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DER ALKOHOL, DIE DICHTER & DIE LITERATUR










Niels Höpfner

 

Der Alkohol, die Dichter & die Literatur

Eine Dokumentation

 

 

Durst

Ich vertrockne

...

Die Sonnenfinsternis

Nicht zu vergessen

Rainald Goetz, "Kolik"

 

 

Gin und Orangensaft sind die besten Arzneien gegen

Alkoholismus, dessen wahrer Grund die Häßlichkeit ist

und die vollkommen verwirrende Sterilität des Lebens,

wie es einem verkauft wird.

Malcolm Lowry, "Durch den Panamakanal"

 

 

 

I

 

"Den nächsten Planeten bewohnte ein Säufer. Dieser Besuch war sehr kurz, aber er tauchte den kleinen Prinzen in tiefe Schwermut. – 'Was machst du da?' fragte er den Säufer, den er stumm vor einer Reihe voller Flaschen sitzen sah. – 'Ich trinke', antwortete er mit düsterer Miene. – 'Warum trinkst du?' fragte ihn der kleine Prinz. – 'Um zu vergessen', antwortete der Säufer. 'Um was zu vergessen?' erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte. – 'Um zu vergessen, daß ich mich schäme', gestand der Säufer und senkte den Kopf. – 'Weshalb schämst du dich?' fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen. – 'Weil ich saufe', endete der Säufer und verschloß sich endgültig in sein Schweigen."

Wie sehr auch Antoine de Saint-Exupérys Märchen-Prinzen der planetarische Zwischenstop vor seiner Erdenlandung befremdete, so dürfte es nur den der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung Hörigen irritieren, wenn offenbare Lebens- oder Todeselixiere des einen oder anderen Schriftstellers hier entkorkt werden. Nur ein auratisches Mißverständnis stünde dem entgegen. Und wie eine Literatur, die sich der Wahrheit verpflichtet weiß, kein Tabuthema kennt¹, so stehen auch nicht ihre Schöpfer unter Artenschutz.

Seit den Anfängen der Literatur ist auch Alkohol eine ihrer thematischen Facetten, da er von altersher zum menschlichen Leben gehört. In der Bibel liest man (Psalm 104, Vers 15) kurz und bündig: "Der Wein erfreue des Menschen Herz." Und selbstverständlich flossen schon in der Antike vinum und oinos : "Nunc est bibendum", prostet Horaz in einer Ode dem Leser zu, und bei Homer kann Odysseus den garstigen Zyklopen erst blenden, nachdem er ihn betrunken gemacht hat. Die Entstehung der Tragödie geht auf den Bacchuskult zurück. Und allein das Wort Symposion bedeutet ursprünglich ja nichts anderes als Trinkgelage.

Diese Tradition setzt sich in Deutschland fort in mittelalterlichen Trinkliedern, in Zechgesängen der Vaganten, überliefert in der Sammlung des Archipoeta (12. Jahrhundert) und in den "Carmina Burana"; vom 16. Jahrhundert an lösen deutschsprachige Trinklieder die lateinischen ab. In Frankreich feiert Rabelais wüst den Alkohol in seinem Roman "Gargantua und Pantagruel"; ein maßloser Zecher ist Shakespeares Falstaff. Zierlicher geht's dann wieder zu bei den deutschen Anakreontikern im 18. Jahrhundert, die –wie ihr antikes Vorbild Anakreon- den Wein und die Liebe besingen. Lessing, Goethe, Voss, Claudius, Simrock, Viktor von Scheffel schrieben ebenfalls Trinklieder, die große Verbreitung durch die studentischen Kommersbücher fanden.

 

*

Ungefähr bis Anfang des 19. Jahrhunderts erscheint Alkohol in der Literatur als Lustdroge und Freudenspender. Dann beginnt das Drama, wahrscheinlich, weil mit Beginn der Industriellen Revolution die Zeiten härter werden. Der erste Protagonist soll hier auf der vorläufigen Hinterbühne Amerika auftreten: Es ist der Dichter EDGAR ALLAN POE (1809-1849). Edgar Allan PoeSchon als 17jähriger Student begann er zu trinken, obwohl er sich, nach dem Zeugnis eines Kommilitonen, vor dem Alkohol ekelte und ihn bereits geringe Mengen in einen Rausch versetzten. Poes Kindheit war sehr unglücklich verlaufen: der Vater verließ die Familie, und nach dem frühen Tod der Mutter, einer Schauspielerin, wuchs der kleine Edgar bei Pflegeeltern auf.

Das Verhältnis zum wohlhabenden Pflegevater, der Poe anfänglich auch finanziell unterstützte, verschlechtert sich so sehr, daß Geldspritzen ausbleiben und Poe auch beim frühen Tod des Pflegevaters keinen einzigen Cent erbt. Autorenhonorare waren höchst miserabel in jener Zeit (heute sind sie nur miserabel, meistens), und so wird das Leben des Dichters zu einer einzigen grauenvollen Jagd nach dem Dollar- fürs Überleben bis zum nächsten Tag.

Seine Heirat 1836 scheint Poe psychisch stabilisiert zu haben, ein befreundeter Buchhändler jedenfalls notiert im folgenden Jahr: "Niemals habe ich bei ihm auch nur den geringsten Alkoholeinfluß bemerkt, oder daß er sich einem anderen Laster hingegeben hätte. Er war vielmehr einer der höflichsten, wohlerzogensten und intelligentesten Menschen, die ich bei meinen Reisen und Aufenthalten in verschiedenen Teilen der Welt kennengelernt habe."

Ein paar Jahre später (1843) klang es bei einem zweiten Zeitzeugen bereits anders: "Schon bei einem einzigen Glas von leichtem Wein, Bier oder Cider hatte er den Rubikon überschritten- es endete fast immer in Exzeß und Krankheit. Aber wie Coleridge kämpfte er sehr gegen diese Neigung, und ich möchte meinen, hätte er nach allen traurigen Erfahrungen und Entbehrungen ein Amt mit festem Gehalt bekommen, wäre er der literarischen Zwangsarbeit enthoben worden, dann hätte er sich davon befreien können, jedenfalls zu dieser Zeit noch."

Poe selbst beschönigte wohl seine Situation, als er 1848 schrieb, ein Jahr nach dem Tod seiner von ihm sehr geliebten Frau, durch den er einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten hatte: "Nach Gesellschaft verlangt mich nur, wenn ich vom Trinken angeregt bin. Nur dann gehe –vielmehr ging- ich in den Kreis meiner Freunde. Da diese mich selten, genaugenommen niemals anders als angeregt gesehen haben, meinen sie, ich sei immer so. Wer mich aber wirklich kennt, weiß es besser."

Während einer Vortragsreise erleidet Poe 1849 in Philadelphia einen Anfall von Verfolgungswahn und verbringt wegen Trunkenheit eine Nacht auf einer Polizeiwache. Ein paar Monate später, auf der Rückreise wiederum von einem Vortrag, findet man ihn in Baltimore als hilflose Person auf der Straße. Im Krankenhaus versinkt er in ein Delirium, in dem er sich nach Beschreibung des behandelnden Arztes "an phantastische und eingebildete Wesen wandte, die er an den Wänden sah, das Gesicht bleich, der ganze Körper mit Schweiß bedeckt". Einige Tage darauf stirbt Poe.

Zu seinem Nachlaßverwalter hatte Poe einen ehemaligen baptistischen Geistlichen bestimmt. Dieser sah in Poes Alkoholismus keine Krankheit, sondern nur Laster und Ausschweifung, und entstellte Poes Bild in der Literaturgeschichte nach Kräften, so daß Charles Baudelaire später erzürnt schrieb: "Gibt es in Amerika keine Polizeivorschrift, die Hunden das Betreten des Friedhofs verbietet?"

Wenn man heute in den Werken Edgar Allan Poes liest, für die das Unheimliche und Gespenstische charakteristisch sind, die eine surreale Wirklichkeitswelt antizipieren, dann ist kaum vorstellbar, daß ein nüchterner Kopf sie geschrieben haben könnte, vielmehr erscheint der Alkohol als ein unabdingbares kreatives Stimulans.

