Eine Vielzahl von Sünden
Neue Storys von Richard Ford
Der Titel von Richard Fords neuer Story-Sammlung Eine Vielzahl von Sünden (Berlin Verlag, 381 Seiten, 19,90 Euro) ist Programm. Anders als in dem Kurzgeschichtenband „Rock Springs“, der Ford vor 15 Jahren zu einem Geheimtipp unter den zeitgenössischen US-Autoren machte und in dem er eine Vielzahl von Themen behandelte, geht es in den zehn neuen Geschichten einzig und allein um das eine: Untreue.
Sie kann ganz beiläufig und fast unschuldig geschehen wie in der gerade mal sechs Seiten umfassenden Geschichte „Aussicht“, in der der Ich-Erzähler berichtet, wie er eine Nachbarin am Fenster mit dem Opernglas beim Ausziehen beobachtet, während seine Frau schon schläft. Oder als Ein-Satz-Geständnis auftauchen wie in „Unter dem Radar“: Das junge Ehepaar Reeves ist gerade auf dem Weg zu einer Abendgesellschaft, als Marjorie ihrem Mann Steven mitteilt, dass sie vor einem Jahr mit dem Gastgeber eine Affäre hatte. Über das Wie und Wo verliert Ford selten viele Worte („Tom fickte monatelang fast täglich mit Crystal in ihrem Siebdruckatelier“); was ihn interessiert sind die Folgen. Auch die können mal belanglos sein, wie bei dem Spanner, der eines Tages einfach das Fernglas weglegt, oder drastisch wie bei den Reeves: Steven schlägt seiner Frau mit der Faust die Nase blutig.
Äußerst sparsam in den Mitteln und oft überraschend in der Wendung der Geschichte führt Ford den Leser von den Äußerlichkeiten ins Innenleben seiner Figuren. „Wenn du an das Leben anderer Leute denkst, nimmst du dann nicht immer an, sie würden weniger Fehler machen als du? Andere Leute scheinen immer alles besser im Griff zu haben“, sagt der frühpensionierte Cop Tom Marshall in der Story „Nachsicht“ zu seiner Frau, die seinen Seitensprung mit der siebdruckerin mit Fassung trägt.
„Die Charaktere meiner Bücher sind nicht gerade zufriedene Menschen“, sagte der 58-Jährige Autor. „Sie wissen allerdings, dass sie einst glücklicher waren. Nur die Gründe dafür kennen sie nicht“. Das zeigte 1986 der autobiografische Roman Sportreporter, noch viel drastischer aber zehn Jahre später sein größter Erfolg, der Roman Unabhängigkeitstag, der dem in Mississippi aufgewachsenem Autor neben dem Pulitzer Preis auch den PEN/Faulkner Award einbrachte. Das war bisher keinem anderen Autor gelungen.
Am 21. September 2002 hat Ford in Berlin mit Ingo Schulze („Simple Storys“) an einer Feierstunde für Raymond Carver (1939–1988) teilgenommen, den vielfach bewunderten Großmeister der Short Story, dessen Gesamtwerk der Berlin Verlag soeben mit dem Band Erste und letzte Storys (354 Seiten, 19,90 Euro) abgeschlossen hat und zu dessen erstem Band Ford ein sehr persönliches Vorwort verfasst hat. Er handelt von Verlierern der amerikanischen Gesellschaft. Fords Antihelden, insbesondere Frank Bascombe aus New Jersey, der als Sportreporter begann und später als Immobilienmakler seine Unabhängigkeit suchte, haben nicht viel mehr Glück als die von Carver. Aber Ford gibt ihnen menschlichere Züge.
Fords Werk ist überschaubar, weil er sehr sorgfältig arbeitet. Meist widmet er die Bücher seiner Frau Kristina Hensley, mit der er seit 34 Jahren verheiratet ist und die in New Orleans als Stadtplanerin arbeitet. In Deutschland gibt es ein paar mehr Bücher von Ford als in Amerika, weil der Berlin Verlag aus Women with Men (1997) drei Novellen machte: Der Frauenheld, Eifersüchtig und Abendländer. Das ist geschäftstüchtig von Arnulf Conradi, dem Chef des Berlin Verlags, der Ford – damals als Cheflektor – schon beim S. Fischer Verlag betreut hat. Ihm hätte auffallen müssen, dass das imposante Cover zu dem neuen Buch mit den statischen Figuren in der New Yorker Central Station etwas unpassend ist. Es bezieht sich augenscheinlich auf die Story „Wiedersehen“, in der es heißt: „In dem Bahnhof wimmelte es von lauter Mitmenschen, die, beladen mit Gepäck, irgendwohin rannten“. Die US-Ausgabe dagegen ziert ein unscharfes Foto, das vor lauter Bewegung nur so zischt. Doch das ist ein kleinlicher Einwand verglichen mit dem Einsatz, den Conradi für Carver und Ford leistet. Aber eben solche Details zeichnen Carvers Storys aus. Und die von Richard Ford.
© 2002 Reinhard Helling
Startseite