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Ein Buch aus vierundzwanzig Bildern pro Sekunde

 

Lauter GlŸcksmomente: Der Chilene Hern‡n Rivera Letelier erzŠhlt die anrŸhrende Geschichte eines MŠdchens, das ein Dorf in der Atacama-WŸste zum TrŠumen bringt.

 

Von REINHARD HELLING

 

Sehr subtil hat die Amerikanerin Nicole Krauss jŸngst ihrem Lieblingsautor, dem 2003 verstorbenen chilenischen Roberto Bola–o, die Ehre erwiesen: In ihrem Roman "Das gro§e Haus" (F.A.Z. vom 14. Januar 2011) lŠsst sie mit Daniel Varsky einen Landsmann von Bola–o auftreten, einen Dichter, der sich Ÿber den Kenntnisstand einer Nordamerikanerin erbost, die glaubt, die Literaturszene des sŸdamerikanischen Landes mit dem Namen Pablo Neruda hinreichend beschreiben zu kšnnen: "Wohin ein Chilene auch gehen mag - Neruda war schon da mit seinem Muschelschei§ und hat ein Monopol errichtet."

Varsky kritzelt der Unwissenden eine Liste mit lesenswerten chilenischen Dichtern auf ein StŸck Papier. Ganz oben: Nerudas Antipode Nicanor Parra, der von Bola–o verehrte Dichter. Er sollte, wenn er schon nicht den Literaturnobelpreis bekommt wie seine Landsleute Neruda und Gabriela Mistral, zu seinem nahenden hundertsten Geburtstag doch vielleicht wenigstens den Cervantes-Preis bekommen. Varsky hŠtte aber auch Hern‡n Rivera Letelier empfehlen kšnnen. Der setzt harten Realismus mit einem Schuss MŠrchenhaftigkeit gegen den "Muschelschei§" und wurde hierzulande bisher strŠflich vernachlŠssigt. Zwar wurde uns der 1950 in Talca im SŸden Chiles geborene Sohn eines Bergarbeiters schon einmal mit dem Roman "Lobgesang auf eine Hure" (1999) vorgestellt, in dem er auf spielerische Weise engagiertes ErzŠhlen mit magischem Realismus verbindet. Doch eine angemessene Rezeption der in der Atacama-WŸste angesiedelten Geschichte gab es nicht.

Nun gibt es zum GlŸck eine neue Chance, diesen in seiner Heimat schon zweimal mit dem Preis des Nationalen Lese- und BŸcherrates ausgezeichneten Autor zu entdecken. Dass der Insel Verlag bei dem Roman "La contadora de pel’culas" (2009) zugegriffen hat, der in der tadellosen †bersetzung von Svenja Becker im Deutschen den schlichten Titel "Die FilmerzŠhlerin" trŠgt, hŠngt wohl mit der geplanten Verfilmung durch den brasilianischen Regisseur Walter Selles zusammen. Die in den sechziger Jahren spielende Geschichte erzŠhlt von Mar’a Margarita, die in einer dem Untergang geweihten Minenstadt zu Hause ist. Dem Leben in dieser Einšde sind Grenzen gesetzt, Ÿber die sich das MŠdchen aber mit viel Phantasie hinwegsetzt. Dabei entstammt die Idee zu dem GeschŠftsmodell, das die erst ZehnjŠhrige zum Erfolg fŸhrt, der puren Not: Weil der nach einem Arbeitsunfall gelŠhmte und von seiner Frau verlassene Castillo nicht mehr aus seiner WellblechhŸtte rauskommt und die spŠrliche Invalidenrente ohnehin gerade so fŸrs Essen reicht, ruft er einen Wettbewerb aus und schickt seine fŸnf Kinder nacheinander ins Kino. Derjenige, der dem Rest der Familie den besten Eindruck von dem Film vermittelt, soll der offizielle FilmerzŠhler der HŸtte sein. Mit einer grandiosen Darstellung von "Ben Hur" besiegt Mar’a Margarita ihre vier BrŸder. Und schon bald lockt sie mit ihrer Kunst allabendlich zahlreiche Zuhšrer an, die gegen eine Spende Einlass in die HŸtte finden. Selbst wenn der Originalfilm schwarzwei§ sei, so posaunt der Vater stolz heraus, sei das erzŠhlte Kino seiner Tochter "in Technicolor und Cinemascope".

Vierundvierzig kurze Kapitel genŸgen Hern‡n Rivera Letelier, um die Geschichte des MŠdchens, das sich selbst durch LektŸre der Zeitschrift "Ecran" zu einer Expertin fŸr vierundzwanzig Bilder pro Sekunde macht und sich den Kunstnamen Fee Delcine zulegt, ins Tragische kippen zu lassen: Der verhasste Geldverleiher Don Nolasco nutzt eine PrivatvorfŸhrung, um das MŠdchen zu vergewaltigen. Daraufhin bringt ihr Bruder Mariano den Mann um - und wandert ins GefŠngnis. Mit beidem kann Mar’a leben, sogar mit dem bald eintretenden Tod ihres Vaters. Doch dann kommt der erste Fernseher in die Siedlung und besiegelt ihr Schicksal.

Rivera Letelier ist mit der Salpeterindustrie in der Atacama-WŸste ebenso vertraut wie mit den unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Minen. Zwei Jahrzehnte lang malochte er in den Stollen, bevor er 1988 mit dem Schreiben begann. "Die Landschaft ist mein Comala, meine Macondo, mein Santa Mar’a", so lautet Rivera Leteliers sein Bekenntnis in Anspielung auf die von Juan Rulfo, Gabriel Garc’a M‡rquez und Juan Carlos Onetti literarisch verewigten Orte.

Als im vergangenen Jahr in der Kupfermine San JosŽ dreiunddrei§ig Bergleute mehr als zwei Monate unter Tage gefangen waren, fragten Zeitungsredaktionen aus der ganzen Welt bei dem Mann mit der doppelten Begabung als Bergarbeiter und Schriftsteller Artikel an. Aber Rivera Letelier lehnte stets mit der BegrŸndung ab, dass er kein Kapital aus der Tragšdie der Kumpel schlagen wolle. In seiner Fiktion hatte er die miserablen Bedingungen der Minenarbeiter seines Landes da ohnehin lŠngst in drastischen Worten beklagt.

Hern‡n Rivera Letelier: "Die FilmerzŠhlerin". Roman. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Insel Verlag, Berlin 2011. 105 S., geb., 14,90 Euro.

 

(Erschienen in: ãFrankfurter Allgemeine ZeitungÒ, 15. August 2011)


 © 2012 Reinhard Helling

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