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Genuss, der ins Grausen kippt

 

 

Rondezvous mit dem Tod: Philip Roths lange ErzŠhlung ãJedermannÒ

 

Von REINHARD HELLING

 

Philip Roth kannÕs einfach nicht lassen, und das ist

auch gut so. Das Schreiben sowieso nicht: ãJedermannÒ,

eine lange ErzŠhlung, ist sein 27. Buch. Aber auch

nicht das Spiel mit autobiografischen Parallelen: Und

so ist der namenlose Protagonist Jahrgang 1933 Ð wie

der in Newark geborener Autor. Und wie Alexander

Portnoy, mit dessen ãBeschwerdenÒ Roth 1969 seinen

ersten gro§en Auftritt hatte. Und wie Nathan

Zuckerman, den der US-Autor seit den siebziger Jahren

in acht Romanen als Alter Ego sein gro§es Thema Ð die

Rolle der Juden im heutigen Amerika Ð durchleiden

lie§. Zuletzt hat der mehrfach fŸr den

Literaturnobelpreis vorgeschlagene Autor sein Werk

durch die gro§en Romanen ãDer menschliche MakelÒ

(2000) und ãVerschwšrung gegen AmerikaÒ (2004) um eine

politische Komponente erweitert.

Der 73-JŠhrige hŠtte seinem armen Mann, zu dessen

Beerdigung sich gleich auf der ersten Seite eine

kleine Trauergemeinde auf einem heruntergekommenen

jŸdischen Friedhof in New Jersey versammelt hat, ruhig

einen Namen geben kšnnen. FŸr den Autor war es

natŸrlich einfacher, immer nur ãerÒ zu schreiben. Der

Rezensent muss immer umstŠndlich von dem namenlosen

Protagonisten sprechen oder Šhnlich blasse

Umschreibungen bemŸhen. Am liebsten wŸrde er ihn

Schmidt nennen, nach Louis Begleys Held, dem er ein

wenig Šhnelt. Aber das kann man ja nicht machen.

Besagte Figur in Anlehnung an den Titel aber einen

ãJedermannÒ zu nennen, wie es der Klappentext

vorschlŠgt, fŠllt schwer, weil er so durchschnittlich

gar nicht ist. Und glŸcklicherweise hat der

PulitzerpreistrŠger auf  eine allegorische †berhšhung

der Figur wie in dem mittelalterlichen Spiel oder in

der Nachdichtung von Hugo von Hoffmannsthal

verzichtet. Der Titel verdankt sich dem Umstand, dass

der Vater des namenlosen Protagonisten vor den Toren

New Yorks mit Diamanten, Schmuck und Uhren gehandelt

hat und sein GeschŠft ãJedermanns SchmuckladenÒ

nannte, ãum die starke Arbeiterschicht von Elizabeth

anzulocken und die Zehntausenden frommer Christen der

Hafenstadt nicht mit seinem jŸdischen Namen zu

verunsichernÒ.

Warum Roth den Nachnamen nicht verrŠt, ist schon

deshalb merkwŸrdig, weil er allen Mitstreitern dieser

traurigen Geschichte, die von kaum etwas anderem als

dem unaufhaltsamen kšrperlichen Verfall seines

namenlosen Protagonisten handelt, einen Namen gegeben

hat: Am Grab stehen die Kinder Nancy, Randy und Lonny,

sein Bruder Howie, Phoebe, eine seiner drei Exfrauen

sowie seine letzte Privatpflegerin Maureen.

Alles, was wir im folgenden RŸckblick Ÿber das Leben

des Verstorbenen als Sohn, Ehemann, Vater und

erfolgreicher Werber lesen, bis wir viel zu frŸh nach

nur 170 Seiten seinem Ableben beiwohnen, ist wie stets

bei Roth von gro§er Farbig- und Anschaulichkeit: die

behŸtete Kindheit, das Kunststudium, die Berufsjahre,

der verdiente Ruhestand im noblen Seniorendorf

Starfish Beach, zwischendurch die leidenschaftlichen

Liebschaften und am Ende die Krankenhausaufenthalte,

zu denen er in immer kŸrzeren AbstŠnden gezwungen ist

und die seinen Kšrper ãzu einem Lagerhaus fŸr

kŸnstliche GerŠtschaftenÒ machen.

Bei allem Leid lŠsst der Erotiker Roth das Sexuelle

nicht zu kurz kommen: Er gšnnt seinem Mann, als der

fast 50 war, das knapp halb so alte dŠnische Model

Meret. Wie Roth an dieser Stelle der Geschichte den

Genuss ins Grausen kippen lŠsst (seine Mutter stirbt,

seine Frau schmei§t ihn raus), zeigt seine sprachliche

Meisterschaft Ð und die des †bersetzers Werner

Schmitz.

Hatte der Held schon als Kind von religišsen

Trostversuchen Abstand genommen (ãihr aberglŠubisches

Getue schien ihm sinnlos und kindischÒ), trifft ihn

die Erkenntnis des begrenzten Lebens im Alter mit

voller Wucht: ãDas Fleisch schmilzt dahin, aber die

Knochen bleiben.Ò Und so ist das Ende dieses schmalen,

aber ungeheuer intensiven Buchs Ÿber die

VergŠnglichkeit nur logisch: ãEr war nicht mehr,

befreit vom Sein, ging er ins Nichts, ohne es auch nur

zu merken.Ò

ãJedermannÒ jagt einem einen Schauer nach dem anderen

Ÿber den RŸcken und zeigt einmal mehr RothÕ gro§e

Kunst. So wahrhaftig und dabei so wenig zynisch hat

selten ein Schriftsteller dem Tod in die Augen

geschaut. Es ist Roth und uns zu wŸnschen, dass er

noch lange schreiben kann

 

Philip Roth: Jedermann, aus dem Amerikanischen von

Werner Schmitz, Hanser, 176 Seiten, 17,90 Euro

 

(GekŸrzt erschienen in: Abendzeitung, 16. August 2006)

 

 © 2006 Reinhard Helling

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