 

*

Eine ähnliche Katalysatorfunktion hatte er fast zur gleichen Zeit in der Alten Welt für den Komponisten und romantischen Dichter E.T.A. HOFFMANN (1776-1822). Auch Hoffmann entstammte einer unglücklichen, sehr früh in die Brüche gegangenen Ehe: der Vater, ein angesehener Königsberger Jurist, war Trinker, die Mutter, bei der das Kind aufwuchs, neigte zu psychopathischen Verhaltensweisen. Außerdem hatte es die Natur mit dem späteren Künstler nicht gutgemeint: zeitlebens blieb er gnomenhaft kleinwüchsig, dazu ein überproportional großer Kopf.

E.T.A. Hoffmann und Ludwig Devrient

Häufig notiert Hoffmann in seinem Tagebuch Trinkgelage- oder er zeichnet einfach einen Pokal, wobei ein Glas mit Flügeln wohl auf Champagner hindeutet. Ein Engagement als Kapellmeister verschlug Hoffmann nach Bamberg, wo er im Wirtshaus "Zur Rose" rasch ein Stammgast wird. Dazu die Biographin Gabrielle Wittkop-Ménardeau: "Hoffmann verbringt täglich mehrere Stunden in der 'Rose', einem vortrefflichen Gasthaus in Alt-Bamberg... Der Wirt ist mit der Kundschaft dieses Gastes sehr zufrieden, der so lange trinkt, bis er, den Kopf auf dem Tisch, einschlummert, und er gewährt ihm gern, tief in der Kreide zu stehen. Hier trifft der Dichter seine Freunde und lädt sie ein, doch meistens setzt er sich ganz allein in seinen Winkel, steckt sich seine lange Pfeife an und betrinkt sich stumm, Beute seiner Gespenster und Visionen. ...Hoffmann trinkt alles, was ihm vorkommt, außer Bier, das er als geist- und sellenloses Getränk verachtet, weil es beruhigt, beschwert und einschläfert. Die Wahrheit, die übrigens auch aus dem intimen Tagebuch hervorgeht, zwingt zu der Feststellung, daß er das war, was man unumwunden einen Säufer nennt.

Es wäre ein törichter Irrtum, wollte man auch nur einen Augenblick annehmen, er sei durch den Trunk zum Dichter geworden. Der Alkohol schreibt nicht für ihn, sondern schreibt in ihm und spielt gewissermaßen die Rolle des Mikroskops, das vorhandene, bisher nur nicht sichtbare Dinge erkennen läßt. ...Sieht man die Dinge unter diesem Gesichtspunkt, muß man zugeben, daß sein Genie viel dem Alkohol verdankt."

Hoffmann trinkt nicht nur aus Genuß, sondern vorrangig, um seine Phantasie anzuheizen, wie auch aus etlichen Bemerkungen in seinem Tagebuch hervorgeht, wenn er etwa im April 1812 notiert: "Abends mich mit Mühe heraufgeschraubt- durch Wein und Punsch."

1814 übersiedelt E.T.A. Hoffmann nach Berlin, wo die Weinstube "Lutter und Wegner" im Gendarmenmarktviertel durch ihn und seinen Zechgenossen Ludwig Devrient, den großen Schauspieler, legendär wird. Julius Eduard Hitzig, Freund und Biograph Hoffmanns, schreibt über ihn: "...so ging er, es mochte so spät sein, als es wollte, wenn alle anderen sich nach Hause begeben, noch in das Weinhaus, um dort den Morgen zu erwarten; früher in seine Wohnung zurückzukehren, war ihm nicht gut möglich.

Man denke hiebei aber nicht an einen gemeinen Trinker, der trinkt und trinkt aus Wohlgeschmack, bis er lallt und schläft; gerade das Umgekehrte war Hoffmanns Fall. Er trank, um sich zu montieren; dazu gehörte anfangs, wie er noch kräftig war, weniger; später natürlich mehr; -aber war er einmal montiert, wie er es nannte, in exotischer Stimmung, die, oft bei einer halben Flasche Wein, auch nur  e i n  gemütlicher Zuhörer hervorrufen konnte, so gab es nichts Interessanteres als das Feuerwerk von Witz und Geist und Glut der Fantasie, das er dann unaufhaltsam, oft fünf, sechs Stunden hintereinander vor der entzückten Umgebung aufsteigen ließ. ...Fremde, die nach Berlin kamen und ihn gern sehen wollten, suchten ihn, da seine Lebensweise bekannt war, immer in seinem Weinhause auf..."

Wie viele andere rümpfte auch Eichendorff in seiner Literaturgeschichte die Nase über Hoffmanns "Weinhausleben", während dieser darin wohl auch einen alternativen Protest sah, denn er ging, wie Hitzig bemerkt, "aus den Teesalons in das Weinhaus..., sich den Grundsatz aufstellend, daß, wenn man Kunstgenüsse haben wolle, man sie an öffentlichen Orten für sein Geld besser finde als in Privatzirkeln für beschwerliche Kratzfüße, und daß die Gesellschaft in der Weinstube vor allen übrigen den Vorzug habe, daß, wenn sie einem nicht gefiele, man weggehen könne, wenn man wolle, ohne daß es der Wirt übelnehme".

Als E.T.A. Hoffmann starb, hinterließ er bei "Lutter und Wegner" Zechschulden in der damals horrenden Höhe von 1116 Reichstalern. Der Wirt verzichtete darauf, sie einzutreiben, denn der Verdienst an seinem Stammgast, der zudem Neugierige scharenweise in das Lokal gelockt hatte, war üppig genug.

 

*

Nicht nur in Berlin gab es einen großen zechenden Dichter, sondern auch in Weimar: GOETHE. Ein Genußtrinker. Sein Biograph Richard Friedenthal: "Er trinkt wie stets täglich seinen guten Rotwein in großen Flaschen, Champagner, den schweren Würzburger Steinwein. ...Goethe trinkt auch als hoher Greis reichlich, schenkt ein aus großen, bauchigen Flaschen."

Zum Abendessen gehören gewöhnlich Goethe drei Sorten Wein: Goethe - ein Mann von Lebensart. Sohn August bleibt als Trinker früh auf der Strecke, die Lebensgefährtin & späte Ehefrau Christiane geht figürlich auf wie ein Hefekuchenteig und wird zum Gespött der Weimarer Gesellschaft, der Alte bleibt munter bis ins hohe Greisenalter - trotz (oder gerade wegen) einiger Bouteillen täglich: überlieferte Hauswirtschaftsbücher dokumentieren einen immensen Weinkonsum im Hause Goethe, der schon in jüngeren Jahren dichtete: "Frisch, der Wein soll reichlich fließen/ Nichts Verdrießlichs weh uns an..."

Goethe weiß, wovon er spricht, wenn er im "Faust", in "Auerbachs Keller", Mephisto geistige Getränke ad libitum herbeizaubern und alle grölend singen läßt: "Uns ist ganz kannibalisch wohl,/ als wie fünfhundert Säuen!"

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"Tränen: in Gottfried Kellers Leben sind sie nur ausnahmsweise... überliefert. An ihrer Stelle floß, wenn man der Legende glauben darf, der Wein." Dies schrieb der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg über seinen berühmteren Landsmann & Kollegen. Aber warum die vornehme Zurückhaltung? Die "Legende" hat durchaus Hand & Fuß, und für Kellers Alkoholismus gibt es genügend plausible Gründe, nicht bloß die üblichen Produktionszwänge und –hemmnisse beim kreativen Prozeß, nicht bloß eine ungeliebte Brotarbeit in späteren Jahren:

Gottfried Keller

GOTTFRIED KELLER (1819-1890), ein manisch-depressiver Charakter, war ein Muttersohn, und die Mutter, von der er nicht nur psychisch, sondern bis zum 42. Lebensjahr auch ökonomisch abhängig war, muß eine sehr dominante, wenn nicht gar tyrannische Frau gewesen sein.  Und auch auf Grund seiner Physis, die stark der E.T.A. Hoffmanns ähnelte, blieb Keller lebenslang wider Willen Junggeselle. Des öfteren verliebte er sich unglücklich in große dralle Frauen; eine endlich, nach dem Tod der Mutter, gefundene Braut beging Selbstmord.

Aus Verdruß über mißlungenes Liebeswerben treibt sich Keller 1846 in Gasthäusern herum, und beim Winterthurer Freischießen verprügelt er den Juristen und Publizisten Amman, was ihn noch lange in der Erinnerung freut: "Ich hatte doch einen guten Instinkt damals, und ich segne den Wein, der mich veranlaßte, dem widerlichen Ohrfeigengesicht sein Recht angedeihen zu lassen. Feig war er auch, denn er ist stärker als ich und ließ sich doch prügeln."

