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ãLeuchtturm der IntegritŠtÒ

 

Ein Nachruf auf die schweigsame US-Autorin Harper Lee

 

Von REINHARD HELLING

 

Mehr als ein halbes Jahrhundert gehšrte Nelle Harper Lee zu jenem illustren Kreis von Autoren, die mit einem einzigen Roman berŸhmt wurden und diesem keinen zweiten folgen lie§en. Seit dem Erscheinen ihres Welterfolges ãWer die Nachtigall stšrtÒ 1960, der sich 40 Millionen Mal verkaufte und ihr im Jahr darauf einen Pulitzer-Preis einbrachte, verstummte die Amerikanerin und lebte fast ebenso unsichtbar wie ihr Kollege Jerome David Salinger, der Autor des Kultromans ãDer FŠnger im RoggenÒ.
       Erst im Sommer vergangenen Jahres, 55 Jahre nach dem DebŸt, erschien ein zweites Buch von Lee: Der US-Verlag Harper-Collins brachte ãGo Set a WatchmanÒ in einer Startauflage von zwei Millionen Exemplaren heraus, zeitgleich erschien die deutsche Ausgabe ãGehe hin, stelle einen WŠchterÒ in der Deutschen Verlags-Anstalt (DVA). In zwei Dutzend weiteren LŠndern – von Korea Ÿber Bulgarien bis China – kamen †bersetzungen der literarischen Sensation des Jahres 2015 auf den Markt.

      Bei Lees Buch mit dem biblischen Titel handelt es sich um den klassischen Dachbodenfund: Eine Freundin der Autorin, die AnwŠltin  Tonja Carter, hatte das 300-Seiten-Manuskript zwischen anderen Papieren entdeckt. Lee hatte es drei Jahre vor ihrem berŸhmten DebŸt ãTo Kill a MockingbirdÒ, heute Pflichtroman an amerikanischen Schulen, geschrieben. Somit gab es die kuriose Situation, dass Lees eigentliches DebŸt als ihr zweites Buch erschien, inhaltlich aber eine Fortsetzung ihres ersten darstellte.
       Als die Anwaltstochter Lee, die sich zunŠchst als Journalistin versucht und Jura studiert hatte, mit ihrem ersten Wurf beim Verlag vorstellig wurde, wollte der Lektor die Geschichte der Jean Louise ãScoutÒ Finch lieber aus der Perspektive eines MŠdchens lesen. Bereitwillig verlagerte die Autorin die Geschichte 20 Jahre zurŸck, mitten hinein in die gro§e Depression. Die Urfassung, die in den FŸnfzigerjahren spielt, verschwand im Archiv.
       An ihrer Stelle nahm die ãNachtigallÒ ihren Hšhenflug auf: Darin schildert die siebenjŠhrige Scout das Šu§erlich idyllische Leben in der fiktiven Kleinstadt Maycomb, Alabama, ihr Bruder Jem stets in der NŠhe. Als ihr verwitweter Vater, der Anwalt Atticus Finch, die Verteidigung des schwarzen Arbeiters Tom Robinson Ÿbernimmt, der ein wei§es MŠdchen vergewaltigt haben soll, ist es vorbei mit der Idylle. UnterstŸtzung fŸr die PopularitŠt erfuhr das Buch 1962 durch Robert Mulligans mit drei Oscars ausgezeichnete Verfilmung mit Gregory Peck in der erwachsenen Hauptrolle und der damals neunjŠhrigen Mary Badham als Scout.
       In dem neuen, alten Buch, das in der unverŠnderten Fassung von 1957 erschien, ist die Hauptfigur 20 Jahre Šlter und lebt in New York. Doch immer wieder kommt Scout nach Maycomb zurŸck, um ihren betagten Vater in dem verschlafenen SŸdstaatennest zu besuchen. Im Vorfeld der Veršffentlichung wurden Zweifel laut, ob die Veršffentlichung mit dem EinverstŠndnis der alten Dame erfolgt sei. Sogar der Bundesstaat Alabama schaltete sich ein und ermittelte nach einem anonymen Hinweis, ob Lee ausgenutzt und manipuliert wurde, konnte aber kein Vergehen feststellen. Irritiert waren viele Leser zudem davon, dass sich der vermeintlich moralische Rechtsanwalt auf einmal als Rassist entpuppte. Thomas Rathnow, Chef der Deutschen Verlags-Anstalt, sieht in dem Roman ãeine bewegende Vater-Tochter-GeschichteÒ.
       In BerŸhrung mit Literatur war Lee gewisserma§en im Sandkasten gekommen, als die VierjŠhrige die Sommerferien an der Seite des spŠter berŸhmten Schriftstellers Truman Capote verbrachte. Sie bildeten ein seltsam gegensŠtzliches Paar: sie das burschikose MŠdchen, er der weiche Junge. SpŠter half sie ihrem Freund, fŸr den Tatsachenroman ãKaltblŸtigÒ (1965) in Kansas die MordfŠlle an einer Farmersfamilie zu recherchieren, was ihr als Anerkennung nur die klŠgliche Widmung ãin Freundschaft und DankbarkeitÒ einbrachte.
       Zuletzt lebte die 89-JŠhrige, fast erblindet und schwerhšrig, zurŸckgezogen in ihrem Heimatort Monroeville in Alabama. Nach nach einem Schlaganfall war sie in ein Pflegeheim gezogen, in dem sie im Schlaf gestorben ist. Am 28. April wŠre sie 90 Jahre alt geworden.
       ãWir haben eine gro§artige Autorin, eine gro§artige Freundin und einen Leuchtturm der IntegritŠt verlorenÒ, sagte ihr Agent Andrew Nurnberg und berichtet: ãVor sechs Wochen war sie noch voller Leben, ihr Verstand und ihr schelmischer Humor so scharf wie eh und je.Ò DVA-Verleger Rathnow, der sich Ÿber 100 000 verkaufte Exemplare von ãGehe hin, stelle einen WŠchterÒ in der 7. Auflage freut, lie§ verlauten: ãMit Harper Lee verliert die Welt der Literatur eine der wirkungsvollsten Schriftstellerinnen unserer Zeit.Ò Beide Romane von Harper Lee, die tief berŸhren, dabei genauso verstšren wie verzaubern, dŸrften sich jetzt noch einmal an der Spitze der Bestsellerlisten festsetzen.     

Harper Lee: ãGehe hin, stelle einen WŠchterÒ, aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Deutsche Verlags-Anstalt, 320 Seiten, 20,60 Euro.

Harper Lee: ãWer die Nachtigall stšrt ÉÒ, aus dem Englischen von Claire Malignon, Ÿberarbeitet von Nikolaus Stingl; mit einem Nachwort von Felicitas von Lovenberg, Rowohlt, 464 Seiten, 19,95 Euro.

 

Abdruck nach RŸcksprache per Mail an helling.reinhard@gmail.com mšglich.

 

 


 © 2016 Reinhard Helling

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