Familiäre Unstimmigkeiten
Neue Storys von Jennifer Egan
Die US-Autorin schreibt über Menschen, die nicht so leben können, wie sie wollen
Das Foto mit den sonnengold glänzenden Türmen des World Trade Center auf dem Umschlag ist eine doppelte Täuschung: Zum einen hat die Amerikanerin Jennifer Egan die elf Stories in dem Band Emerald City (Aus dem Amerikanischen von Sigrid Ruschmeier. Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2000. 231 S., 36 Mark) nicht mit dem Herz einer New Yorkerin geschrieben, sondern mit der Seele einer Globetrotterin. Aber der schöne Satz aus der Titelgeschichte, dass New York ein Ort ist, "der in der Ferne glitzerte, selbst wenn man ihn erreicht hatte", fand wohl auch der Umschlaggestalter so sinnbildlich, dass er das Motiv aufs Cover hob. Zum anderen glänzt - abgesehen von der Autorin, die mit sehr wenigen Worten sehr viel erzählen kann - in Emerald City selbst wenig.
In praktisch allen Geschichten ist das Familiengefüge aus dem Lot geraten - zumindest aus Sicht der Kinder: Sie wachsen mit Stiefgeschwistern auf, mit Stiefeltern, manchmal nur mit einem Elternteil. Wie es dazu kam, wird selten thematisiert. Scheidung und Wieder-Heirat liegen in der Vergangenheit und sind schlicht eine Tatsache. Auch in "Ein richtiges Teil" ist das Tragische schon vor Jahren passiert: Bradley war zehn und seine Schwester Lucy sieben. Die Kinder saßen im Auto und die Mutter ging gerade zwischen Garage und Auto hindurch - da macht das Auto einen Sprung nach vorn. "Man sollte nicht glauben, dass man jemanden dadurch so verletzen kann, aber sie sagten, dass sie innerlich verblutete." Mehr erfahren wir nicht über den Tod der Mutter. Thema ist das Leiden des Mädchens, das nicht ertragen kann, dass ihren Bruder seit damals die Last der Schuld beugt.
Familiäre Unstimmigkeiten hat die 1962 in Chicago geborene Autorin früh zu spüren bekommen: Als sie zwei Jahre alt war, ließen sich ihre Eltern scheiden. Zwei Jahre später heiratete ihre Mutter erneut und zog mit ihrem zweiten Mann und der vierjährigen Tochter nach San Francisco. So geriet Jennifer Egan in die Rolle eines Mädchens mit einem leiblichen Vater, der in Chicago blieb, und einem Stiefvater, der ständig um sie war. Die Geschichte "Sacred Herz" behandelt das Dilemma, verschiedene Eltern zu haben. Darin folgen wir den Gedanken der 15-jährigen Sarah: "So wie Amanda es aussprach, hörte sich das Wort großartig an, eine Kette leuchtender Eisenbahnwaggons gleitet über gut geölte Gleise. Scheidung." Und Sarah, die davon fasziniert ist, dass ihre Freundin eines Tages einfach von zu Hause wegläuft, antwortet ihr: "Meine Eltern sind schon geschieden." Dies klang für Sarah weniger schön, eher so, als "wenn man auf etwas tritt".
Bei Egan sind alle Figuren getrieben von dem Wunsch, ein anderes Leben zu führen. Sie begeben sich häufig auf Reisen, nach Spanien, Mexiko, Bora Bora, und hoffen, dort Erlösung zu finden. "Obwohl es kaum Verbindungen gibt zwichen dem Chaos, das uns umgibt, und der Vorstellung, wie unser Leben aussehen könnte, unternehmen wir ziemlich viel, um diese Kluft zu überbrücken", sagt Jennifer Egan. Nach dem Abschluss der High School in San Francisco machte sich die heute 38-Jährige zunächst ihr Äußeres zu Nutze und arbeitete als Model. "Auf dem Laufsteg hatte ich die Sehnsucht zu reden oder wegzulaufen - zwei Dinge, die man als Model nicht kann", sagt Egan. Also zurück zur klassischen Ausbildung: Studium an der Universität von Pennsylvania (erst liebäugelte Egan mit Archäologie, entschied sich dann für Englisch) und in Cambridge. Ausgerüstet mit Rucksack und einem Stipendium ging's dann auf Reisen: nach Europa und Asien. Dort kam Egan die erste Idee zu einem Roman, den sie noch unterwegs zu schreiben begann. Ein voluminöses Manuskript, das sie nach ihrer Rückkehr in die USA an mehrere Agenten geschickt hatte, kam "wie ein Bumerang" zurück. Auch Freunde, die es gelesen hatten, wussten nichts mit dem 800-Seiten-Werk anzufangen. Heute kann Egan darüber lachen: "Es war ein schreckliches Buch."