Kränkende Zurückweisungen kompensiert Keller mit übermäßigem Alkoholkonsum, woraus –wie bei seinem "Grünen Heinrich"- Raufereien resultieren. Dieses Verhaltensmuster wiederholt er immer wieder: "Bei dieser Gelegenheit muß ich Ihnen noch nachträglich gestehen, daß jenes blaue Auge, mit welchem ich einst bei Ihnen erschien, obgleich ich es abgeleugnet, dennoch von Prügeln herrührte. Ich hatte nämlich nicht nur den Schlivian geprügelt, sondern in der folgenden Nacht wieder einen, wegen dessen ich verklagt und von der Polizei um fünf Taler gebüßt wurde. In der dritten Nacht zog ich wieder aus, fand aber endlich meinen Meister in einem Hausknecht, der mich mit dem Hausschlüssel bediente, worauf ich endlich in mich ging. Es war eine Donnerstags-, Freitags- und Sonnabendsnacht, wo ich so mit gebrochenem Herzen mich umtrieb und anderen Leuten mir zur Erleichterung an den Köpfen kratzte."

Natürlich stellte Keller in reifen Jahren die Raufereien ein, aber er blieb ein Kneipengänger. Er sei, schrieb er einem Freund, "ein kleiner dicker Kerl, der abends 9 Uhr ins Wirtshaus und um Mitternacht zu Bett geht als alter Junggeselle".

Keller verelendet nicht durch den Alkohol, sondern bewältigt sein Problem, indem er, wie in kleinbürgerlich-bürgerlichen Kreisen nicht unüblich, zum Liebhaber eines guten Tropfens wird. Ja, er genießt sogar sein unfreiwilliges Junggesellentum: "Hier in Zürich ist jetzt ein hübsches Café auf der 'Meise'... Da sitzen wir in den schönen Sälen und trinken zum Andenken eine gute Flasche Gumpoldskirchner für 3 Franken 50 Rappen! Öfter als nötig ist! Das heißt, ich bin jetzt doch abends meistens zu Hause auf meinem Bürglibühel. Aber am Samstag abends und sonntags da bleib' ich in der Stadt, und dann sauf' ich für sieben Mann! Ich sag Ihnen! Und provoziere die besten Weine, daß die anderen Viecher, die Weib und Kinder haben, mit sauersüßen Mienen in die Tasche greifen, wenn sie mir, wie projektiert, die Schmiere nicht haben anwürfeln können."

Gottfried Keller sah seine Neigung zum Alkohol schließlich heiter-gelassen. Selbstironisch befand er über Fotografien von sich, daß sie "eher das Bild eines alten Vorsingers und Schnapsbruders vorstellen, als dasjenige des ersten Schöngeistes und arbitri elegantiarum des Jahrhunderts".

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Mit CHRISTIAN DIETRICH GRABBE (1801-1836) kommt der Elendsalkoholismus in die deutsche Literaturgeschichte. Zeitgenossen schildern den Dichter als einen abstoßend häßlichen Menschen. Ein verunglücktes Leben. Christian Dietrich GrabbeGeboren in der tiefsten Provinz, im westfälischen Detmold, als Sohn des hiesigen Zuchthausleiters; juristische Studien in Leipzig und Berlin, wo er seinen Monatswechsel für Spirituosen und Theaterkarten ausgibt; in Berlin gehört er auch zu E.T.A. Hoffmanns Zechkumpanen. Grabbe beschließt, Schauspieler zu werden und erhofft sich Protektion von Ludwig Tieck in Dresden. Als er dort ankommt, ist Tieck entsetzt über seine Talentlosigkeit und sein ungehobeltes Benehmen. Grabbe blitzt bei Tieck ab. Heimkehr nach Detmold, wo er den Winter 1823/24 mit alkoholischen Exzessen verbringt. Nach einem juristischen Examen bewirbt Grabbe sich vergeblich um die Stelle eines Amtsschreibers und um den Posten eines Archivrats, schließlich kommt er bei der Militärgerichtsbarkeit unter- die Rumflasche immer in Griffnähe. Neben seiner Brotarbeit schreibt er Theaterstücke, die in zwei Bänden erscheinen. Ein Exemplar geht an Goethe- der hat nie geantwortet.

Überhastet stürzt Grabbe sich in eine Ehe, die zur Strindberg-Hölle wird. Er gibt seinen subalternen Regierungsposten auf und flieht nach Frankfurt, wo er sich mit seinem Verleger Kettembeil überwirft, was im Alkohol ertränkt wird: "Wenn er sich erheben kann, so sitzt er schon am Morgen im Schwanen oder abends 'verwitterungsselig' unter zweifelhaften Kneipgenossen, die halb mit Mitleid, halb mit Grauen, halb belustigt die Explorationen dieses aus Trottelhaftigkeit und Geist gewürfelten Unikums... dieses verwüsteten verkommenen Genies an der Quelle erleben wollen."

Zerwürfnis auch mit dem Düsseldorfer Theaterdirektor Karl Immermann, dem Grabbes Rezensionen zu harsch sind. Rückkehr nach Detmold zum Sterben. Es ist der Lebenslauf einer manisch-depressiven Persönlichkeit, die ständig schwankt zwischen anarchischem Ausbruch und kleinbürgerlicher Anpassung.

Eduard Duller, der erste Biograph Grabbes, hat 1838 als Witwentröster vorsätzliche Unwahrheiten über den Alkoholismus des Dichters verbreitet: "Denkt euch eine Mutter, die ihrem Kinde von dessen viertem Lebensjahr an täglich betäubende geistige Getränke darbietet, und ihm des Nachts bei dem Schlafengehen solche vor das Bette setzt... Mag es grausam scheinen, daß ich diesen Schleier lüfte, die Grausamkeit dieses ersten Schicksals, welches Grabbe traf, ist größer, sie darf nicht verhüllt bleiben, wenn ich meine Pflicht gegen den Toten und die Zeitgenossen erfüllen soll." Grabbes Mutter bestritt diese Vorwürfe empört und glaubwürdig.

Aber unbestritten bleibt, daß Grabbe schon während seiner Gymnasialzeit erhebliche Mengen Alkohol trank. Otto Nieten, ein Biograph um 1900, über den jugendlichen Trinker: "Gewiß ist aber, daß ihm das eigene Wesen Pein schuf. Eine Lösung von diesem Druck... schenkte ihm eine schlimme Gabe aus Pandoras Büchse, schenkte ihm Dämon Alkohol. In den im Waldesschatten malerisch gelegenen Krügen lernte der junge Grabbe diesen seinen Todfeind kennen, und der sonst mißachtete Zuchtmeistersohn imponierte, wenn nun in kecken Improvisationen das verborgene Innenleben zutage trat, und er fühlte sich beglückt, wenn seine Eindrucksfähigkeit stärker und leichter ward. Die eingeborene Wildheit kam hinzu, um es in Trinkgelagen und mit allen anderen aufzunehmen und in der wüsten Seligkeit des Rausches ein mehr als tierisches Behagen zu finden. In dem doppelten physischen und seelischen Rausch fühlte der Dichter sich zugleich freier, größer und glücklicher. ...In dieser Trunkenheit und Berauschung erreicht der Phantast ein Entladungsgefühl, das ihm der einzig erträgliche Lebenszustand wird. ...Dabei wurde er wie zwischen Scylla und Charybdis hin- und hergeschleudert; der Alkohol mußte zur Arbeit animieren und wieder trübe Stimmungen vertreiben. Nie ließ ihn dieser Dämon los, und zu dem Druck des Schicksals gesellt sich Anteil und Schuld seiner schimpflichen Charakterschwäche."

Letzteres ist eine zeitbedingte Beurteilung, die ein Krankheitsbild nicht erfaßt. Kurz vor seinem Ende befindet sich Grabbe in einem erbärmlichen Zustand. Derselbe Biograph über die Düsseldorfer Zeit des Dichters: "Immermann gewöhnte ihm zwar wenigstens zeitweise den Morgenrum ab, aber in die Spelunke konnte er ihm nicht folgen. ...Der Schauspieler Karl Ellmenreich erzählt: 'Da saß Grabbe gespenstisch, hohl und ausgemergelt, in altmodischem, braunem Frack mit schwarzer Roßhaarkrawatte ohne Wäsche. Vor ihm stand ein Glas Wein oder ein Glas Grog. Seine Unterhaltung war voll von rohen Scherzen und Zoten, zynisch, trocken, exzentrisch.' –Es wirkt wie ein Satirdrama auf die Orgien, die... Hoffmann in tollem Überschwang mit Devrient gefeiert. Eine verzerrende Karikatur neben einem Gemälde von berauschender Farbenglut. Auf der Lebenshöhe stehende Menschen in dionysischem Rausch, zu intensivstem künstlerischen Genießen beschwingt- und in einer dunklen Winkelkneipe produziert sich Grabbe einer unedlen Neugier, tötet sich ab und vergiftet sich geflissentlich, um aus dumpfer Betäubung nicht zu erwachen. 'Aus dem Zauberquell des Weines sprudelt Schönes und Gemeines.'"

