ParabelÒ (1973), fŸr den
der gro§e Unsichtbare der amerikanischen Literatur einen National Book Award
bekam, und dem geradezu verschlingbaren Kalifornien-Roman ãVinelandÒ (1990).
Weitere sieben weitere Jahre verstrichen, bis das Landvermesser-Epos ãMason
& DixonÒ (1000 Seiten) erschien, noch einmal neun, in denen der
Nabokov-SchŸler den 1600-Seiten-Koloss ãGegen den TagÒ (2006) stemmte.
Verglichen damit sind die fast im Vier-Jahres-Rhythmus erschienenen Romane
ãInherent ViceÒ (2009) und ãBleeding EdgeÒ (2013) geradezu SchnellschŸsse.
So stetig sein Werk wŠchst, das Wissenschaftler
(pynchonnotes.org), Freizeitforscher (pynchonwiki.com) und Pynchon-Kongresse
wie 2008 in MŸnchen akribisch auseinandernehmen, so wenig andere Belege seiner
Existenz gibt es. Die vier bekannten Jugendfotos zeigen Pynchon als 16-
beziehungsweise 20-JŠhrigen. Sie bieten wenig Vergleichsmšglichkeiten mit den
Paparazzi-Bildern, auf denen der Autor angeblich 1997 mit seinem Sohn in N.Y.C.
zu sehen sein soll. Nur ganz Wenige bekommen den šffentlichkeitsscheuen Mann
Ÿberhaupt zu Gesicht, darunter natŸrlich seine Familie: Ehefrau Melanie
Jackson, die als Literaturagentin arbeitet, und ihr 1991 geborener Sohn Jackson
Pynchon, der gerade seinen Abschluss an der Columbia University gemacht hat und
bei Facebook ganz normal Hunderte Freunde um sich schart.
Auch Pynchons achter, in Manhattan und Montauk
angesiedelter Roman fordert den Leser mit 600 Seiten Abschweifungen Ÿber
Computer, Internet, Web-Design, den Immobilien- und Aktienmarkt und 9/11
gehšrig heraus. Oder in den Worten des von Pynchon selbst verfassten
Klappentextes: ãDas Web 1.0 leidet unter pupertŠren AngstzustŠnden, Googles
Bšrsengang steht noch bevor, aber es herrscht kein Mangel an Schwindlern, die
darauf aus sind, sich ein StŸck des Kuchens abzuschneiden.Ò
Es beginnt am ersten FrŸhlingstag des Jahres 2001, als
die von Horst Loeffler geschiedene Maxine Tarnow ihre beiden Sšhne Ziggy und
Otis zur jŸdischen Otto-Kugelblitz-Schule auf der Upper West Side bringt. Ein
StŸck die Stra§e runter hat die Wirtschafts-Detektivin ihre
Betrugsermittlungsagentur ãErtappt – GeschnapptÒ. Nach dem morgendlichen
Kollegen-GeplŠnkel, bei dem schon mal SŠtze wie ãParanoia ist der Knoblauch in
der KŸche des Lebens – man kann nie genug davon habenÒ fallen, beschert
ihr Freund, der Dokumentarfilmer Reg Despard, ihr einem Auftrag: Sie mšge doch
bitte mal die Computer-Sicherheitsfirma hashslingrz.com und deren Chef Gabriel
Ice unter die Lupe nehmen – und sicherheitshalber ihre Beretta
mitnehmen.
Kaum ist sie etwas tiefer in die Bleeding-Edge-Materie
(Fachchargon fŸr eine riskante, noch nicht erprobte IT-Technologie)
eingestiegen, bei der ihr eine arbeitslose Programmiererin von hwgaahwgh.com,
einem Web-Grafik-BŸro, behilflich ist, steht der ominšse Staatsvertreter
Nicholas Windust bei ihr vor der TŸr. Er verlangt von ihr Informationen Ÿber
ihren Schwager in Israel, der fŸr den Mossad arbeitet. Es bleibt also nicht
beim Spaziergang durch Manhattan – obwohl viele …rtlichkeiten erkennbar
sind – und einem Nachruf auf die Dotcom-TrŠume. Zu vielem von dem, was
erst spŠter passierte oder von dem man erst kŸrzlich erfuhr, hat Pynchon hier lŠngst
die Lunte gelegt: von der NSA-†berwachung Ÿber Edward Snowden bis hin zu
internationalem Terrorismus.
WŠhrend wir eine zweite Lesung erwŠgen, um noch mehr
Andeutungen und Wortspielereien zu verstehen, schaut man in Amerika gebannt die
ersten Trailer zu der Verfilmung von ãInherent ViceÒ, mit der sich Paul Thomas
Anderson (ãBoogie NightsÒ) erstmals an ein Pynchon-Werk traut. Alle wollen
wissen, was dran ist an dem GerŸch, dass der Autor in der schrŠgen Story mit
einem kiffenden Detektiv aus dem Los Angeles der Siebzigerjahre neben Stars wie
Joaqu’n Phoenix, Reese Witherspoon und
Benicio Del Toro einen Cameo, einen kurzen Auftritt ˆ la Alfred
Hitchcock, haben soll. So richtig beurteilen kann man das erst, wenn der Film
am 12. Dezember in die US-Kinos kommt.
Vielleicht gilt fŸr die erste Pynchon-Verfilmung und
den neuen Roman aber auch einfach, was Maxines Freund Reg sagt: ãDu kannst dir
mein Zeug ansehen, bis du schielst – du wirst keine verborgenen
Bedeutungen finden.Ò
Thomas
Pynchon: ãBleeding
EdgeÒ, aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren, Rowohlt, 605 Seiten,
29,95 Euro.
(Abdruck nach
RŸcksprache per Mail an helling.reinhard@gmail.com
mšglich)
© 2014 Reinhard Helling