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Das gro§e Versteckspiel

 

 

Immer an ersten Tag des Jahres hat der …ffentlichkeitsverweigerer J. D. Salinger Geburtstag Đ morgen wird er 85 Jahre alt

 

Von REINHARD HELLING

 

Nicht erschrecken: Dies ist kein Nachruf auf J. D. Salinger. Anlass ist vielmehr der 85. Geburtstag, den der Autor des Kultromans ăThe Catcher in the RyeÒ (1951) am Neujahrstag in seiner Waldhausfestung bei Cornish im US-Bundesstaat New Hampshire begeht. Dorthin hatte sich der 1919 in New York geborene Autor an seinem 34. Geburtstag zurŸckgezogen, nachdem ihm der Rummel um seine Person zu viel geworden war. In der Abgeschiedenheit von Cornish kamen 1955 auch seine Tochter Margaret Ann und 1960 sein Sohn Matthew zur Welt. Dem FamilienglŸck war aber nur eine kurze Zeit beschieden: 1967 lie§ sich der Dichter nach zwšlf Jahren von seiner Frau, der 15 Jahre jŸngeren Claire Douglas, scheiden. Heute lebt bei dem alten, fast tauben Mann die sehr viel jŸngere Colleen OŐNeill, die er in den achtziger Jahren kennen lernte.

 

Nach einigen turbulenten Jahren, in denen der šffentlichkeitsscheue Autor von seiner Ex-Geliebten Joyce Maynard und wenig spŠter von seiner eigenen Tochter mit autobiografischen GestŠndnissen der allgemeinen Besichtigung ausgesetzt war, eine Biografie sein Leben auszuleuchten versuchte und sogar seine Liebesbriefe bei Sotheby landeten, beziehen sich die wenigen Neuigkeiten, die es Ÿber den Einsiedler zu vermelden gibt, erfreulicherweise auf sein schmales, aber noch immer weltweit gelesenes Werk.

 

Das umfasst neben dem Roman drei BŠnde mit ErzŠhlungen, darunter ăFranny and ZooeyÒ und ăNine StoriesÒ. Die bis heute ungebrochene Wirkung seiner Prosa vor allem auf jugendliche Leser zeigen nicht nur die Vergleiche, die jedes Jahr wieder Neuerscheinungen, meist von DebŸtanten, in die NŠhe des Amerikaners rŸcken (in diesem Jahr waren Dirk Wittenborn, Mark Haddon und Luc’a Etxebarria dran), sondern immer wieder auch Umfragen, in denen Salinger ganz oben in der Gunst der Leser steht. In der 2002 vom ăBookmagazineÒ erstellten Liste ă100 Best Characters In Fiction Since 1900Ò musste sich Holden Caulfield, der 17-jŠhrige Ich-ErzŠhler aus ăDer FŠnger im RoggenÒ, lediglich Jay Gatsby geschlagen geben und verwies Nabokovs Humbert Humbert und JoyceŐ Leopold Bloom auf die PlŠtze drei und vier. Auch bei der Publikumsbefragung, die die BBC derzeit unter dem Titel ăThe Big ReadÒ veranstaltet, ist der ăCatcherÒ unter den Finalisten.

 

Auch bei Ebay zieht Salingers Name. Als bei dem Internet-Auktionshaus im Oktober 2003 ein Raubdruck seiner frŸhen Storys angeboten wurde, lieferten sich mehrere Bieter kurz vor Mitternacht eine hei§e Schlacht. Am Ende wechselte das Buch ăTwenty Two StoriesÒ fŸr mehr als 130 Euro den Besitzer. Kein schlechter Preis, wenn man bedenkt, dass man die 22 Texte in einer versteckten Ecke des Internets gratis lesen und kopieren kann.

 

In diesem Jahr, 52 Jahre nach der Erstveršffentlichung, hat Kiepenheuer & Witsch Salingers einzigen Roman erstmals nach dem US-Original Ÿbersetzen lassen. Dank der Arbeit des  Hamburger †bersetzers Eike Schšnfeld erfahrten deutsche Leser endlich, was wirklich im ăCatcherÒ steht Đ unzensiert, ungekŸrzt und in einer Sprache, die mich ăganz fertig macht, wenn ihr wisst, was ich meine.Ò Die Auflage der in drei Dutzend Sprachen Ÿbersetzten Bibel der Jugend betrŠgt heute mehr als 60 Millionen Exemplare, und noch heute erkennen sich Leser Ÿberall auf der Welt  in Holden Caulfield wieder. Wer ihm auf seiner Odyssee durchs vorweihnachtliche New York folgt, entdeckt hinter der harten Schale den sensiblen Kern, den Teenager, der angeekelt ist von der Verlogenheit der Erwachsenenwelt, aber voller Ideen und Hoffnung steckt. Anfang 2004 kommt Schšnfelds generalŸberholte Fassung auch als Rowohlt Taschenbuch (rororo 23539, 270 Seiten, 6.90 Euro) heraus Đ als Ersatz fŸr die lila gerahmte Heinrich-Bšll-Bearbeitung von 1962, die Generationen von SchŸlern zwangsverordnet lesen mussten.

 

Auch in Japan, wo Salinger sehr frŸh begeisterte Fans fand und selbst die nur in Zeitschriften veršffentlichten Stories in Buchform erschienen, hat sich Star-Autor Haruki Murakami (ăGefŠhrliche GeliebteÒ, ăNaokos LŠchelnÒ) des Romans als NeuŸbersetzer  angenommen.

Ob Salinger seinen Ehrentag feiert und ob der neunjŠhige Avery, der zehnjŠhrige Max und der 13-jŠhrige Gannon bei ihrem Gro§vater vorbeischauen, das wei§ nur das Geburtstagskind selbst. Seit er 1965 mit ăHapworth 16, 1924Ò seine letzte Geschichte im ăNew YorkerÒ veršffentlicht hat, schweigt er. ăIch schreibe nur noch zu meinem eigenen VergnŸgenÒ, diktierte er vor einem Vierteljahrhundert einem Reporter der ăNew York TimesÒ in den Block. Genauso strikt verweigert der Schriftsteller mit dem untrŸglichen GespŸr fŸr Kinder jedes Ansinnen, seine BŸcher zu verfilmen. KŸrzlich wurde bekannt, dass Steven Spielberg ăThe Catcher in the RyeÒ verfilmen wollte. Doch eine entsprechende  Anfrage blieb schon bei Salingers Agentur Harold Ober hŠngen. Dort wei§ man, dass Jerome David Salinger einen Wutanfall bekommen hŠtte.

 

(Zuerst erschienen in: Frankfurter Rundschau, 31. Dezember 2003)

 

 

 © 2003 Reinhard Helling

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