Alleinflieger
Turbulent: Chang-rae Lees Roman Turbulenzen über eine New Yorker Familie
So viele verschiedene Ethnien waren selten in einer literarischen Familie vertreten: Jerome Battle, von allen nur Jerry genannter Ich-Erzähler in Chang-rae Lees Roman Turbulenzen,ist väterlicherseits süditalienischer Abstammung - Battaglia lautete einst der Familienname seines Vaters Hank - und seine vor 20 Jahren verstorbene Frau, Daisy Han, stammte aus Korea. Somit sind die Kinder Jack und Theresa doppelte Mischlinge, die sich koreanisch beziehungsweise deutsch-angelsächsich gebunden haben. Für Jerrys im Plauderton vorgetragenen Betrachtungen, in denen er seine Beziehung zu allen vieren erörtert, spielt die Abstammung keine große Rolle, signalisiert aber die heute normal gewordene Durchmischung der amerikanischen Gesellschaft, ergänzt um "diesen schönen Generationenmix (weißhaariger Patriarch, sportliche junge Eltern, pfirsichwangige Kleinkinder)", der die Battles kennzeichnet. Dazu passt, dass sich der frisch Verwitwete damals die Puertorikanerin Rita ins Haus holte - als Ersatzfrau für sich und als Ersatzmutter für die Kinder.Kurz vor seinem 60. Geburtstag ist Jerrys Situation recht komfortabel: Der Frührentner ist gesund, nennt ein Ranchhaus sowie ein Aktienpaket sein eigen und geht nur zum Spaß ein paar Tage im Monat im Reisebüro Parade arbeiten. Seinen Lebensabend versüßt er sich durch Ausflüge mit Donnie, einem Propellerflugzeug, das er gebraucht gekauft hat und mit dem er in 800 Meter Höhe aufsteigt. Von dort sieht alles auf Long Island geordnet und harmonisch aus. Das ist aber auch kein Wunder: Jerry ist ein reiner Schönwetterflieger, auch im übertragenden Sinne.
Mit dem Flieger hat er den Platz gefunden, den er immer gesucht hat: Es ist sein "ganz persönlicher, privater Logenplatz in und zugleich auch gänzlich außerhalb der Welt". Mit dem Wort "außerhalb" deutet sich an, worum es dem US-Autor Chang-rae Lee in seinem dritten Roman geht: einen Mann zu zeigen, der "'ne Hornhaut ums Gemüt" hat und immer versucht, das Unangenehme aus seinem Leben zu verdrängen, und kurz vor Toreschluss die Rechnung präsentiert bekommt: Rita macht zu Jerrys Schulkamerad Richie rüber, sein 85-jähriger Vater, von dem Jerry die Landschaftsgärtnerei Battle Brothers Inc. geerbt hat, rebelliert gegen die Abschiebung ins Altersheim Ivy Acres (ein "Senioren-KZ"), Erinnerungen an Daisys ungeklärten Tod im Pool kommen hoch, als er mit seiner an Krebs erkrankten und zugleich schwangeren Tochter spricht, und die Vater-Sohn-Beziehung steht schließlich auf dem Prüfstand, als sich abzeichnet, dass Jack den von Hank und dessen Brüdern 1938 in Queens gegründeten Familienbetrieb in ein Geschäft für Einrichtungen und Design umgemodelt und damit gegen die Wand gefahren hat. Und dann denkt Jerry immer wieder an seinen Bruder Robert Henry, der nach Vietnam ging und nie wiederkam.
Mit welcher Souveränität sich der heute 39-jährige Chang-rae Lee, der 1965 in Seoul geboren wurde und als Dreijähriger mit seinen Eltern in die USA kam, in die Gedankenwelt eines Mannes im vorgeschrittenen Alters versetzen kann, hat er schon in seinem Roman Fremd im eigenen Land (2001) gezeigt. Sein glatter Lebenslauf gibt dafür keine Erklärung: Nach dem Studium in Yale arbeitete er als Analyst an der New Yorker Börse, bevor er mit Native Speaker sein vielbeachtetes, mehrfach ausgezeichnetes, leider bisher aber nicht übersetztes Debüt als Schriftsteller gab. Heute unterrichtet Lee in Princeton Creative Writing und gilt als eine der herausragenden Stimmen amerikanischer Literatur.
Chang-rae Lee
In Turbulenzen zeichnet der Autor leichthändig das Porträt einer recht durchschnittlichen Vorort-Familie über drei Generationen und macht dabei ganz nebenbei und doch detailreich klar, wie unaufhaltsam der Modernisierungswahn alle Lebensbereiche verändert: das Büro ebenso wie die Ehe, das Wohnen, die Ernährung, die Freizeitgestaltung, den Umgang mit Alten, die Kommunikation und nicht zuletzt das Delegieren der Erziehung an Fernsehen und Kindermädchen. Und so erleben wir in diesem Roman, für deren Verfilmung Scott Rudin sich die Rechte gesichert hat, den Untergang einer Familie im Wandel der Zeiten hautnah mit und fallen mit Jerry Battle in "die Kluft zwischen unsern großartigen Möglichkeiten und unsrer trübseligen Wirklichkeit". Ein fast stilles Buch, das seinem Titel trotzdem alle Ehre macht und den Leser ordentlich durchrüttelt.
Chang-rae Lee, Turbulenzen. Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 443 Seiten, 22.90 Euro
© 2004 Reinhard Helling