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Doppelte Simulation

Vier junge Erzähler aus Kuba

Im Kielwasser des Erfolgs der alten Männern des „Buena Vista Social Club“ aus Kuba wurde in den vergangenen Jahren auch die schreibende Zunft der Zuckerrohrinsel bei uns verstärkt wahrgenommen – insbesondere die Nachgeborenen der Revolution. Jetzt kann man von einigen der 25 jungen Erzähler, die die Hispanistin Michi Strausfeld im vorigen Jahr in der Anthologie Cubanísimo! (Suhrkamp, 331 Seiten, 34 Mark) erstmals vorgestellt hatte, einem ersten Roman lesen. Ob  daheim, im amerikanischen oder im europäischen Ausland geschrieben – auffallend ist das unkomplizierte Nebeneinander von Politik und Erotik, von Erhabenem und Profanem, der durch chronischen Papiermangel geförderte Hang zu schnellem, atemlosen Erzählen.

Mit großen Ernst schreibt  Karla Suárez in ihrem autobiografischen Roman Gesichter des Schweigens (Rowohlt Paperback, 247 Seiten, 23,47 Mark) von ihrer Familie, die dicht zusammengedrängt in der Wohnung der Großmutter haust. Jeder – die junge Erzählerin, ihr untreuer Vater, ihre depressive Mutter, der schwule Onkel und die unverheiratete Tante – führt in seinem Zimmer ein eigenes Leben, und bald sieht sich der Leser mit einem Geflecht aus Lügen und Unaufrichtigkeiten konfrontiert. Die kalte Präzision, mit der die 32-jährige Autorin ihren Erstberuf, die Informatik betreibt, hat sich auch in ihrem Debüt nidergeschlagen.

Wie Karla Suárez, die heute in Rom an einem zweiten Buch schreibt, lebt auch Ivonne Lamazares nicht mehr in ihrer Geburtsstadt Havanna. Mit 14 kam sie, nachdem sie im Alter von drei Jahren ihre Mutter verloren hatte und bei den Großeltern untergebracht war, nach Florida, wo sie ein Studium der Literatur absolvierte. Ihr Erstling Sugar Island (KiWi-Paperback, 240 Seiten, 17,90 Mark) behandelt diese ganz spezielle kubanische Mischung aus Euphorie und Enttäuschung, die ein ehemaliger Parteifunktionär einmal so zusammengefasst hat: „Unsere Ökonomie ist eine doppelte Simulation: Das Volk gibt vor zu arbeiten, und der Staat gibt vor zu bezahlen.“ Euphorisch ist die Erzählerin Tanya, die den Kommunismus liebt, enttäuscht ist ihre Mutter, die sich 1958 Fidel Castro angeschlossen hatte, sich aber schon ein Jahr später nichts sehnlicher wünscht, als die Enge der Insel, auf der es außer Zucker nur wenig Süßes gibt, Richtung USA zu verlassen.

Den anderen Weg – von Amerika nach Kuba – geht die Reporterin Lisette in den elf Erzählungen von Ana Menéndez. Damals in Kuba (Blessing, 224 Seiten, 38 Mark) spielt in Miami, wo die Autorin aufwuchs, deren Eltern in den 60er Jahren aus Kuba geflohen waren. Und führt Lisette zurück zu den prunkvollen Häusern bei Varadero, von denen ihre Mutter mit Wehmut erzählt hat. Wie ihre Protagonistin hat Ana Menéndez als Journalistin für den „Miami Herald“ gearbeitet, und ihr gelingt es, die beiden widersprüchlichen Welten in ihren Geschichten zu vereinen.

Nicht mehr groß vorzustellen braucht man die rabiate Kuba-Kritikerin Zoé Valdés, deren vulgär-schnodderigen Romane Das tägliche Nichts (1996) und Dir gehört mein Leben (1997) großen Anklang bei uns fanden. Geliebte erste Liebe (Ammann, 360 Seiten, 44 Mark), das neue Buch der 42-jährigen, in Paris lebenden Autorin, erzählt von einer Reise, die Dánae, Mutter zweier erwachsener Kinder, von Havanna aufs Land führt. Genauer gesagt ins fruchtbare Valle de Viñales, wo sie einst ihren revolutionären Landdienst leistete und in stürmischen Liebesspielen ihr Herz verlor.

Einzig und allein das Eine kommt in Marcia Morgados Roman Erotische Notizen aus Little Havanna (dtv, 188 Seiten, 17,50 Mark) zur Sprache. Die Erzählerin Fisselle ist so von Leidenschaft erfüllt, dass es ihr schon als Mädchen gelingt, ihren Chemielehrer, der eigentlich Priester werden wollte, am Strand von Miami zu verführen. Nach heißen Stellen braucht man in dieser Geschichte über die Gemeinschaft der Exilkubaner nicht lange zu suchen: Es besteht nur aus solchen – und warf in Amerika, wo die 40-jährige Autorin seit 1962 lebt, die Frage auf, ob das noch Erotik ist oder schon Pornografie. Zum Glück hat Marcia Morgado den lustvollen Ritt ihrer Heldin mit genügend Ironie unterlegt, sodass sich ihre „Notizen“ als Sittenbild kubanischer Mentalität lesen lassen.
 

© 2001 Reinhard Helling