Obsessives Schreiben
Neues von und über Herman Melville
Vielleicht war er wirklich verrückt; besessen war Herman Melville in jedem Fall. Moby-Dick, 1851 ausgespuckt, hatte dem Jungautor, der erst fünf Jahre zuvor seine Karriere mit den Südsee-Romanen Typee und Omoo begonnen hatte, statt Geld nur Ärger eingebracht. Doch vom finanziellen Schiffbruch, den der 33-Jährige mit dem Walfänger-Roman erlitt, ließ sich der Ehemann und Vater von zwei Söhnen ebensowenig entmutigen wie von der kalten Schulter, die ihm Kritik und Publikum zeigten: Keine zehn Monate später legte er Pierre; or, The Ambiguities vor, ein nicht minder ambitioniertes Buch. Genau 150 Jahre später erscheint das umstrittenste Melville-Werk, das dem Autor zu Lebzeiten nicht einmal 160 Dollar einbrachte, nun in neuer Übersetzung: Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten (Hanser, 744 Seiten, 34,90 Euro). Geleistet hat die Arbeit Christa Schuenke, die schon Maskeraden, Melvilles letztes großes Prosawerk von 1857, ins Deutsche übertragen hat.Kapitän Ahabs Kampf mit dem weißen Wal und den elementaren Naturgewalten auf See folgte der Abstieg in die Abgründe der menschlichen Seele auf dem Land, wobei Melville in der Figur des Pierre Glendinning seine Erfahrungen als unverstandener Autor verarbeitete. Als ein Buch, das „wesentlich stärker auf den Beifall des Publikums ausgerichtet ist als alles, was Sie bisher von mir veröffentlicht haben“, hatte Melville seinem Londoner Verleger seinen siebten Roman angekündigt. Schlimmer noch als ausbleibender Beifall: Pierre, als Zugeständnis an weibliche Leser gedacht, wurde von der Kritik zerfetzt und der Autor selbst angegriffen: seine „Phantasie ist krank, seine Moral ist verkommen, sein Stil unsinnig und ungrammatisch“, hieß es. Oder: „Affektiert in der Sprache, widernatürlich in der Auffassung, ekelerregend in der Handlung und kunstlos in der Ausführung“. Eine Hinrichtung erster Klasse.
Womit hatte Melville seine Zeitgenossen so schockiert? Mit einer Geschichte über Inzest: Pierre, verlobt mit der engelsgleichen Lucy und zudem seiner jugendlich wirkenden Mutter eng verbunden, verliebt sich in die rassige Näherin Isabel. Doch die gesteht sie Pierre sei die uneheliche Tochter seines Vaters. Wo Liebe hinfällt und die Moral im Weg steht, kommt es zur Tragödie. Als Mord nicht zum Glück führt, bleibt nur noch Selbstmord.
Erstaunlich, dass Melville, der die letzten Jahre seines Lebens als Zollinspektor im Hafen von New York Dienst schob, nebenbei Vorträge hielt, Lyrik produzierte und am 28. September 1891 mit 72 Jahren starb, noch heute Übersetzer, Biografen, Schriftsteller und Leser dermaßen beschäftigt.
Dass in „Moby-Dick“ Frauen keine Rollen spielen, hat zum Beispiel US-Autorin Sena Jeter Naslund veranlasst, sich Ahabs Frau (Scherz, 512 Seiten, 24,90) anzunehmen, die nach dem Tod ihres Mannes auf der Walfängerinsel Nantucket als Witwe ein neues Leben beginnt. Für Ohrenmenschen hat Stephan Benson Melvilles Reisetagebücher nach Europa und ins Heilige Land unlängst von der Achilla Presse publiziert als Hörstück arrangiert: Sehnsucht nach dem Weißen Wal (Hoffmann und Campe, 2 CDs, 140 Minuten, 22,90 Euro).Der ehemals in Hamburg ansässige Claassen Verlag, der in den Sechzigern mit zahlreichen Übersetzungen wesentlich zur Verbreitung des Werks von Melville bei uns beigetragen hat, bringt mit Elizabeth Hardwicks Buch Herman Melville (212 Seiten, 12 Euro) die erste deutsche Biografie des Autors heraus. Kritische Distanz zum Gegenstand seiner Untersuchung ehrt jeden Biografen, aber dass Hardwick Pierre ein „Abfallprodukt“ nennt, „zu lang, schwerfällige Handlung, bombastisch überladen und völlig wirklichkeitsfremd“ ein Urteil aus dem Jahr 2000 wohlgemerkt überrascht. Aber nur solange, bis man im Nachwort erfährt, dass sie über diesen Roman „eilig hinweggegangen“ sei.
Überhaupt wäre „Biografie für Fortgeschrittene“ die bessere Bezeichnung, denn man muss mit Melvilles Leben und Werk schon ziemlich vertraut sein, um die zugegeben brillant formulierten Einschätzungen der Mitbegründerin des Literaturblatts The New York Review of Books würdigen zu können. In der „obsessiven Beziehung“ zu Nathaniel Hawthorne (Der scharlachrote Buchstabe), dem Moby-Dick in Bewunderung gewidmetet war, sieht die 86-jährige Essayistin den 14 Jahre jüngeren Melville „bedürftig wie ein Waisenkind“. Und die Heirat mit Elizabeth Shaw schließlich, der Tochter des Obersten Richters von Massachusetts, sei „für Melville eine klügere Entscheidung als für seine Frau“. Die habe sich einem „reizbaren Inhaber nutzloser Urheberrechte“ hingegeben, der ihr zwar vier Kinder geschenkt habe; ansonsten aber sei er eine „unermüdlich produktive Maschine“ gewesen, „die entgegen allen Marktbedingungen einfach immer weiter rattert“. Und was war Hermans Dank? „Obsessives Schreiben“, aus dem Harwick einen „homoerotischen Refrain“ heraushört.
© 2002 Reinhard Helling
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