� 2006 Reinhard Helling.
Der Literaturkritiker Paul Ingendaay hat mit �Warum du mich verlassen hast� einen rundum �berzeugenden Deb�trom vorgelegt. Ein Gespr�ch
Von
REINHARD HELLING
Zum
Gl�ck gibt es Motte, Tilo und Onni. Ohne die Freunde w�rde Marko Theunissen das
Leben im Collegium Aureum kaum aushalten. Wie charakterisiert er das
katholische Internat so treffend? �Nach oben waren der Fr�mmigkeit keine
Grenzen gesetzt.� Miserables Essen, serviert in der �Sch�delst�tte�, strenge
Erzieher, von den 44 Jungen seiner Klasse �die Schwatten� genannt, von vier bis
zwanzig vor sieben ist Silentium, �das hei�t nicht quatschen�, keine Ablenkung
au�er der regelwidrigen Fluchten durchs Fenster zu Tabak, Apfelkorn und
M�dchenk�ssen. Und der Traum von �Frauen, die an gro�en Fl�ssen leben.�
Neben
den pubert�ren Sorgen, die auf einem reinen Jungeninternat am Niederrhein
Anfang der siebziger Jahre vielleicht noch schwerer auszuhalten sind als anderswo,
wird der 15-j�hrige Notarssohn aus K�ln zus�tzlich gepr�ft: Daheim geht die Ehe
seiner Eltern Rudolf und Irene in die Br�che, und jenseits des
Internatsgrabens, im Juvenat, steht seinem j�ngeren Bruder Robert das erst noch
bevor, was er schon hinter sich hat: die Einschw�rung auf die Parole
�Gemeinnutz geht �ber Eigennutz�.
So
in der Zwickm�hle zwischen dem Chaos in seinem Kopf und der Ordnung im Internat
geraten, sucht der von Nihilismus-Anf�llen geplagte Marko Zuflucht in der
Literatur. Mit �Robinson Crusoe� hat er einen Verb�ndeten im Geiste, bei dem er
regelm��ig Zuflucht sucht. Ihm imponiert, wie der mit seiner Situation auf der
�Insel der Verzweiflung� klarkommt. Sp�ter findet Marko in Bruder Gregor,
seinem Religionslehrer, einen v�terlichen Freund, der ihn mit weiterem
Gedankenstoff versorgt: Dostojewski, Kierkegaard und Seneca. Als der unerwartet
Selbstmord begeht, hat nicht nur die Internatsleitung ein Erkl�rungsproblem
(das sie mit einer L�ge zu l�sen versucht), sondern auch Marko einen Gewissenskonflikt:
Soll er die Wahrheit verk�nden und daf�r einen Rauswurf riskieren, oder soll er
die Klappe halten, um weiter mit Motte, Tilo und Onni zusammensein zu k�nnen?
Wenn
man mit dem Journalisten Paul Ingendaay, der bisher lediglich eine handvoll
Prosaarbeiten ver�ffentlicht hat, �ber seinen ersten, f�r den Preis der
Leipziger Buchmesse nominierten Roman spricht, wird zweierlei klar: Es hat zwar
ziemlich lange gedauert, bis das 500-Seiten-Werk seine endg�ltige Form hatte -
alles in allem 28 Jahre, zuf�llig genau so lange, wie Robinson auf der Insel
ausharrte �, daf�r hat ihm die Arbeit daran sehr viel Spa� gemacht. �Das
Schreiben von fiktionalen Texten ist das gr��te Gl�ck �berhaupt, keine
Frage", sagt der 45-J�hrige, der 1992 als Literaturkritiker zur �F.A.Z.�
kam, f�nf Jahre sp�ter den Alfred-Kerr-Preis gewann und seit 1998 als
Kulturkorrespondent aus Madrid berichtet.
�Ich
habe mit 17 Jahren angefangen, an dem Buch zu schreiben." Damals war er,
wie seine drei Br�der auch, Sch�ler des katholischen Internats Collegium
Augustinianum Gaesdonck in der N�he der niederl�ndischen Grenze, das das
Vorbild f�r das fiktive Collegium Aureum war und f�r das er �eine ganz
gef�hlsm��ige Anh�nglichkeit� empfindet. Schon sein Gro�vater war dort Sch�ler,
heute dr�ckt sein Neffe die Schulbank. Zur 150-Jahr-Feier 1999 hielt Paul, der
1980 sein Abitur gemacht hat, die Festrede.
Die
Darstellung des Ortes im Roman weist bei aller dichterischer Freiheit viele
Gemeinsamkeiten auf. �Es gab ja auf dem Internat nichts zu tun. Au�er Fu�ball
und B�chern war nix. Das war f�r mich eine wahnsinnig intensive Lesezeit. Ich
habe den ganzen Dostojewski gelesen, bis ich 17 war." Als er mit dem
Schreiben des Romans begann, war der Lesew�tige bei Marcel Proust angelangt. �Ich
war vollst�ndig �berw�ltigt von der M�glichkeit, in einem Roman die
Totalit�t der eigenen Erfahrung abzubilden, alles Ungeordnete, alle �ngste,
alle Sehns�chte. Daf�r ist Proust die Droge.� In den n�chsten sechs Jahren hat
er mit Unterbrechungen immer wieder an dem Roman gearbeitet und in dieser Zeit
etwa 500 Seiten angeh�uft. Doch dann musste er kapitulieren: �Den Stoff hatte
ich, die Leidenschaft auch, aber ich bin mit dem Thema formal nicht
klargekommen. Ich wusste einfach nicht, wie man einen Roman baut."
Dann
kamen Zivildienst, das Studium der Amerikanistik, Anglistik, Germanistik
und Hispanistik in K�ln, Dublin und M�nchen. Der Roman blieb liegen. 1987
fing er in Mexiko einen zweiten Roman an, brach aber nach 130 Seiten ab.
