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Dinner for two

 

 

Jerome David Salinger, der Autor des ãFŠnger im RoggenÒ, wird am 1. Januar 90 Jahre alt. Seit 1965 hat er nichts mehr veršffentlicht und lebt zurŸckgezogen.

 

Von REINHARD HELLING

 

Wenn J. D. Salinger am 1. Januar 2009 das biblische Alter von 90 Jahren erreicht, wird es keine gro§e Feier geben. Die meisten seiner literarischen Wegbegleiter hat der Autor des Weltbestsellers ãDer FŠnger im RoggenÒ Ÿberlebt; vor drei Monaten starb im Alter von 94 Jahren auch der Mann, der das Potenzial der ãBibel der JugendÒ als Erster erkannt hatte: Robert Giroux. Der Verleger hatte den DebŸtroman des aufstrebenden Jungautors 1950 per Handschlag fŸr Harcourt, Brace angenommen, doch als sein Chef Eugene Reynal ihm dafŸr einen Vogel zeigte, wechselte Giroux zu Farrar, Straus Ð und Salingers Roman zu Little, Brown in Boston.

 

Auch sein privates Umfeld hat sich gelichtet: Allison Claire Douglas, 75, Salingers zweite Frau und Mutter der beiden Kinder, hatte 1967 die Scheidung eingereicht und lebt heute in Malibu; seine Schwester Doris ist 2001 im Alter von 88 Jahren gestorben; mit seiner Tochter Margaret Ann, 53, hat er sich Ÿberworfen, nachdem sie in ihren Erinnerungen ãDream CatcherÒ allerlei Privates Ÿber den Eremiten ausgeplaudert hatte, und damit war auch die Verbindung zum Enkelsohn Maxwell David, 15, gekappt. Als Vertrauter bleibt dem Autor nur sein Sohn, der Schauspieler Matthew Robert, 48. Doch der lebt mit seiner Frau Betsy Jane, 52, und den Sšhnen Avery, 14, und Gannon, 18, weit weg, in Los Angeles.

 

So wird es fŸr J. D. Salinger bestenfalls ein Dinner for two geben, das er mit seiner dritten Frau, der 40 Jahre jŸngeren Colleen M. OÕNeill genie§en kšnnte, wenn die Gesundheit des alten Mannes dies Ÿberhaupt zulŠsst. Obwohl: Er hat sich immer gesund ernŠhrt, lebt seit mehr als einem halben Jahrhundert in der frischen Waldluft von Cornish, New Hampshire, und ist Mitglied der  šrtlichen Lebensmittel-Kooperative. Sein Gehšr allerdings soll ihn vor Jahren verlassen haben. Heute ist er fast taub. Literarisch verstummt ist er schon vor 43 Jahren.

 

Am 19. Juni 1965 erschien im ãNew YorkerÒ mit ãHapworth 16, 1924Ò seine letzte Wortmeldung, ein Vierteljahrhundert nach seinem DebŸt mit der Short Story ãThe Young FolksÒ in dem Magazin ãStoryÒ. Doch die vier BŸcher, die Salinger in seiner aktiven Zeit zum Druck freigegeben hat, Ÿben bis heute einen immensen Reiz aus. Allen voran der Kultroman ãThe Catcher in the RyeÒ von 1951, der in gut 40 Sprachen Ÿbersetzt wurde und dessen Gesamtauflage sich allmŠhlich der Marke von 100 Millionen Exemplaren nŠhern dŸrfte.

 

Es ist die Geschichte des 16-jŠhrigen Holden Caulfield, der drei Tage durchs vorweihnachtliche New York  irrt und an der LŸgenwelt der Erwachsenen verzweifelt. Aber auch die ãNeun ErzŠhlungenÒ (1953), die Doppelgeschichte ãFranny und ZooeyÒ (1961) aus dem faszinierenden Kosmos der exzentrischen, jŸdisch-irischen Glass-Familie sowie die Fortsetzung mit ãHebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute und Seymour wird vorgestelltÒ (1963) berŸhren, als seien sie gestern geschrieben. Zu Lebzeiten ist von Salinger keine neue Veršffentlichung zu erwarten. Selbst die vor zehn Jahren von der Orchise Press angekŸndigte Veršffentlichung von ãHapworthÒ in Buchform bleibt ein Wunschtraum.

 

Ganz und gar nicht im Sinn des šffentlichkeitsscheuen Autors dŸrfte die Homepage www.hapworth161924.com sein, die unter der †berschrift ãFinding SalingerÒ fŸr die, ãdie den Weg wissenÒ, eine Folge von elf Fotos aus New Hampshire prŠsentiert: von der berŸhmten, 1866 eingeweihten Cornish-Windsor-HolzbrŸcke, die den Connecticut River Ÿberspannt, bis zu dem Waldweg, der zu Salingers Anwesen fŸhrt.

