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Das Rätsel des Malers

In ihrem dritten Roman Was ich liebte hat sich die US-Autorin Siri Hustvedt in die Rolle eines jüdischen Kunsthistorikers versetzt

Am Beginn ihrer Freundschaft steht ein Rätsel: Wieso, so fragt sich Leo Hertzberg, trägt das Gemälde einer jungen, nackt auf dem Boden liegenden Frau den Titel „Selbstporträt“, obwohl es ein Mann gemalt hat? Der Kunsthistoriker wird neugierig, kauft das Bild und sucht die Bekanntschaft des noch unbekannten Bill Wechsler, der seine Arbeiten erstmals in einer Galerie im New Yorker Viertel SoHo ausstellt. Des Rätsels Lösung findet Leo, als er beim Betrachten des „Selbstporträts“ in seiner Wohnung auf dem Bild einen Schatten entdeckt, der nicht von ihm stammt: Es ist der gemalte Schatten des Malers.

Was ich liebte (Rowohlt, 477 Seiten, 22,90 Euro) ist Siri Hustvedts dritter Roman. Waren ihr Debüt Die unsichtbare Frau (1992) und der nachfolgende Roman Die Verzauberung der Lily Dahl (1996) aus weiblicher Sicht geschrieben und deutlich erotisch aufgeladenen, so überrascht die US-Autorin norwegischer Abstammung jetzt dadurch, dass sie aus Leos Perspektive erzählt, einem 70-jährigen Juden, der in Berlin geboren wurde und als Kind in die USA kam. Der langsam erblindende Professor für Kunstgeschichte an der Columbia University erinnert sich kurz vor der Jahrtausendwende an die Zeit vor 25 Jahren, als er Bill kennen lernte und die beiden später mit ihren Frauen zwei Loftwohnungen in demselben Haus in der Greene Street beziehen. Es ist die Zeit ungehemmter Sexualität, alkoholgetränkter Gespräche und ständiger theoretischer Auseinandersetzungen über gesellschaftliche und künstlerische Fragen.

        US-Autorin Siri Hustvedt

Etwa zeitgleich bekommen beide Paare Kinder – Bills Sohn Mark und Leos Matthew wachsen fast wie Geschwister auf, bis sich Bill von seiner Frau Lucille trennt und Violet Blom heiratet, das Aktmodell des „Selbstporträts“. Soweit, so unspektakulär. Als der elfjährige Matt bei einer Paddeltour tödlich verunglückt, zerbricht die Harmonie der befreundeten Paare: Erica verkraftet den Tod ihres Sohnes nicht und zieht sich nach Berkeley zurück; als Jahre später Bill einen Herzinfarkt erleidet, bleiben Leo, Violet und Mark allein in SoHo zurück.

Die Lesbarkeit ihres neuen Romans, den die 47-jährige Literaturwissenschaftlerin ihrem Mann Paul Auster gewidmet hat, wird über weite Strecken durch akademische Gelehrsamkeit belastet. Seitenlang beschreibt sie jede neue Schaffensphase von Bill, ohne dass sich im Kopf des Lesers wirklich ein Bild seiner Bilder einstellt; da werden Leos Buchprojekt über die wechselnden Sichtweisen in der abendländischen Malerei angerissen und Ericas Studien über Henry James eingeflochten, ohne dass Hustvedt, die über Charles Dickens promovierte, daraus mehr macht als einen gebildeten Eindruck; schließlich trägt sie ausführlich Violets Dissertation über Krankheitsphänomene bei Frauen im 19. Jahrhundert vor – und man muss vermuten, dass Siri Hustvedt lediglich die unveröffentlichte Doktorarbeit ihrer Schwester Asti über das gleiche Thema bekanntmachen wollte. Dieser theoretische Ballast kommt allein dem Umfang des Buches zugute.

Zum Glück zeichnet sich aber als Kernstück ihres um Doppeldeutigkeit bemühten Romans, der in den USA erst im März erscheint, das Verhältnis von Leo zu Bills Sohn Mark ab. Und hier wechselt die Autorin vom Künstlerroman, der zugleich versucht, die fragwürdigen Mechanismen des Kunstmarktes und der -kritik bloßzulegen, zum packenden Krimi: Mark gerät auf die schiefe Bahn, bestiehlt und belügt Violet und Leo, nimmt Drogen, wird von dem  Transvestiten-Künstler Teddy Giles in monströse Aktionen mit toten Tieren, Blut und Gewalt und schließlich sogar in einen Mordfall verwickelt.

In diesem Teil gelingen Hustvedt treffende Beobachtungen jugendlichen Verhaltens, und die Autorin schafft es, dass man auf Marks permanente Täuschungsversuche genauso hereinfällt wie Leo und Violet. Hier erweist sich Siri Hustvedt als Meisterin psychologischen Erzählens. Doch dann versucht sie, den Kreis zu Violets Krankheitstheorien zu schließen, und nun muss man einschränken: Weniger Anspruch wäre mehr Unterhaltung gewesen.
 

© 2003 Reinhard Helling