Zehn Jahre vergingen, ehe das vollständig umgearbeitete Manuskript bei der Lektorin Nan A. Talese auf dem Tisch lag, die es 1995 in ihrem Label bei Doubleday unter dem Titel The Invisible Circus herausbrachte. So vom hohen Ross gefallen, fing Egan, die seit 1988 in New York lebt, noch einmal ganz unten an. Sie besuchte Schreibseminare in Phil Shultz' Writers Studio, versuchte sich an der kleinen Form: "Bei Phil habe ich gelernt, dass es bei Geschichten auf die emotionale Wahrheit ankommt. Vorher hatte ich dazu geneigt, die Absicht einer Geschichte allzu offensichtlich zu gestalten." An Geldverdienen mit Schreiben war nicht zu denken, so nahm die damals 26-Jährige Gelegenheitsjobs an: Sie arbeitete im Catering Service am Port Authority, organisierte für das Tribeca Film Center das Festival "First Look" und war zwei Jahre Privatsekretärin von Aline Griffith, besser bekannt als Countess of Romanones, die während des Zweiten Weltkriegs als eine der wenigen Frauen in Europa als OSS-Agentin tätig war und Bestseller wie "The Spy Wore Red" schrieb. Zu dieser Zeit machte Egan, die den Theaterregisseur David Herskovits geheiratet hatte, die Erfahrung, dass in New York Status alles ist, was zählt. "Wenn ich auf einer Party sagte, dass ich Zeitsekretärin bin, flohen die Leute sofort an die Bar." Immerhin konnte sie, nachdem der "New Yorker" 1989 ihre erste Geschichte angenommen hatte, regelmäßig veröffentlichen: in "GQ", in "Mademoiselle" und der in Boston erscheinenden Literaturzeitschrift "Ploughshares".
Doch der Durchbruch kam erst mit dem Debütroman, der im vergangenen Jahr unter dem Titel Die Farbe der Erinnerungauf Deutsch erschien (Aus dem Amerikanischen von Günter Ohnemus. Schöffling, Frankfurt/M. 539 S., 48 Mark). Er erzählt die Geschichte der 18-jährigen Phoebe O'Connor, die 1978 von San Francisco aus nach Europa aufbricht, um herauszufinden, wie ihre geliebte Schwester Faith acht Jahre zuvor in Italien ums Leben kam. Phoebe lebt seit dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter zusammen, raucht nicht, hat keinen Führerschein und ist noch Jungfrau. Ihre Schwester hat alles ausprobiert: freie Liebe, Sex, Drogen. 18 Postkarten, die Faith aus Europa schrieb, dienen Phoebe als Kompass für ihre Europareise, an deren Ende sie bei sich selbst ankommt. Adam Brooks hat den Roman mit Cameron Diaz in der Rolle des Flower-Power-Girls Faith und Jordana Brewster als Phoebe verfilmt; Kinostart in den USA ist der 22. September.
Deutsche Leser hätten schon vor vier Jahren mit der Autorin Bekanntschaft schließen können. Damals hatte der Rechtsanwalt Axel Pohlmann in seinem Venusberg-Verlag die Stories unter dem Titel Stadt aus Diamant herausgebracht. Der 57-Jährige hatte die Autorin durch die Lektüre des "New Yorker" entdeckt und die deutsche Ausgabe kurz nach dem Original 1996 veröffentlicht - in eigener Übersetzung und mit streichholzschachtelgroßen Anzeigen in der "Zeit" beworben. Wer zu früh kommt, den strafen die Rezensenten: Keine Zeitung von Rang wies auf das Buch hin; der Hobbyverleger verkaufte 50 Exemplare. Nach zwei weiteren Fehlschlägen stellte er den Verlag ein. Auf der anderen Seite des Atlantiks lief die übliche PR-Welle.
Als JenniferEgan nach dem Erfolg von The Invisible Circus ein Jahr lang ihren Roman auf Lesereisen promoten musste, wollte sie manchmal wieder weglaufen, wie damals beim Modeln. Ihr fehlte der Schreibtisch. Inzwischen ist wieder Ruhe in ihr Leben gekehrt. Regelmäßig schreibt sie Titelgeschichten für das Magazin der "New York Times". Wie ihre Stories handeln ihre journalistischen Arbeiten häufig von Menschen, die nicht so leben können, wie sie wollen. "Ich habe keine Angst, dass mir die Ideen ausgehen", sagt JenniferEgan. "Eher fürchte ich, mich zu wiederholen." Zum Glück hatte sie einen Großvater, der bei der Chicagoer Polizei arbeitete. Er inspirierte sie zu ihrem zweiten Roman, der in Arbeit ist. Und sie gibt an Studenten weiter, was sie vor zwölf Jahren selbst gelernt hat: An der Columbia Universität unterrichtet sie Creative Writing; im Herbst wird sie sich Kurzgeschichten von James Salter und Alice Munro vornehmen, um mit den Studenten die Entwicklung von Figuren zu studieren. Nicht nur in dieser Hinsicht könnte sie auch ihre eigenen Geschichten nehmen.
© 2000 Reinhard Helling
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