Verzweifelung
ertragen
Norddeutsche Namen,
DŸnenlandschaft und raues Wetter bilden den atmosphŠrischen Hintergrund fŸr ãDie
MaskeÒ, den neuen ErzŠhlband des 85-jŠhrigen Schriftstellers Siegfried Lenz.
Von REINHARD
HELLING
Auf
Siegfried Lenz ist einfach Verlass: Seit weit mehr als einem halben Jahrhundert
versorgt der gebŸrtige Ostpreu§e und Hamburger EhrenbŸrger mit gedankenreicher
Literatur, die in 37 Sprachen Ÿbersetzt
wurde (Weltauflage: 30 Millionen), eine ebenso riesige wie anhŠngliche
Leserschaft, um die ihn selbst NobelpreistrŠger GŸnter Grass und
Bodensee-Chronist Martin Walser Ð obwohl beide rŸstiger Ð beneiden dŸrften.
Lenz hat eben ordentlich ãHuckfleischÒ, Sitzfleisch, wie man in seiner Heimat
sagt.
FrŸher hat
der 1926 geborene Lenz seine Prosa ausfŸhrlich dargeboten in Romanen mit
Millionenauflage (ãDeutschstundeÒ, ãHeimatmuseumÒ), in letzter Zeit, seit der
Kšrper nicht mehr ganz so willig ist wie der Geist, eher knapp in Form von
Novellen (ãSchweigeminuteÒ, ãLandesbŸhneÒ). Und weil der Goethe- und
FriedenspreistrŠger ein so treuer Autor beim Hamburger Traditions-Verlagshaus
Hoffmann und Campe (gegrŸndet 1781) ist, darf der passionierte Pfeifenraucher
und gutmŸtige GeschichtenerzŠhler weiterhin die alte Rechtschreibung anwenden.
In dieser
Woche hat Lyck, die masurische Geburtsstadt des Dichters, die heute Elk hei§t,
das Engagement des 85-JŠhrigen fŸr ein friedliches Miteinander von Polen und
Deutschen mit der EhrenbŸrgerwŸrde ausgezeichnet Ð der ersten in der Geschichte
der Stadt Ÿberhaupt. Vor 60 Jahren hat der Hemingway-Verehrer, der bei seiner
Gro§mutter Auguste in der Kaiser-Wilhelm-Stra§e 103 aufwuchs (der Vater war
frŸh gestorben, die Mutter weggezogen), die im Nordosten des Landes gelegene
Gegend mit den im ãOstpreu§en-LiedÒ besungenen dunklen WŠldern, weiten Feldern
und kristallklaren Seen als Marinesoldat zunŠchst gen DŠnemark, dann, nach
seiner Fahnenflucht, in Richtung Norddeutschland verlassen.
Nun kehrte
Lenz, im Rollstuhl anrollend, ohne Groll in seine Heimat in dem Bewusstsein
zurŸck, dass das Vergangene vergangen ist und jeder Friedliebende aufgerufen
ist, an dem GegenwŠrtigen Haus Europa mitzuarbeiten. Aber natŸrlich ging der im
AusschmŸcken von Geschichten von damals GeŸbte in seiner Dankrede auch auf die
erlebnisreichen Kindertagen auf dem Lycker See ein und auf die zu dŸnne
Eisschicht im Winter, die einbrach, als der junge Siegfried auf Kufen wild
darŸber glitt. Nach der unfreiwilligen Seewasser-Taufe gaben ihm seine
MitschŸler den Spitznamen ãSeemannÒ.
Daheim, in
Hamburg-Othmarschen, hat Lenz endlich auch fŸnf neue ErzŠhlungen
veršffentlicht. Er hat sie wieder seiner zweiten Frau, der DŠnin Ulla Reimer,
gewidmet, die ihm nach dem Tod seiner 2006 verstorbenen Frau Liselotte (57
Jahre war das Paar verheiratet) den Mut zum Weiterschreiben gab. Die lŠngste,
die auf einer kleinen Elbinsel sich zutragende Titelgeschichte ãDie MaskeÒ,
umfasst zwar nur 40 Seiten, aber was fŸr eine Sprachkraft und atmosphŠrische
Dichte, was fŸr eine Zuspitzung moralischer Fragen!
In ãRivalenÒ
nutzt der MuseumswŠrter Detlev Krell einen Kunstraub, um sich das von ihm
angehimmelte GemŠlde ãAntonia mit dem blauen SchalÒ unter den Nagel zu rei§en Ð
und kriegt prompt €rger mit seiner Frau Sandra, die eifersŸchtig ist auf die
unrechtmЧig erworbene Mitbewohnerin. Wie diese Perle der Lenzschen ErzŠhlkunst
sind auch ãEin Entwurf, ãDie SitzverteilungÒ und ãDas InterviewÒ in
Norddeutschland angesiedelt. FŸr sie alle kann der Satz gelten, den Clemens, eine
Figur aus der ãLandesbŸhneÒ, ausspricht: ãVerzweifelung zu ertragen,
Hoffnungslosigkeit auszuhalten, Entbehrungen zu Ÿberwinden, wer, wenn nicht die
Phantasie, hilft uns dabei.Ò
†brigens: Man kann sich diese wunderbaren neuen Lenz-Miniaturen auch von dem gro§artigen Schauspieler Burghart Klau§ner vorlesen lassen.
Siegfried
Lenz: ãDie MaskeÒ, Hoffmann und Campe, 123 Seiten, 17,99 Euro; 3 CDs, 16,99
Euro.
(gekŸrzt
erschienen in: ãAbendzeitungÒ,
26. November 2011)
© 2011 Reinhard Helling