Eine "Natur in Trümmern" hat Immermann Grabbe genannt, und Heine nannte ihn –nicht ohne Bewunderung- "einen betrunkenen Shakespeare".

*

Ein Blick über die Grenzen, nach Frankreich. Einer der Dichter, die hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die moderne Lyrik prägen, ist PAUL VERLAINE (1844-1896). Und auch er ein ebenso unglücklicher Trinker wie Grabbe. Als "Alkoholiker mit lyrischem Katzenjammer" bezeichnet ihn der Schriftsteller Stefan Zweig, deutscher Herausgeber der Gesammelten Werke Verlaines (1922), in einer merkwürdig borniert moralisierenden Einleitung zum zweiten Band.

Paul Verlaine und Arthur Rimbaud

Und weiter Stefan Zweig: "Ein Einziges... ist Gefahr: die frühe Gewöhnung an den Alkohol in allen Formen. Verlaine, der Schwache, sich selbst immer Nachgebende, kann bei keinem Kaffeehaus, keinem Schank vorbei, ohne nicht rasch einen Absinth, einen Branntwein, einen Curaçao zur Anfeuerung zu nehmen, und die Trunkenheit treibt dann aus dem zarten Menschen eine sprunghaft böse Realität heraus. Er wird dann plötzlich zänkisch, wie Gottfried Keller..., und allmählich schwemmt der Absinth in stiller beharrlicher Arbeit alles Sanfte, Zarte aus dem schwachen Menschen heraus und entfremdet sich ihm selbst. ...'Le seul vice impardonnable', das einzige unverzeihliche Laster seines Lebens hat er selbst seine Trunkenheit und seine Trunkwut genannt. Und sie allein hat ihm den Boden unter den Füßen langsam weggeschwemmt."

Verschiedene Versuche, in bürgerlichen Berufen Fuß zu fassen, mißlingen, und auch eine hastig geschlossene Ehe scheitert gründlich. Verlaine lebt seine bislang latente Homosexualität aus mit Arthur Rimbaud, dem ungestümen Wunderkind. Beide kletten magnetisch aneinander in einer sadomasochistischen Beziehung. Stefan Zweig: "Zunächst treiben sie sich noch gemeinsam in Paris herum und trinken und reden, reden und trinken, nur daß Rimbaud, das Genie, der urkräftige und überkräftige dämonische Mensch, trinkt, um sich freier zu fühlen, um seinem Übermaß im Rausche gemäßer zu sein, indes Verlaine trinkt aus Angst, aus Reue, aus Melancholie, aus Schwäche. ...Rimbaud... wird der 'infernal époux', der teuflische Gatte, der Verlaine unterjocht wie eine Frau..."

Nach gemeinsamen Jahren in Londoner Kneipen dann in Brüssel die beiden Schüsse des angetrunkenen Verlaine auf Rimbaud, der mit einer Schramme davonkommt, aber Verlaine erhält eine zweijährige Gefängnisstrafe und wird für kurze Zeit fromm. Nach seiner Entlassung trifft er seinen geliebten Peiniger in Stuttgart wieder, wo Rimbaud als Sprachlehrer arbeitet. Das Melodram, das sich nun ereignet, schildert Stefan Zweig à la Stefan Zweig: "Neophyt der eine, Atheist der andere, haben sie das eine noch gemein- die Leidenschaft für den Trunk, und so sprechen und trinken sie zusammen bis in die tiefe Nacht. Zeuge des Bekehrungsversuches ist niemand gewesen: man kennt nur sein tragisches Ende. Im Heimwandern geraten die beiden Trunkenen in Streit, und am Ufer des Neckar, im flutenden Mondlicht der Mitternacht schlagen die beiden –ein grandioser Augenblick der Literaturgeschichte!- schlagen die beiden größten Dichter Frankreichs mit Stöcken aufeinander los. Der Kampf dauerte nicht lang. Rimbaud, dieser athletische, kräftige Bursche, entledigt sich leicht des nervösen, in Trunkenheit schwankenden Verlaine. Ein Hieb über den Kopf wirft ihn hin, blutig und ohnmächtig bleibt er am Ufer liegen. Es war ihre letzte Begegnung."

Verlaine setzt sein Boheme-Leben fort, "...und allmählich schwemmt der Alkohol die Frömmigkeit aus Verlaines Dichtung wieder weg. Die greise Mutter macht noch vergebliche Versuche, ihn zu retten; 1885 kauft sie ein Gut, um mit ihrem Sohn ein zurückgezogenes Leben zu beginnen, aber der Haltlose versäuft sich in den bäuerlichen Kabaretts und begeht dann in der Trunkenheit sein letztes, sein schmählichstes Delikt: er wird gewalttätig gegen seine fünfundsiebzigjährige Mutter und deshalb vom Tribunal zu Vouziers zu einem Monat 'wegen Gewalttätigkeit und gefährlicher Drohung' verurteilt."

Nach dem Tod der Gluckenmutter, die in ihrer Sohnesliebe Verlaine zeitlebens als overprotected child dominierte, vegetiert er, ein Original mit Faunskopf, im Pariser Quartier Latin als Penner & Dichterfürst, verachtet von der KunstBourgeoisie, die erst wieder, urplötzlich, bei der Beerdigung auftaucht und den im mitleidigen Hurenbett Verstorbenen unter Krokodilstränen feiert.

*

Paul Verlaine ist noch Zeitzeuge einer literarischen Richtung gewesen, die –in ihrer reinsten Form- um 1880 in Frankreich entstand: dies war der Naturalismus. Er trieb die Wirklichkeitserfassung des Realismus  weiter, indem er bevorzugt Niedrigkeit & Häßlichkeit des alltäglichen Lebens darstellte, unter dem Einfluß von Milieutheorie und Darwins Vererbungslehre. Das Industrieproletariat provozierte eine Arme-Leute-Literatur, wobei thematisch auch nicht der alkoholische Dunstkreis ausgespart blieb. Der führende Kopf der Naturalisten war, als Romancier & Theoretiker, Émile Zola. 1877 erschien sein Skandalroman "L'Assomoir" (der bezeichnendste deutsche Titel von mehreren: "Die Schnapsbude"), in dem er die Verheerungen des Alkohols bei einer Arbeiterfamilie schildert, zweifellos angeregt von der Erzählung "Germinie Lacerteux" (1865) der Brüder Goncourt. In seiner Untersuchung  "Alkohol im französischen Naturalismus – Der Kontext des Assomoir" (Bonn 1991) hat Willi Hirdt die Problematik umfassend dargestellt. Auch im europäischen naturalistischen Drama jener Zeit bildet Alkoholismus ein Hauptthema, so in Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" (1889) und in Maxim Gorkis "Nachtasyl" (1902), und er bleibt ein Thema bis zur Machtergreifung der nationalsozialistischen Saubermänner, zum Beispiel in Alfred Döblins 1929 erschienenem Roman "Berlin  Alexanderplatz", der "Geschichte von Franz Biberkopf".

 

 

 

II

 

Im 20. Jahrhundert scheint Amerika das literarische Trinkerzentrum zu sein. Der sozialkritische Schriftsteller UPTON SINCLAIR (1878-1968) veröffentlichte 1956 sein Buch "The Cup of Fury", das 25 Jahre später auf deutsch unter dem Titel "Becher des Zorns" erschien, und dieses Werk bezeichnete der Autor selbst als "tragische Chronik eines halben Jahrhunderts vom Alkohol verzerrter und gequälter amerikanischer Schöpferkraft".

