Sie wünschte sich immer, „an einem Fenster mit
Blick auf die Bucht von San Francisco zu sitzen und einen Roman zu schreiben“.
Was die Ausicht betraf, hatte sich 1968 für Diane di Prima
der Traum erfüllt. Aber sie brauchte dringend Geld. Deshalb nahm die
Lyrikerin und Theaterautorin den Auftrag der legendären Olympia Press
an, ein Buch über ihre Jugendjahre im New York der Vor-Beat-Ära
zu schreiben. Sobald sie ein Kapitel fertig hatte, schickte sie es Maurice
Girodias, dem berüchtigten Verleger – er hatte Henry Miller,
James Joyce und zehn Jahre zuvor William S. Burroughs bahnbrechendes
Buch Naked Lunch veröffentlicht –, und postwendend kam
die Antwort: „Mehr Sex“.
Den lieferte die damals 34-Jährige – in allen
Varianten: allein, zu zweit, zu fünft, mit Männern, mit Frauen,
im Bett, im Buchladen, in der Natur. Am Anfang des Berichts steht ihre
Entjungferung mit 17 („Danach war Blut auf seinem Schwanz, und als ich
mich wieder bewegen konnte, leckte ich es ab, schluckte meineKindheit hinunter,
war in der Welt, im Leben angekommen.“), am Ende ist sie mit ihrer ersten
Tochter Jeanne schwanger: „Jetzt begann ein neues Abenteuer“.
Die in Brooklyn geborene Autorin, die das College abbrach,
um sich der Poesie, dem Jazz, Drogen und der Liebe zu widmen, lässt
durchblicken, dass sie die von Girodias geforderten Stellen – „das
Oregano in der Tomatensauce“ – selbst erlebt hat. Teils aus Erkundungs-,
teils aus Überlebensdrang. 10 Dollar bekam sie für das Posieren
für Aktfotos, 35 Dollar für „ein bisschen realistischere Arbeit“.
Das war damals schon die halbe Miete für eine Wohnung auf der Lower
East Side.
Unter dem Titel High! – Memoiren eines Beatmädchens
hatte MÄRZ-Verleger Jörg Schröder das Buch erstmals
1969 bei uns herausgebracht. Es fiel aber schnell den Pornografie-Jägern
zum Opfer. Nun legt Michael Kellner,
der den Beat-Autoren wie Allen Ginsberg und William S. Burroughs
seit langem als Verleger verbunden ist, mit Nächte in New York.
Erotische Erinnerungen (Rogner
& Bernhard bei 2001, 206 Seiten, 13,80 Euro) eine Neuübersetzung
des Underground-Klassikers vor.
Er zeigt, dass sich der Darstellung des Liebens und Begehrens
sehr wohl Seele einhauchen lässt und nicht zu Masturbationsmunition
verkommen muss wie in Catherine Millets Skandal-Bestseller Das
sexuelle Leben der Catherine M. (2001), das eher an ein Lehrbuch für
Mechanik erinnert. Aus heutiger Sicht ist di Primas Buch aber vor allem
dort interessant, wo es die Prüdie Anfang der 50er Jahre mit ihrer
Schwulenfeindlichkeit einfängt sowie die Aufbruchsstimmung, die einsetzt,
als 1956 Allen Ginsbergs Howl die Bohemiens im Rindereintopfkochen
innehalten ließ.
In seinem Gedicht („Ich sah die besten Köpfe meiner
Generation vom Wahn zerstört...“) hatte Ginsberg einem Gefühl
Ausdruck verliehen, dem die angehende Dichterin mit ihren Freunden quasi
heimlich gefolgt war, ohne zu ahnen, dass andere ähnlich empfanden
in San Francisco, Chicago, New Orleans. „Ich spürte, dass Allen
nur die Vorhut einer viel größeren Sache sein konnte“, schreibt
di Prima, die in den 60er Jahren mit Le Roi Jones die Zeitschrift
„The Floating Bear“ herausgab und einen Verlag gründete. 1978 schließlich
trat die inzwischen fünffache Mutter mit „Loba“ hervor, einem epischen
Gedicht, das heute als feministisches Gegenstück zu Ginsbergs Howl
anerkannt ist.
© 2002 Reinhard Helling