Eine
verruchte Cousine sorgt fŸr Turbulenzen
Francesca Segals ebenso amŸsantes wie kritisches RomandebŸt ãDie
ArglosenÒ.
Von REINHARD HELLING
Um die naheliegende Frage gleich zu beantworten: Ja, Francesca ist die Tochter von Erich Segal (1937–2010), dem Autor der "Love Story" (1970), der als Literaturwissenschaftler sicher die bedeutenderen Werke verfasst hat. Mit dem Bestseller ihres Vaters hat ihr in zehn LŠnder verkauftes DebŸt "Die Arglosen" aber so gut wie nichts zu tun. DafŸr mit einem anderen berŸhmten Buch, doch dazu spŠter.
Adam Newman, ein 28-jŠhriger Londoner Anwalt, ist glŸcklich verlobt und will Rachel Gilbert, eine kreuzbrave und bodenstŠndige JŸdin, mit der er fast sein halbes Leben befreundet ist, lieber frŸher als spŠter heiraten. Ihr zuliebe lŠsst er sich auch auf all die religišsen FormalitŠten ein, auf die ihre Familie besteht. Mit Eifer geht er deshalb auch seiner Arbeit in der Kanzlei seines kŸnftigen Schwiegervaters, Lawrence Gilbert, nach.
Da taucht unerwartet Rachels amerikanische Cousine Ellie auf, eine hŸbsche, verruchte 22-JŠhrige, die Adam den Kopf verdreht. Sie raucht Joints, hat in Amerika als Model gearbeitet und sich mit einem dubiosen Kunstsammler eingelassen, man kann wahrscheinlich sagen, sie hat sich prostituiert. Und mšglicherweise hatte sie auch einen Auftritt in einem Pornofilm, der ihre Karriere an der UniversitŠt frŸhzeitig beendete. Die junge, wilde Frau bringt Adam mŠchtig in Schwierigkeiten, weil sie ihm bewusst macht, wie sein bisheriger Lebensentwurf mit Rachel im "Mief des Vorhersehbaren" mŸnden wŸrde. Ellie dagegen verspricht aufregende Impulse in sein geregeltes Gemeindeleben "zwischen Bar Mizwas und Hochzeiten und Festtagen und endlosen Einladungen zu Familienessen" zu bringen. Und so wird er zerrissen zwischen Pflicht und Versuchung.
Wem die Geschichte irgendwie bekannt vorkommt, hat den richtigen Riecher: Die 32-jŠhrige Britin, die in Harvard und Oxford studierte und bisher als Kritikerin arbeitete, hat sich den Klassiker "Zeit der Unschuld" von Edith Wharton aus dem Jahr 1921 zum Vorbild genommen und die Handlung aus dem New York des 19. Jahrhunderts in den Londoner Vorort Hampstead Garden Suburb von heute verlegt. Um die nštige Distanz zu dem Ort und zu den Menschen zu gewinnen, die Segal in ihrem Roman leidenschaftlich, kritisch, aber auch mit viel Witz betrachtet, hat die in London geborene Autorin einige Jahre in New York gelebt. In einem Interview erzŠhlte sie: "JŸdisches Leben in England hat mir immer viel geboten, aber mir fehlte der Platz zum Atmen." Und so hat sie es genossen, fŸr eine Weile in einer Stadt zu sein, "in der ich nicht stŠndig ein Mitglied meiner Familie traf, wenn ich nur mal aus dem Haus ging, um einen Liter Milch zu kaufen ".
Und das liest sich in dem Roman, fŸr den Segal 2012 neben dem Costa First Novel Award auch den National Jewish Book Award gewonnen hat, so: "Stets standen mindestens 25 Menschen bereit, die sich nur darum rissen, einem zu helfen. Die positive Kehrseite von stŠndiger Einmischung war bedingungslose UnterstŸtzung." Aber neben dem familiŠren Druck gibt es in dieser Community auch zwanglose Momente, so auf den "Christmukkah"-Partys, die Adams Freunde Dan und Willa London erfunden haben, bei denen sie "das Beste aus beiden Traditionen zu einem eigenwilligen GefŸge" zusammengefŸhrt haben. Reinhard Helling
Francesca Segal: "Die
Arglosen", aus dem Englischen von Verena Kilchling
(Kein & Aber, 432 Seiten, 22.90 Euro)
(Erschienen in:
Abendzeitung, MŸnchen, 28. Juni 2013)
© 2014 Reinhard Helling