Upton Sinclair

Obwohl im familiären Umfeld seiner Jugendzeit der Alkohol in Strömen floß, beeinflußte dies Upton Sinclair nicht, sondern er blieb strikter Anitalkoholiker (vielleicht brachte er es dadurch zum Methusalem von 90 Jahren). Als trockener Moralist focht er bereits 1931 in seinem literarisch schwachen Roman "Alkohol" für die Prohibition, und im "Becher des Zorns" erscheint seine Polemik noch wesentlich schärfer. Bisweilen ereifert er sich unangenehm wie ein beflissener Heilsarmist, und man hat den Eindruck, daß der –auch durch die beiden Bücher- selbsterrichtete Schutzwall gegen den Alkohol äußerst fragil war.

Nicht ohne Selbstgerechtigkeit, wie es scheint, beschreibt Sinclair sein eigenes Verhältnis zum Alkohol: "Ich habe so viele andere Arten des Rausches verspürt- die Naturbetrachtung, die Lektüre großartiger Gedichte, das Anhören von Musik, und, vor allem, das Streben nach und das Erlangen von Wissen, daß ich nie das geringste Interesse am Alkohol hatte. Als Jugendlicher trank ich an manchen Sonntagen ein Schlückchen Abendmahlswein; es war Rotwein, glaube ich, aber ich kann mich nicht an den Geschmack erinnern. Auf jeden Fall waren meine Gedanken religiöser Art, wenn der Wein meine Lippen netzte, und nicht die eines Feinschmeckers. ...Mein ganzes Leben lang konnte ich von mir sagen, daß ich 'ohne Alkohol trunken' war."

Im "Becher des Zorns" schildert Upton Sinclair –als abschreckende Beispiele- die Trinkerkarrieren einiger bedeutender Kollegen, die seinen Lebensweg kreuzten. Am Anfang steht sein Freund JACK LONDON, geboren 1876, Autor von Abenteuer-Romanen wie "Wolfsblut", "Der Seewolf" und "Lockruf des Goldes": Jack London"Es hatte alles begonnen, als er fünf Jahre alt war –so erzählte er- und aus dem Krug mit Bier getrunken hatte, den er zu seinem auf den Feldern arbeitenden Stiefvater trug. Mit fünf Jahren hatte sich Jack London besinnungslos betrunken!... Mit zehn Jahren zog er durch die Straßen von Oakland und warf Zeitungen vor die Hauseingänge. Daran war nichts besonders Aufregendes, sagte er; aber wenn er in die Kneipen ging, dort fand er Anregungen jeder Art. Männer lärmten, lachten laut, alles war großartig und herrlich, und manchmal gab es Prügeleien. Selbst die Betrunkenen, die über die Tische gesackt waren oder auf dem mit Sägemehl bestreuten Fußboden lagen, erschienen ihm verwegen und voller Zauber. Kneipen waren die Plätze, wo sich Männer kennenlernten, wo sie Geschäfte abschlossen und sie mit einem schnellen ruckartigen Sturz des Schnapsglases besiegelten.

Dann, mit vierzehn, arbeitete Jack auf einem Schiff im Hafen. In der Kabine begann er ein Wetttrinken mit zwei Männern. Er trank Glas auf Glas mit ihnen, und das Ergebnis war, daß die zwei Männer unter den Tisch rutschten, während Jack, der damals noch ein Junge war, an Deck gehen und dort herumlaufen konnte. Das machte ihn außerordentlich stolz... Jack arbeitete beim Fischereischutz; und sowohl während als auch nach der Arbeitszeit stand er gegen die gefürchtesten Trinker seinen Mann- das war 'Ehrensache'... Von diesem Zeitpunkt an trank er bei jeder Gelegenheit; er begann das Interesse am Essen zu verlieren. Morgens wachte er mit zitternden Händen auf, und sein Magen fühlte sich auch nicht besser an. Er brauchte ein ganzes Glas Whisky, um auf die Beine zu kommen..."

Jack London hat sein Lebensproblem in dem 1913 erschienenen autobiographischen Roman "John Barleycorn. Alcoholic Memoirs" (deutscher Titel: "König Alkohol") mit schamloser Ehrlichkeit und literarisch stringent dargestellt.

John Barleycorn (auf deutsch: Hans Gerstenkorn) ist im angloamerikanischen Volksmund ein Scherzname für Alkohol. In seinem Roman will Jack London zeigen, daß er nicht durch seine Veranlagung, sondern durch Umwelteinflüsse zum Trinker wurde, und außerdem liegt ihm an einer Schilderung der "Auswirkungen des Alkohols auf den normalen Durchschnittsmenschen".

Wer sich auf eine Kumpanei mit John Barleycorn einläßt, begibt sich in ein ambivalent-paradoxes Verhältnis zu ihm: "Sein Weg führt zur nackten Wahrheit und zum Tod. Er schenkt Erkennen und wirre Träume, er ist der Feind des Lebens und der Lehrer einer Weisheit, die jenseits des menschlichen Vorstellungsbereichs liegt."

Wie sehr auch Jack London der Alkohol abstieß, seine Anziehungskraft war größer, was vom abhängigen Gewohnheitstrinker nonchalant geleugnet wird: "Leider kann ich nicht die Bekehrung eines Säufers berichten. Ich war nie ein Säufer, und ich bin nicht bekehrt worden... Nein... ich trinke weiter, wenn ich Gelegenheit dazu habe. Alle Bücher von mir auf den Regalen, alle Gedanken der großen Denker, von meinem persönlichen Temperament beleuchtet, zur Hand, beschloß ich kühl und wohlüberlegt fortzufahren, wie ich es jetzt gewohnt war. Ich wollte trinken- nur bedächtiger, vorsichtiger als bisher. Nie mehr wollte ich einem wandernden Feuerbrand gleichen..."

Jack London löste in seinem Leben dieses Versprechen nicht ein, sondern trank hemmungslos weiter und beging 1916, auf dem Gipfel seines literarischen Ruhms, Selbstmord.

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Den um eine Generation älteren Zeitgenossen Jack Londons AMBROSE BIERCE (1842-1914) beschreibt Upton Sinclair in seiner Trinker-Galerie folgendermaßen: "Er war ein überaus fruchtbarer Schriftsteller, seine gesammelten Werke füllten zwölf dicke Bände. Seine Kriegsgeschichten waren realistisch und bemerkenswert! Ambrose Bierce Seine Philosophie war zerstörerisch. In The Devil's Dictionary, einem der bissigsten Bücher, die jemals geschrieben wurden, fand er Vergnügen an Definitionen wie dieser: 'Glück- ein angenehmes Gefühl, das entsteht, wenn man das Unglück anderer betrachtet.'

Bierce ist von seinem Zyniker-Kollegen Henry Mencken mit diesen Worten porträtiert worden: 'Was ihn am Leben am meisten erfreute, war das Schauspiel menschlicher Feigheit und Torheit. Den Menschen als verstandbegabtes Wesen plazierte er irgendwo zwischen dem Schaf und dem gehörnten Vieh und als Helden irgendwo unterhalb der Ratten... Bisher habe ich in diesem Leben keinen konsequenteren Zyniker als Bierce getroffen.'

Bierce füllte die Lücken in seiner Welt durch Trinken aus; und doch half ihm seine strotzende Gesundheit bis ins siebzigste Lebensjahr- ein außerordentliches unglückliches Jahr. Er hatte jenes Stadium des Alkoholismus erreicht, wo das Leben zur Qual wird. Und in dieser Zeit der Seelenqual wählte er einen merkwürdigen Weg, um sein Leben zu beenden: er brach nach Mexiko auf -damals ein Inferno von Krieg und Banditentum- und starb dort auf eine unbezeugte und immer noch unbekannte Weise. 'Dort marschierte er –wenn man der Legende glauben darf- mitten in die eben ausgebrochene Revolution', sagt Mencken, 'und ließ sich erschießen...'"

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Ein ähnlich autodestruktiver Charakter muß F. SCOTT FITZGERALD (1896-1940), F. Scott FitzgeraldAutor der Romane "The Great Gatsby" und "The Last Tycoon", gewesen sein. Über ihn weiß Upton Sinclair zu berichten: "Wir sprachen über F. Scott Fitzgerald, einen glänzenden Stern im Jazz-Ära-Kaleidoskop der Alkoholschmuggler, des hausgebrannten Gins und der Backfische. Scott und Zelda, seine Frau, wollten Vergnügen, und sie wollten es schnell. Sie lebten schnell und starben jung- Zelda in einer Heilanstalt, Scott unter den Qualen des Alkoholismus. Seine Freunde nannten ihn 'F. Scotch Fitzgerald'. Alkohol war das zentrale Thema seines Lebens- und zynische, wirre und tragische Trinkerei war ein zentrales Thema in seinen Büchern, die auf Alkoholströmen dahindümpeln. Er war ein großer Künstler, der vom Schnaps in ein Studienobjekt für Pathologen verwandelt wurde."