Anderes war zu schreiben: die Magisterarbeit, die Doktorarbeit �ber US-Autor
William Gaddis. Dann mit 31 Jahren der Beruf. �ber zehn Jahre habe ich � au�er
f�r die Zeitung � keine Zeile zu Papier gebracht, aber im Kopf immer
weitergeschrieben."
Der
Durchbruch kam, als er sich vor drei Jahren in Klausur begab und
im �rtchen Pastrana in der spanischen Provinz Guadalajara drei Tage
lang in einem ehemaligen Kloster einschloss. �Ich habe jeden Tag komplett
asketisch 15 Stunden geschrieben wie ein Bl�dmann. Nach drei Tagen hatte
ich 45 Seiten, darunter auch 13 brauchbare, aus denen Kapitel 15 des
Romans wurde." Es erz�hlt von Markos Besuch bei einer
Tanz-in-den-Mai-Veranstaltung, bei der er ein M�dchen trifft, das er gern
k�ssen w�rde. �Als ich sah, dass ich �ber ein Nichterlebnis, �ber einen nicht
gegebenen Kuss so viele Seiten schreiben kann, da wusste ich: He, das ist
doch was." Seine Deutung der langen Geburtswehen ist die, �dass sich der
Stoff �ber die Jahrzehnte im Stillen angereichert hat. Auf einmal brauchte ich
es nur noch aufzuschreiben." In dieser Zeit, in der sich der Familienvater
jeden Abend zum Schreiben zur�ckzog, d�rften Sue, Greta und Juli�n, denen er
das Buch gewidmet hat, ihren Mann und Papa morgens oft mit ger�teten Augen am
Fr�hst�ckstisch angetroffen haben.
�Warum
du mich verlassen hast� ist ein Roman �ber das Erwachsenwerden, �ber die Angst
vor dem ersten Kuss und die �ble Erfahrung, ein Scheidungskind zu sein, ein
Buch �ber Liebe und Tod und die Solidarit�t unter Freunden. Es ist sehr locker
geschrieben (�Als ich Robert ansah, den unschuldigen kleinen Wicht, kriegte ich
wieder ein W�rgen im Hals�), spricht den Leser direkt an (�Wenn ihr das noch
wissen wollt�) und hat ganz viele Kursivsetzungen (�Wir wissen n�mlich nicht, ob uns
die Zeit davonl�uft�). Das alles hat er mit J. D. Salingers �F�nger im Roggen�
gemein. Wie Holden Caulfield lehnt sich Marko gegen die allgegenw�rtige
Verlogenheit auf und hegt wie dieser Fluchtgedanken: �Ich h�tte Lust, auf eine
Insel zu fahren oder so, keinen Menschen sehen, Kokosn�sse �ffnen, solche
Sachen.�
Auf
die Parallele zu dem Kultbuch des US-Autors angesprochen, weist Ingendaay
zun�chst auf ein viel �lteres Vorbild hin, den �unsterblichen ,Huckleberry
Finn��: �Wir alle, die wir solche jugendlichen Erz�hlerfiguren erfinden,
kommen ja aus der Westentasche von Mark Twain. Er ist das gro�e Vorbild, der
Urvater.� Und f�hrt dann aus: �Salinger hat meine Jugend - also auch die ersten
paar hundert Seiten des fr�hen Romanentwurfs - nicht beeinflusst, weil
ich �The
Catcher in the Rye� erst mit 22 Jahren gelesen habe. Meiner Bewunderung f�r
den Roman tut das nat�rlich keinen Abbruch. Aber f�r mein Buch sind
Dostojewski, der viktorianische Romancier Anthony Trollope, Marcel Proust
und William Gaddis mit seiner gro�artigen Dialogkunst die wichtigeren
Einfl�sse. Und was den Sinn f�rs Tragische betrifft, verdankt der Roman sehr
viel der Kunst von Maria Callas.�
Und
tats�chlich entwickelt Ingendaay �ber die Strecke von 500 Seiten einen ganz
eigenen, philosophischen Sound, der sein Romandeb�t zu einer rundum gelungenen
Sache macht. Er liefert sogar einen typografisch abgesetzten Roman im Roman:
�Das Buch der Ordnung�, ein �berbleibsel seines zweiten Romanversuchs. Dessen
Entstehung ist eine eigene Geschichte: �Bis vor einem Jahr habe ich zwei B�cher
parallel geschrieben, beide mit dem gleichen Thema. In dem einen hatte ich
einen objektivierenden, erwachsenen Erz�hler. In dem anderen so einen
Holden-Caulfield-Erz�hler. Das war mir aber zu simpel. Dann habe ich begriffen,
dass dieser modernistische Doppelroman gro�er K�se war. Zu komplex,
irgendwie �berkandidelt. Bis ich merkte: Es macht mir doch Spa�, diesen Jungen
sprechen zu lassen.� Schlie�lich wollte er �unbedingt so schreiben, dass ich es
selbst gern lese�.
Bevor
Ingendaay das fertige Buch schlie�lich im vergangenen Jahr neun Verlagen anbot,
hatte er sich wiederholt die Frage gestellt: �Wer zum Teufel soll das lesen?
Diese Provinz, diese Zeit � das ist doch so was von pass�." Ermuntert
haben ihn zahlreiche positive Reaktionen von Freudinnen � und verbl�fft, weil
er �der festen �berzeugung war, ein Jungensbuch geschrieben" zu haben.
Paul
Ingendaay: �Warum du mich verlassen hast�, SchirmerGraf,
506 Seiten, 24,80 Euro.
� 2006 Reinhard Helling.
Abdruck nur mit Genehmigung des Verfassers. Kontakt: rhelling@max.de