Das neue Buch von Günter Grass, das erste nach dem Literaturnobelpreis, hätte erst am 22. Februar erscheinen sollen. Warum aber, wird sich Verleger Gerhard Steidl gefragt haben, soll ich das günstige Klima für meinen Starautor nicht ausnutzen, da die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (FAS) ihn gerade zum führenden deutschen Intellektuellen gekürt hat? Im Krebsgang (216 Seiten, 18 Euro) vorzuziehen hat auch den Vorteil, dass die Kritiker für den Bildverlust von Peter Handke (Platz 5 bei der „FAS“) schon ordentlich Pulver verschossen hat. Zudem macht Grass so nicht unnötig Christa Wolf (Platz 8) Konkurrenz, deren Erzählung Leibhaftig am 25. Februar erscheint. Prompt brachte am 4. Februar der „Spiegel“ eine Titelgeschichte, und tags drauf würdigte Marcel Reich-Ranicki in seinem ersten ZDF-„Solo“ die Novelle.
Wie meist beim Blechtrommler ist das Thema ein deutsches, diesmal eines, das „vergessen und verdrängt“ wurde, wie der 74-Jährige sagt: der Untergang der „Wilhelm Gustloff“. Das im Mai 1937 vom Stapel gelaufene Passagierschiff war zunächst der weiße Stolz der „Kraft durch Freude“-Flotte, diente im Krieg – nun grau angemalt – als schwimmendes Lazarett und Kaserne und wurde am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot auf der Ostsee versenkt. An Bord: zehntausend Flüchtlinge, darunter viele Kinder; nur wenige überlebten diese größte Schiffskatastrophe der Geschichte.
Sofort denkt man an Erik Fosnes Hansens „Titanic“-Roman Choral am
Ende der Reise, in dem der Norweger 1995 literarisch raffiniert den
Lebenslinien der sieben Bordmusiker nachforschte ? und einen Weltbestseller
landete. Auch Grass stellt seiner „Gustloff“-Chronik drei untrennbar mit
dem Schiff verbundene Biografien zur Seite.
Da ist zunächst Wilhelm Gustloff (1895–1936) selbst, Landesgruppenleiter
der NSDAP in der Schweiz, der aus Gesundheitsgründen Schwerin verlässt
und in Davos für den Führer wirbt. Dann David Frankfurter (1909–1981),
ein jüdischer Medizinstudent, der Gustloff aus politischen Gründen
erschießt. Und schließlich Alexander Marinesko (1913–1963),
der auf dem U-Boot „S13“ den Befehl zur Torpedierung der „Gustloff“ gibt.
Da das Aufarbeiten dieses historischen Materials an sich eine journalistische
Aufgabe wäre, hat der Literat Grass zum Recherchieren der Fakten einen
Journalisten engagiert und lässt sie in seiner Novelle von einem Journalisten
berichten. Der fungiert im „Krebsgang“ als Ich-Erzähler und heißt
Paul Pokriefke. Na, klingelt es da? Ursula Pokriefke, genannt Tulla, hieß
eine Figur in Grass’ Roman „Hundejahre“. Sie ist die Mutter des Erzählers
und hat den Untergang der „Gustloff“ überlebt. Seinen Bericht liefert
Paul nicht aus freien Stücken, sondern als Auftragsarbeit. Und Auftraggeber
ist: Günter Grass. Eine auf den ersten Blick interessante literarische
Pirouette: Fiktion tifft auf Geschichte trifft auf Fiktion.
Doch Grass wollte es noch etwas kunstvoller, wollte den Bogen zur Gegenwart
schlagen, und so stellte er Paul einen missratenen Sohn, Konrad, als Widerpart
entgegen, der die Website
www.blutzeuge.de bestückt, auf der die
Geschichte der „Gustloff“ ebenfalls „erzählt“ wird – aus neonazistischer
Sicht. Dieser Teil hat allerdings den logischen Haken, dass es im Internet
keine Dramaturgie gibt, keine zeitliche Abfolge, die Grass für sein
Vorhaben aber braucht.
Dessen unbekümmert gibt er historischen Nachhilfeunterricht und übt feindosierte Kritik an der „digital vernetzten Gegenwart“. Dabei trifft junges Computer-Deutsch („Browser und Hyperlink“) auf Tullas ostpreußischen Dialekt („Das mußte aufschraiben. Biste ons schuldig als glicklicher Ieberlebender“). Und nebenbei löst Grass eine Schuld ein, der er sich als „Auftraggeber“ bezichtigt: „Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben. Niemals, sagt er, hätte man das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen“.
Und was hat es mit dem Titel auf sich? Ach, das ist eine Mogelei, die man Grass aber nicht übelnehmen kann. Da Krebse in dem Buch keine Rolle spielen, hat der Titel nur in soweit eine Berechtigung, als Paul sich anfangs fragt, ob „erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muß, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen doch ziemlich schnell vorankommen“. Doch wer will es Grass, der ja auch Zeichner ist, verdenken, dass er seinem Werk, das schon mit Katz und Maus und Rättin, mit Butt und Schnecken bevölkert ist, das Hundejahre kennt und Unkenrufe, dass Grass seinem literarischen Zoo einfach ein weiteres Tierchen schenken wollte?
© 2002 Reinhard Helling
Startseite