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Mit Sinclair Lewis beginnt die Reihe der amerikanischen Literaturnobelpreisträger, die dem Alkohol verfallen waren, und sie wird sich fortsetzen mit Eugene O'Neill, William Faulkner und Ernest Hemingway. (John Steinbeck trank zwar auch gern, wohl aber kaum ständig und maßlos. Immerhin schaffte er es, das seiner Frau gegebene Versprechen zu halten, den Nobelpreis nicht betrunken entgegenzunehmen.) 

Über SINCLAIR LEWIS (1885-1951), den Erfinder der amerikanischen Spießbürgerfigur Babbitt, Sinclair Lewis schreibt Upton Sinclair: "...es war genauso wie bei Jack London: Der Alkohol hat ihn kaputtgemacht... der Liter Weinbrand pro Tag, der Schüttelfrost, das Dahindämmern, das Abschwören, die Wein-Phase, das ruhelose Umherziehen, das Ausweichen vor Freunden und die Suche nach Frieden, wo kein Frieden ist, das Nachlassen der schöpferischen Kraft und das endgültige Delirium."

Ein amerikanischer Literaturprofessor über Sinclair Lewis, der die letzten Monate seines Lebens in Europa verbrachte: "Sobald er das Manuskript fertig hatte, begann er zu trinken, bis ihm sein Arzt aus Florenz den Alkohol verbot. Als ich im April zu ihm stieß, trank er Unmengen Rotwein... Als der August kam, trank er nur noch Bier, aber er hatte bereits zwei schwere Herzanfälle hinter sich und hätte noch nicht einmal das anrühren sollen.

Ich vermute, daß in drei Jahrzehnten Hunderte von Leuten Sinclair Lewis betrunken gesehen haben; zweifellos hat er sich selbst zu einem weitbekannten öffentlichen Spektakel gemacht. Ich kann nicht sagen, was ihn während seiner kreativen Jahre aufrecht hielt; aber ich weiß, daß er an deren Ende –mit dem Rücken zur Wand, sich betrunken oder nüchtern selbst ins Auge sehend- nicht zurückzuckte. Da spielte eine ausgeprägte Unbekümmertheit hinein. Er trank nicht, weil er unglücklich war und Trost brauchte; er war auch nicht das, was man einen Trunkenbold nennen würde. Er war kein desillusionierter Scott Fitzgerald, der wie unter Zwang trank. Es mag nicht viel Freude in dem gewesen sein, was... (Sinclair Lewis) tat, aber da war immer noch etwas kühn Herausforderndes."

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Im Nachruf des Time-Magazins auf den amerikanischen Dramatiker EUGENE O'NEILL (1888-1953) findet sich angemerkt, "seine Seereisen wurden von homerischen Schnapsrekorden an Land unterbrochen, von einer Periode als Stadtstreicher".

Schon 1932, vier Jahre vor der Verleihung des Nobelpreises, heißt es in einem frühen Porträt über O'Neill:Eugene O'Neill "Vor Jahren war er ein begabter Trinker. Es gab nämlich Zeiten, in denen er bei Jimmy the Priest vor dem Spundloch eines Whiskeyfäßchens schlief, und wenn Jimmy, der Besitzer, am nächsten Morgen zur Arbeit kam, entdeckte er, daß ein Achtel des Fäßchens ausgetrunken war... Die beliebteste Schnapsmarke der Bruderschaft... war außer dem Frühstückswhiskey der Bénédictine, und zwar gleich aus Bechern getrunken. Aber solche Hochgenüsse waren selten und Notbehelfe an der Tagesordnung. Alkohol mit Kampfer gemischt zeigte –wenn man sich an den Geschmack gewöhnt hatte- eine angenehme Wirkung. Auch mit Wasser verdünnte Möbelpolitur hatte ihre Vorzüge. Und es gab Tage, wo sogar Methylalkohol in kleinen Dosen unter Sarsaparilla-Sprudel gemischt, mit einem Hauch Feuerzeugbenzin für das gewisse Aroma in den Augen der Brüder gut genug war für jeden Mann, der kein Schlappschwanz war...

Vor vier oder fünf Jahren hat er dem Alkohol allerdings abgeschworen und hat das mit puritanischer Größe und Beharrlichkeit durchgehalten. Wie viele reformierte Trinker, betrachtet er das Glas Wein jetzt eher mit erhabenem Groll und ist bei Gelegenheit nicht abgeneigt, leidenschaftliche Tiraden gegen den Wein und seine Übel in die Welt zu setzen."

O'Neills Leben verlief nicht ohne persönliche Tragik: seine beiden Ehen wurden geschieden; ein Sohn war drogenabhängig, der andere brachte sich um; auch O'Neill unternahm einen Selbstmordversuch; und schließlich wurde er noch ein Opfer der Parkinsonschen Krankheit. Nur zu verständlich erscheint da der Griff zur betäubenden Flasche. Die Erinnerung an seine wüsteste Trinkerzeit in der Kneipe von Jimmy the Priest hat Eugene O'Neill jedoch grandios verarbeitet in seinem Schauspiel "Der Eismann kommt": hier weitet sich der Mikrokosmos des Säufers in einer Schnapshöhle zum Welt-Theater.

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Upton Sinclair outet in seinem Trinker-Report noch den amerikanischen Kurzgeschichtenerzähler Sherwood Anderson (1876-1941) und den amerikanischen Romancier Theodore Dreiser (1871-1945), aber William Faulkner (1897-1962) und Ernest Hemingway (1899-1961) finden keine Erwähnung, wohl weil beide noch lebten, als "The Cup of Fury" 1956 erschien.

Peter Nicolaisen schreibt in seinem Buch über WILLIAM FAULKNER, den literarischen Chronisten der Südstaaten, wo auch die Heimat des Bourbon ist:"Faulkner trank regelmäßig; ihm war das Trinken eine tägliche Gewohnheit und zugleich bei vielen Gelegenheiten eine Möglichkeit zur Flucht- vor anderen Menschen, vor dem Druck der Arbeit, vor den lästigen Pflichten aller Art. ...daß Faulkner zu exzessivem Trinken neigte, steht außer Frage. Wenn er sich entschieden hatte, für eine gewisse Dauer zu trinken –gewöhnlich plante er solche Phasen im voraus-, 'legte er sich einen Whiskyvorrat an und zog sich, nach einem Stadium der Ausgelassenheit, in sein Bett zurück, wo er weitertrank, bis er einschlief oder in einen Dämmerzustand versank. Wieder bei Bewußtsein, trank er weiter, bis er nach Tagen und Nächten langsam in die Welt zurückkehrte'. :William Faulkner Häufig waren Entziehungskuren notwendig, doch oft stand Faulkner die Phase der Entwöhnung auch mit eigener Kraft durch. ...Gibt es eine Erklärung für Faulkners übermäßiges Trinken?  ...sicher ist, daß Faulkner durchweg mit der Absicht trank, jegliches Bewußtsein auszulöschen. Nicht selten erscheint seine Art des Alkoholkonsums wie ein Akt der Selbstverleugnung und läßt einen an seine vehemente Diskreditierung der Biographie des Künstlers denken... Es ist immerhin denkbar, daß er den Alkoholrausch als eine besonders wirksame Möglichkeit betrachtet hat, sich der Welt auf seine Weise zu entziehen."

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"Der Alkohol in Leben und Werk des Schriftstellers Ernest Hemingway" lautet der Titel einer Dissertation, die Claudia Wankmüller-Kiefer 1989 an der medizinischen Fakultät der Universität Tübingen vorlegte. Die spannende Untersuchung beschäftigt sich mit der Spiegelung von Hemingways alkoholischem Trinkverhalten in seinem literarischen Werk und stellt den Lebenslauf des Autors unter tiefenpsychologischen Aspekten dar.

Ernest Hemingway

ERNEST HEMINGWAY entstammte einem bürgerlichen Middle-Class-Elternhaus, wo Pflicht & Ordnung herrschten. Ein geliebter schwacher Vater und eine dominante Mutter, die den kleinen Ernest in Mädchenkleidern aufwachsen ließ und zum Zwilling seiner älteren Schwester machte.