 

Angesichts des Schweigens aus dem Wald kann man eigentlich nur das wiederholen, was in den einschlŠgigen Literaturlexika steht: Salingers Thema ist ãdie Verlorenheit der Seele in einer von €u§erlichkeiten geprŠgten WeltÒ und sein Roman ãder stilistisch einflussreichste Beitrag eines amerikanischen ErzŠhlers zum Problem der AdoleszenzÒ, der ãliterarische Seelenspiegel einer gesamten jungen GenerationÒ. Oder wie Hermann Hesse schrieb: ãMan wird den schšnen Weg von der Befremdung zum Verstehen, vom Ekel zur Liebe gefŸhrt.Ò  Wie auch immer: Holden Caulfield, der Held des ãFŠngersÒ, ist aus der Literaturgeschichte nicht mehr wegzudenken und sein Leiden an der Verlogenheit der Erwachsenen bis heute gŸltig. Und Ÿber die Gro§familie Glass, in der es mehr als nur ein Genie gibt, kann man weiter staunen. 

 

Jerome David Salinger wurde am 1. Januar 1919 in New York als zweitŠltestes Kind des Lebensmittelimporteurs Solomon Salinger und der irisch-stŠmmigen Marie Jillich geboren, die sich ihrem jŸdischen Ehemann zuliebe in Miriam umbenannte. VŠterlicherseits stammt die Familie aus Litauen. Es war Salingers Gro§vater Simon F. Salinger, geboren 1860 in Tauroggen, der im Alter von zehn Jahren nach Amerika kam und dort mit seiner Frau Fannie Copland spŠter fŸnf Kinder in die Welt setzte. Zumindest literarisch hat Salinger seine Abstammung nicht beeinflusst. Die jŸdische Welt taucht in seinem Werk kaum auf; von gro§em Einfluss dagegen waren auf seine spŠten Geschichten und sein tŠgliches Leben die Lehren des Buddhismus. Vor fŸnf Jahren gab es hierzulande immerhin noch GesprŠchsstoff. Damals hatte Kiepenheuer & Witsch bei Eike Schšnfeld eine †bersetzung des ãCatcherÒ erstmals auf der Basis des US-Originals in Auftrag gegeben. Das Ergebnis des Hamburger †bersetzers war glanzvoll; endlich gab es den ganzen ãFŠngerÒ Ð ungekŸrzt und unzensiert. Mit der literarischen RŸckrufaktion war nach 40 Jahren Heinrich Bšlls missglŸckte †bersetzung ausrangiert, die Millionen SchŸler in der lila-gerahmten rororo-Taschenbuchausgabe gelesen hatten.

 

Dem Schweigen aus Cornish zum Trotz vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt eine Huldigung erklingt Ð sei sie literarisch oder musikalisch. So enthŠlt das kaum noch erwartete Album ãChinese DemocracyÒ von GunsÕN Roses ein StŸck namens ãCatcher in the RyeÒ, zu dem das mysterišse Abtauchen des eigenbrštlerischen Genies Axl Rose passt, der jetzt von seiner Plattenfirma gesucht wird. Die Referenz  kann auch aus Kuba kommen: Seit seinem ãHavanna-QuartettÒ wird der Schriftsteller Leonardo Padura nicht mŸde, seine Verehrung fŸr Salingers ãuntergrŸndigen und berŸhrenden GeschichtenÒ auszudrŸcken; in seinem neuen Roman ãDer Nebel von gesternÒ lŠsst er den Meister sogar leibhaftig auftreten Ð in einer orangefarbigen Tunika der Erleuchtung. Auch in der Verbesserung auslŠndischer ãCatcherÒ-†bersetzungen Ð in Japan Ÿbernahm diese Aufgabe Starautor Haruki Murakami, in Russland Max Nemtsov Ð drŸckt sich eine anhaltende Verehrung aus. Und der frisch gekŸrte LiteraturnobelpreistrŠger Jean-Marie Gustave Le ClŽzio nannte Salinger in seiner Dankrede eine seiner wichtigsten Inspirationen, weil ães ihm gelungen ist, uns in die Haut eines 16-jŠhrigen Jungen namens Holden Caulfield schlŸpfen zu lassenÒ.

 

Zum Geburtstag backt Colleen OÕNeill ihrem Mann vielleicht ein Blech ihrer kšstlichen Chocolate Chip Cookies, deren Rezept im Internet bereitsteht. Und vielleicht erreicht Salinger ja sogar das Alter seines Gro§vaters Simon F. Der Rabbiner, der in Feierabendkursen Medizin studierte und viele Jahre als Arzt praktizierte, wurde fast 100 Jahre alt.

 

(Zuerst erschienen in: Aargauer Zeitung, 27. Dezember 2008)

 

 

 © 2008 Reinhard Helling

 

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