Der Held wird zur Heldin
Mit dem fulminanten Familienepos "Middelsex" meldet sich US-Autor Jeffrey Eugenides
zehn Jahre nach seinen "Selbstmordschwestern" wieder zu WortIst Erfolg planbar? Zuerst belebte Jonathan Franzen mit „Die Korrekturen“ das Genre neu. Nun geht sein Freund auf diesem Weg weiter.
Von REINHARD HELLING
Fünf bildhübsche Mädchen begehen Selbstmord. Fassungslos schauen ihre Verehrer zu und mit
ihnen eine ganze Kleinstadt. So die Geschichte der Familie Lisbon, die Jeffrey Eugenides 1993 in
seinem Debüt „The Virgin Suicides“ (dt. „Die Selbstmord-Schwestern“, Byblos) erzählte, das Sofia
Coppola inzwischen verfilmt hat. Dass den Umschlag der deutschen Ausgabe fünf Puzzleteile mit
den Köpfen von Cecilia, Lux, Bonnie, Mary und Therese Lisbon zieren, ist durchaus sinnig: Als
Leser muss man sich eine Erklärung der Freitode aus Beobachtungen und Vermutungen genauso
zusammenpuzzeln wie die Bewohner des Ortes.Zehn Jahre hörte man nichts mehr von dem Autor, einem in Detroit geborenen Spross
griechischer Einwanderer, der in Stanford Creative Writing studierte und lange Indien bereiste.
Doch er schrieb unbeirrt weiter, acht Jahre lang. „Jeden Tag wartete Folter auf mich. Das Buch
war mein Gefängniswärter, und wir wurden Freunde“, sagt er rückblickend.Jetzt ist Eugenides' lang erwarteter zweiter Roman „Middlesex“ erschienen. Die „Achterbahnfahrt
eines Gens durch die Zeit“, wie der Ich-Erzähler ankündigt, erweist sich als wahres Meisterwerk:
erzählfreudig und geschichtstrunken. Seit Wochen eilt der deutschen Veröffentlichung ein ähnlicher
Hype voraus wie vor einem Jahr dem Erfolgsroman „Die Korrekturen“ seines Freundes Jonathan
Franzen, und dem nahe liegenden Vergleich hält das Buch locker stand. Da der 43-jährige
Eugenides für seinen weit ausholenden Roman den diesjährigen Pulitzer-Preis bekommen hat, den
er sich am Muttertag in New York abholte, wurde die deutsche Fassung, die Eike Schönfeld,
Neuübersetzer von Salingers Klassiker „Der Fänger im Roggen“, besorgt hat, flugs vorgezogen.
„Ich wurde zweimal geboren: zuerst, als kleines Mädchen, an einem bemerkenswert smogfreien
Januartag 1960 in Detroit und dann, als halbwüchsiger Junge, in einer Notfallambulanz in der Nähe
von Petoskey, Michigan, im August 1974.“Dieser effektvolle Anfang macht neugierig auf das Zwitterwesen, das als Calliope Helen
Stephanides geboren wurde und heute, als 41-jähriger Erzähler mit deutschem Führerschein, Cal
heißt und in Berlin-Schöneberg bei der Kulturabteilung des Auswärtigen Dienstes arbeitet und sich
mit der Fotografin Julie anfreundet. Das Interesse an der Figur des Erzählers steigert sich noch,
als die Eltern Tessie und Milton Stephanides ins Spiel kommen, die in Detroit einen Diner betreiben
und sich nach einem Sohn nun eine Tochter wünschen.Beim traditionellen Ostereierstoßen raunt Tessie ihrem Mann zu, dass ihre Temperatur um „sechs
Zehntel gestiegen“ ist ein sicheres Zeichen für den bevorstehenden Eisprung. Hastig legen sie
die Ostereier zurück und vollziehen im Elternschlafzimmer den Akt. Am 8. Januar 1960 kommt
endlich ein Mädchen auf die Welt. So scheint es. Um sein androgynisiertes Gehirn zu erklären
(„Ich funktioniere in der Gesellschaft als Mann. Ich gehe aufs Männerklo“), springt der Erzähler
über den Atlantik. Und zurück ins Jahr 1922, als seine griechische Großmutter Desdemona, die in
ihrem Dorf oberhalb von Bursa eine Seidenraupenzucht besitzt, mit ihrem Bruder Lefty inmitten
der Kriegswirren bei der Eroberung der Stadt Smyrna durch die Türken intim wird.Die Geschwister fliehen per Schiff nach Amerika, heiraten an Bord der „Giulia“ und betreten als
Ehepaar die USA. Ergiebig wie die Seidenraupen seiner Großmutter spinnt der Erzähler seinen
Erzählfaden, reichhaltig wie das Essen, das Desdemona aus Langeweile kocht, während ihr Mann
bei Ford Autoteile am Band montiert, tischt Eugenides seine Great Greek American Novel auf: drei
Generationen, zwei Kontinente, ein halbes Jahrhundert.Griechische Seiden- und amerikanische Autoproduktion; Prohibition, Depression, Rassenunruhen;
silberne Löffel als Ultraschallersatz und das „5-alpha reductase deficiency“-Syndrom; Bursa,
Detroit, Berlin. Eugenides' an Abschweifungen reicher Familienroman ist voll gepackt mit Themen
und Symbolen, dass es manchmal quietscht. Der Titel spielt nicht ja nicht nur mit dem Namen des
Middlesex Boulevard im Detroiter Nobelvorort Grosse Point, in dem der Autor aufwuchs und „Die
Selbstmord-Schwestern“ ansiedelte, sondern auch mit dem Zwischengeschlechtlichen des
Erzählers und der ehemaligen Zweiteilung Berlins, wo der Henry-James-Fan seit 1999 mit seiner
Familie lebt. Und er setzt noch eins drauf: Die zentrale Frage seines Romans, sagt Eugenides,
betreffe die Rolle, die die Gene für unser Schicksal spielen. „Zwischen den Alternativen Milieu und
Vererbung argumentiere ich für einen Mittelweg. Das ist eine der offensichtlichen Bedeutungen des
Titels.“Jeffrey Eugenides: Middlesex. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Rowohlt,
Hamburg 2003. 735 Seiten, 24,90 Euro.
© 2003 Reinhard Helling, zuerst erschienen in: Rheinischer Merkur, Nr. 21, 22. Mai 2003
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