Im Alter von 18 Jahren lernte Hemingway, fern vom abstinenten Elternhaus, zunächst leichtere Alkoholika kennen: Rotwein und Bier, das gehörte zur Freiheit des Erwachsenseins, aber nur im Freundeskreis, in der Freizeit, nie bei der Arbeit- Schnaps ist Schnaps, und Dienst ist Dienst.

Bis Ende der zwanziger Jahre sah Hemingway im Alkohol für sich ausschließlich ein Genußmittel. Ab 1930 änderte sich dieses Trinkverhalten: Alkohol nachts als Schlafmittel und schon morgens Champagner oder Wein. Dazu Hemingway selbst: "Ich war eintausendfünfhundert und siebenundvierzig mal in meinem Leben betrunken, aber nie am Morgen."

Niemals hätte (und hat) er einen Kontrollverlust zugegeben, der eine empfindliche Störung des idealen Selbstbildes gewesen wäre, und so grenzte er sich auch lebenslang streng ab von den rummies, den Säufern.

Erste Leberschäden 1937, da  war Hemingway 38 Jahre alt. Ungezählte harte Drinks, um die grauenvollen Eindrücke des spanischen Bürgerkriegs ertragen zu können. 1942-44 führte Hemingway einen privaten "U-Boot-Krieg", begleitet von erneutem schweren Trinken. 1945 Rückkehr nach Amerika und vergebliche Versuche, das Trinken durch festgelegte Rituale zu reduzieren. Nach 1950 konnte Hemingway ohne Alkohol nicht mehr leben, was sich durch seinen Flugzeugunfall 1954 noch verschärfte: nun konnte er auch nur noch schreiben, wenn er unter Alkohol stand. Trinken ist zum Selbstzweck geworden.

Die genannte Autorin konstatiert in ihrer Arbeit: "In Hemingways Geschichten und Romanen wird auffallend viel getrunken. Bei der Analyse der einzelnen Personen werden verschiedene Trinkmuster und Bedeutungen erkennbar: Die idealen Figuren haben keine Probleme mit sich selbst oder mit dem Alkohol. Sie trinken je nach äußeren Umständen mäßig bis viel, ohne Überlegungen anzustellen und beherrschen das Trinken in jedem Augenblick. Für sie hat Alkohol eine soziale Funktion und die Funktion eines wertvollen Genußmittels wie Essen oder die Landschaft, in der man lebt. Die Idealfiguren wissen um die Funktion des Alkohols, haben ihn wohl –vielleicht früher- schon angewendet, aber brauchen ihn normalerweise nicht.

Einige Figuren sind traumatisiert durch ihre Vergangenheit im Laufe ihres Lebens an einem toten Punkt angelangt. Sie haben Schwierigkeiten mit sich selbst und ihrer Lebensgestaltung und wissen nicht, wie sie ihre Schwierigkeiten meistern sollen. Sie brauchen Alkohol zur Ablenkung und wollen mit Trinken das unangenehme Gefühl der Langeweile und des Lebensüberdrusses betäuben. Sie sind in einer Sackgasse angelangt nicht durch das Desaster einer Sucht, sondern infolge ihrer falschen Lebenseinstellung. ...Diese Leute trinken, um Erleichterung bei bestimmten psychischen Problemen zu finden. ...Verfolgt man die Trinkmuster dieser Helden nach der Entstehungszeit der Romane, lassen sich... Veränderungen feststellen: Im Laufe der Zeit trinken die Helden immer mehr."

Und ebenfalls analog zur eigenen Trinker-Karriere glorifiziert Hemingway im Frühwerk den Alkohol, hat zu ihm eine hedonistische Einstellung. Später zeigen seine Helden Skrupel im Umgang mit Alkohol, vergewissern sich immer wieder ihrer Unabhängigkeit von ihm, woraus man auf unbewußte Abwehrmechanismen auch des Autors schließen kann, der chronische Alkoholiker nur als kontrastierende Nebenfiguren zuläßt.

Hemingway ist eine hochgradig narzißtische (und also leicht kränkbare) Persönlichkeit gewesen, die sich schreibend, kreativ ein ideales Selbstbild phantasierte und Allmachtsgefühle auf der Jagd auslebte. Als dies nicht mehr funktionierte, auf Grund physischen Verfalls, geriet Hemingway 1959 in eine schwere depressive Verstimmung mit Wahnvorstellungen, möglicherweise im Sinne einer metalkoholischen Psychose. Er begeht Selbstmord –wie der Vater- nach erfolgloser psychiatrischer Behandlung mit Elektroschocks, indem er sich mit einem Jagdgewehr erschießt.

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Exkurs: Daß es in Zusammenhang mit Alkoholismus häufig zum Selbstmord kommt, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Jack London und Ernest Hemingway sind keineswegs die beiden einzigen Schriftsteller, die als Alkoholiker sich umbrachten, wohl aber die bekanntesten. Erinnert sei noch an den polnischen Romancier MAREK HLASKO (1934-1969), Marek Hlaskoder in seiner Erzählung "Die Schlinge" die Zerstörung durch Alkohol schildert und an den österreichischen Lyriker JOSEF WEINHEBER (1842-1945), der in einem Brief –nicht ohne Weinerlichkeit- über sich schrieb: Josef Weinheber "Ich leide ja nicht nur an einem Hang zum Trinken, sondern bin seelisch krank, falle von einer Krise in die andere, zwischen dem Streben zum Guten und einem unseligen Trieb, mich selbst zu zerstören, hin- und hergeworfen... Dabei bin ich mir meines verachtenswerten Zustandes wohl bewußt..."

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Vier amerikanische Literaturnobelpreisträger und etliche andere amerikanische Autoren des 20. Jahrhunderts weisen das Vollbild eines Alkoholikers auf.² Abgesehen von der jeweils persönlichen Disposition und individuellen Biographie, begünstigen anscheinend die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA die Neigung zum Alkoholismus. Mutmaßlich wäre da zu nennen: ein wahrscheinlich von der Prohibition verursachtes kollektives Trockenheits-Trauma (das sich heute auch in skandinavischen Ländern beobachten läßt, wo Alkohol durch den hohen Preis zwangsläufig rationiert ist); dann eine schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts durch Werbung und Film erreichte und allgemein höchstverbreitete Akzeptanz von Alkohol (zwei, drei Gas Vermouth bereits vor dem Lunch galten & gelten als durchaus gesellschaftsfähig), ja, geradezu ein gesellschaftlicher Zwang zum Alkoholkonsum (dem sich zu entziehen, auf Partys beispielsweise, Abstempelung zum Außenseiter bedeutet); begünstigend aufs Trinken dürfte auch ein amerikanischer Männlichkeitswahn gewirkt haben (zu dem harte Drinks –wiederum nach dem Ideal von Werbung und Film- gehören), der sich seit Wildwest-Tagen bis zu den Kriegssiegen jüngeren Datums anscheinend stetig entwickelt hat; und schließlich darf nicht der durch brutalen Konkurrenzkampf verursachte Streß in einer extremen Leistungs- & Ellbogengesellschaft vergessen werden, der sicher den Griff zur Flasche gefördert hat & fördert. In neuerer Zeit allerdings sind Mitteilungen über Alkoholexzesse transatlantischer Schriftsteller rar geworden (vielleicht, weil sie insgeheim stattfinden?). Charles Bukowski An der öffentlichen Trinkerfront hielt zuletzt ziemlich einsam die Stellung, in Wort & Bild, der in Andernach am Rhein geborene Deutschamerikaner CHARLES BUKOWSKI (1920-1994).

 

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Die europäische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts kennt relativ wenig legendäre Trinker-Schriftsteller, obwohl die politischen Zeitläufte es nahelegten. Der "große Durst" bleibt ein amerikanisches Spezifikum.

Bei den angelsächsischen Vettern wären zwei Dichter zu nennen: der Waliser DYLAN THOMAS (1914-1953), der mit seiner kryptischen Lyrik und dem Hörspiel "Unter dem Milchwald" zu Weltruhm gelangte, und der Ire BRENDAN BEHAN (1923-1964), der als Dramatiker hervortrat.

