US-Autor David Gilbert besteigt in ãDie NormalenÒ, seinem ersten Roman auf Deutsch, den ãZauberberg fŸr ArbeitsloseÒ
Von
REINHARD HELLING
Als
William Adamas Schine, genannt Billy, der Antiheld in David Gilberts Erstling ãDie
NormalenÒ die Eliteschmiede Harvard verlŠsst, hat der 28-JŠhrige
zwar eine erstklassige Ausbildung in Soziologie und klassischer Philologie
genossen, mit seinem Leben wei§ der Sohn einer irisch-katolischen Mutter und
eines deutsch-jŸdischen Vaters deshalb noch lange nichts anzufangen. An der
Seite seiner Mitbewohnerin und Gelegenheitsgeliebten Sally Hu haust Billy in
einem 45 Quadratmeter gro§en ãKoch-Wohn-Ess-Lese-GŠste-MediencenterÒ in New
York Ð und langweilt sich. BŸcher, die er gebraucht kauft, landen nach kurzem
Anlesen auf dem Stapel.
Dieser
lethargische Zustand Šndert sich schlagartig, als sich zum Ausklang des
Millenniums die Firma Ragnar & Sons bei ihm meldet und das
60000-Dollar-Darlehen zurŸckfordert, mit dem David sein Studium finanziert hat.
Der Ton ist freundlich, aber bestimmt: ãZahlen Sie bitte pŸnktlich. Wir sind
eine handfeste, praktisch veranlagte Firma vom alten Schlag.Ò Angesichts der
versteckten Gewaltandrohung Ð denkt sich David Ð hilft nur eines: abhauen,
abtauchen, sich unsichtbar machen.
Rettung
kommt in Sicht, als er im Radio einen Aufruf von Hargrove Anderson Medical
hšrt: ãWir suchen Teilnehmer fŸr einen Medikamententest der Stufe 1. Erkrankung
oder Beschwerden sind nicht Bedingung. Unterkunft und Verpflegung sind
kostenlos. Sie erhalten ein gro§zŸgiges Entgelt. Interessiert? Dann rufen Sie
uns an unter 1-800-HAM-Studie.Ò In seiner Not unterschreibt Billy einen Vertrag
als Versuchskaninchen bei HAM ohne zu ahnen, was ihn dort erwartet. Er denkt
nur an das schnell verdiente Geld und hofft, einer der GlŸcklichen zu sein, die
lediglich ein Placebo verabreicht bekommen.
Bis
der Bus mit all den anderen ãNormalenÒ, die fŸr die Testreihe zugelassen
wurden, das HAM-Center im Norden New Yorks erreichen, ein "Zauberberg fŸr
Arbeitsscheue", hat Billy Ð und mit ihm der Leser Ð schon manch
MerkwŸrdigkeit erlebt. Doch angekommen im futuristisch wirkenden HAMC, holt
Newcomer-Autor David Gilbert zum grotesken Rundumschlag aus: Billy wird den
ãGrŸnenÒ zugeteilt, der Testgruppe fŸr Allevatrox, ein Psychopharmakon zur
Behandlung von Schizophrenie. In der Kantine bekommt er die Nebenwirkungen
anderer Mittel zu sehen: ãDie Orangefarbenen schwellen an, die Roten schwitzen,
die Blauen tragen Sonnenbrillen, und die Gelben mŸssen sich Ÿbergeben.Ò
Der
1967 in Paris geborene Autor, der im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern
nach New York zog, debŸtierte 1998 mit dem Kurzgeschichtenband ãRemote FeedÒ,
der ihm Vergleiche mit T. C. Boyle einbrachte. Bei seinem ersten Roman, der
jetzt in sechs LŠndern erscheint, fielen den Kritikern noch andere Namen ein:
Ken Kesey, Kurt Vonnegut, Chuk Palahniuk und Joseph Heller. Und der deutsche
Verlag verbreitet, dass der 38-JŠhrige mit Gro§meister Don DeLillo befreundet
sei und ein Drehbuch zu dessen zweitem Roman ãEnd ZoneÒ (1972) verfasst habe.
Festhalten lŠsst sich zumindest, dass Gilberts originelles RomandebŸt mit
Funken schlagender Spritzigkeit erzŠhlt ist und wie unter der Lupe die
Abartigkeiten amerikanischen Fortschrittglaubens satirisch betrachtet.
David
Gilbert: ãDie NormalenÒ, aus dem Amerikanischen von Chris Hirte, Eichborn
Verlag, 400 Seiten, 22,90 Euro
© 2005 Reinhard Helling