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95 – 60 – 93

Jean Echenoz rückt mit seinem Roman "Die großen Blondinen" einem Mythos zu Leibe

Blondinen eilt der Ruf voraus, allerlei zu sein: besonders sexy, dümmer als  Dunkelhaarige, vor allem aber selten. Nun arbeiten Anthropologen, Psychologen, Humangenetiker und Dermatologen hart daran, den Schleier zu lüften. Dem ,Mythos blond‘ droht die Entzauberung“, sorgte sich sogar der Spiegel in einer Titelgeschichte. Schon vor sieben Jahren hat der französische Schriftsteller Jean Echenoz dieses Thema in seinem grandiosen Buch „Les Grandes blondes“ behandelt; jetzt liegen Die großen Blondinen (Berlin Verlag, 190 Seiten, 19 Euro) in der vorzüglichen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel auf Deutsch vor.

Paul Salvador produziert für die Société Stocastic Film in Paris sehr erfolgreich TV-Magagzinsendung. Sein Rezept: von Zeit zu Zeit das kollektive Gedächtnis mit Beiträgen über ehemals Berühmte auffrischen. „Was ist aus ihnen geworden?“ – das interessiert die Leute. Sein aktuelles Projekt: „Die großen blonden Frauen im Film, in der bildenen Kunst allgemein und im weiteren Sine im Leben. Ihre Geschichte, ihre Natur, ihre Rollen. Spezialitäten und Varietäten. Alles, was an ihnen interessant ist, in fünf mal 25 Minuten.“

Die fünfte Folge soll eine ganz besondere Frau vorstellen: Gloria Stella, geborene Abgrall, für kurze Zeit ein Stern am Pariser Varieté-Himmel, wegen Totschlags an ihrem Agenten/Geliebten zu fünf Jahren Haft verurteilt, vorzeitige Entlassung wegen guter Führung. Seitdem ist Gloria verschwunden, und Paul Salvador will sie finden. Ausgerüstet mit dem Ratgeber „How to disappear completely and never be found“, in dem alle Tricks der Unsichtbarwerdung erläutert sind, macht er sich ans Werk. Doch die Verschollene, der ein geheimnisvoller Schutzengel zur Seite steht, macht es dem TV-Mann mehr als schwer.

Als ein Beispiel für das hohe sprachspielerische Niveau, auf dem sich der in der Tradition von Raymond Queneau geschriebene Roman bewegt, mag die Beschreibung von Salvadors Assistentin geben. „95 – 60 – 93: Zu jeder Jahreszeit zeichnet Donatienne sich durch das Tragen übernatürlich kurzer und wundersam ausgeschnittener Kleidungsstücke aus, die manchmal so kurz und so ausgeschnitten sind, dass zwischen beiden Adjektiven fast kein Platz mehr für echten Stoff bleibt.“
Zugleich erzählt Echenoz eine spannende Abenteuergeschichte, die Elemente der Detektivstory mit denen des Comics vereint, und bietet darüberhinaus eine kleine Kulturgeschichte der Blondinen. Denn während eine Detektei dabei ist, Gloria nachzuspüren, die zur Wahrung ihrer Privatsphäre auch vor Mord nicht zurückschreckt und vor ihren Verfolgern nach Australien und Indien flieht, prüft Pauls Produktionsfirma Alternativen: nach dem „emblematischen Dreieck Monroe, Dietrich, Bardot“ zieht man auch Sonderfälle wie Anita Ekberg und Julie London in Betracht.

Mit diesem feinen Buch erhebt sich der 53-jährige Autor, der 1999 mit dem Ehe-Flucht-Roman „Ich gehe jetzt“ den Prix Goncourt gewann, einmal mehr über rationale Erzählschemen und erfreut damit jeden, der sich gern verführen lässt – sei es von einer Blondine oder, wie in Jean Echenoz’ Fall, von einem Sprachvirtuosen.

© 2002 Reinhard Helling