Um Geld zu verdienen, aber auch, um seinen Ruhm zu mehren, unternahm Dylan Thomas Dylan Thomasvier Vortragsreisen nach Amerika, auf Einladung eines gewissen John Malcolm Brinnin, der Leiter eines Literaturzentrums in New York war. Der Gastgeber veröffentlichte später ein Buch "Dylan Thomas in Amerika", das nicht gerade von der feinen englischen Art war, und schreibt dort mit heuchlerischem Erschrecken über den Dichter: "Er hatte zu schnell und zuviel getrunken, und wenngleich ich mittlerweile keiner weiteren Beweise für seine unglaubliche Aufnahmefähigkeit bedurfte, merkte ich doch, daß er die Auswirkungen dieses abendlichen Gelages deutlicher verspürte als die der anderen seit seiner Ankunft. Das Kinn fiel ihm auf die Brust... und er schlief, bis die Zigarette seine Finger verbrannte und ihn hochschrecken ließ... Der makelloseste Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts- hier saß er, ein trauriges Wrack alkoholisierter Erschöpfung, schwarzzüngig und berauscht von der rettenden Flasche des Heils, unfähig zu eigenen Gedanken, unfähig, sich selbst zu erkennen..."

Dylan Thomas' Lesungen waren ein triumphaler Erfolg. Die Menschen drängten sich nicht nur in den Vortragssälen, um ihn zu hören, sondern drängten auch in die Bars, um ihn zu sehen: der Dichter als Jahrmarktsattraktion.

Wie schon Poe stirbt auch Dylan Thomas während einer Vortragsreise, plötzlich und überraschend. Freunde und Bewunderer veranstalteten eine Geldsammlung für seine Frau und seine Kinder.

 

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Der Mann von der Insel, wo Ale und Whiskey fließen, Brendan Behan, ist ein Energiebündel gewesen, kein schlappes Kind von Traurigkeit, ein Ire, wie er im Bilderbuch steht: aufgewachsen in den Slums von Nord-Dublin, katholisch und äußerst antiklerikal, natürlich leidenschaftlicher Republikaner und also I.R.A.-Rebell, was ihn hinter englische Gitter brachte, und ein begnadeter Säufer vor dem Herrn.

Rae Jeffs, die eine Druckfassung des zweiten Teils der von Behan auf Band gesprochenen Autobiographie erstellte, über ihre erste Begegnung mit dem irischen Originalgenie: "Nachdem wir uns miteinander bekannt gemacht hatten, verlangte Brendan, dessen Durst sich nicht nach den Öffnungszeiten der Kneipen richtete, etwas zu trinken. Wohlerzogen fragte ich, ob es Tee oder Kaffee sein dürfe.

'Nennen Sie das was zu trinken?' röhrte er und fügte einen Schwall ungezügelter angelsächsischer Worte hinzu, die man gewöhnlich nicht in einem Verlagsbüro zu hören bekommt.

So begann die erste meiner vielen Lektionen in Nonkonformismus. Brendan BehanIrgendwie gelang es mir, eine Flasche Whiskey zu besorgen. Ich kehrte triumphierend ins Büro zurück, genauso begeistert über meinen Erfolg wie Brendan selbst."

Selbstverleugnung gab es für Brendan Behan nicht: "Was das Trinken anbetrifft, so kann ich sagen, daß in Dublin während der Notzeiten in meiner Jugend Trunkenheit nicht als soziale Schande betrachtet wurde. Wenn es einem gelang, genug zu essen zu bekommen, wurde das als Heldentat betrachtet- wenn es einen gelang, sich zu betrinken, war das ein Sieg."

Brendan Behans Schauspiel "Die Geisel" endet mit einem Song, dessen beide letzten Verse lauten: "Trink ein Bier aus meiner Urne/ Laß dir's schmecken, wenn du kannst."

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Vergessen werden soll nicht  der kosmopolitische Schriftsteller & Trinker MALCOLM LOWRY (1909-1957). Geboren in England, fuhr er zur See, landete über Norwegen in Frankreich und Spanien und ging 1935 in die USA. Dann Mexiko, Kanada und wieder England. Ein rastloses Leben. Malcolm LowryInspiriert von seinem Aufenthalt in Mexiko veröffentlichte Lowry 1947 seinen Roman "Unter dem Vulkan", der später zum Kultbuch avancierte. Die Geschichte ist angesiedelt in Quauhnahuac, einer mexikanischen Stadt in der Nähe zweier Vulkane, und schildert die letzten zwölf Stunden am 2. November 1938 im Leben des britischen Konsuls Geoffrey Firmin, der schwerer Alkoholiker ist. Vordergründig, weil er Eheprobleme und andere zwischenmenschliche Schwierigkeiten hat, in Wirklichkeit aber ist sein Suff eine Flucht vor der Unmenschlichkeit der modernen Welt und dem eigenen Versagensgefühl- eine Parabel für das sich anbahnende Weltkriegschaos. Autobiographische Bezüge sind unübersehbar: auch Lowry war stark alkoholabhängig, in seinen letzten zehn Lebensjahren war ein Dutzend Klinikaufenthalte erforderlich.

 

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Unter deutschen Schriftstellern im vergangenen Jahrhundert ist Alkoholismus anscheinend kaum ein Problem, jedenfalls wird er nur in wenigen Fällen manifest, interessiert höchstens als literarisches Thema. GERHART HAUPTMANN Gerhart Hauptmannwar –wie Goethe- ein starker Genußtrinker: einige Flaschen Wein täglich. Auch sein Werk durchweht eine blaue Fahne.³

THOMAS MANN Thomas Mannhat Hauptmanns alkoholische Neigungen ironisiert in der "Zauberberg"-Figur Mynheer Peeperkorn, die er episch mit Gift umbringt (auch so kann man sich eines unliebsamen Konkurrenten entledigen). Schon in der Novelle "Der Weg zum Friedhof" (1901) hatte Mann den Trinker Lobgott Piepsam [!] diskriminiert. Thomas Mann schreibt in seinem Statement "Über den Alkohol" (1906) furchtsam-spießerhaft: "Ich Geringer trinke täglich zum Abendbrot ein Glas helles Bier und reagiere auf diese anderthalb Quart so stark, daß sie regelmäßig meine Verfassung durchaus verändern. Sie verschaffen mir Ruhe, Abspannung und Lehnstuhlbehagen, eine Stimmung von 'Es ist vollbracht!' und 'Oh, wie wohl ist mir am Abend!'..."

Bezeichnend ist vielleicht auch, wie BERTOLT BRECHT Bertolt Brechtsich aus Imagegründen als Trunkenbold gerierte, seine alkoholische Kennerschaft auf der Bühne ausstellte ("Baal [1922], "Herr Puntila und sein Knecht Matti [1940/41]) und mit den beiden Gedichten "Über den Schnapsgenuß" und "Vorbildliche Bekehrung eines Branntweinhändlers" noch vertiefen wollte: in Wirklichkeit rührte der herzlabile Brecht kaum einen Tropfen Alkohol an.

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Es mag überraschen, daß der so sittsame HERMANN HESSE (1877-1962) als junger Mann alkoholischen Gefährdungen ausgesetzt war. In Ralph Freedmans Hesse-Biographie findet sich unter den Anmerkungen die verschämte Fußnote: "Er vertraute sich 1906 dem Sanatorium Monte Veritá an; in Verbindung mit der naturgemäßen Lebensweise unterwarf er sich einer Alkoholentziehungskur, durch die er seine zerrüttete Gesundheit wiederherstellte."

Im Winter 1925/26, als Hesse in Zürich Hermann Hesse am "Steppenwolf" arbeitete, befand er sich in einer Existenzkrise. Dazu Freedman: "In seiner kleinen Wohnung... verbrachte er die meiste Zeit des Tages mit Trinken, die Abende in Bars und Gasthäusern und schrieb in den schlaflosen Nächten Gedichte wie das folgende: "'Jede Nacht der gleiche Jammer,/ Erst getanzt, gelacht, gesoffen,/ Müde dann in meine Kammer/ Und ins kühle Bett geschloffen./ Kurzer Schlaf und langes Wachen,/ Verse aufs Papier geschrieben,/ Brennende Augen wund gerieben,/ Lieber Gott, es ist zum Lachen!/ Zwischen Träumetrümmern lieg ich,/ Wünsche dieser Qual ein Ende,/ In zerwühlte Kissen schmieg ich/ Heiße Wangen, feuchte Hände,/ Schütte Whisky in die Kehle,/ Und in den verlorenen Schlünden/ Jammert die erstickte Seele./ Irgendwo aus Höllengründen/ Kommt der Morgen dann geschlichen,/ Und der Tag mit fürchterlichen/ Augen stiert auf meine Sünden."

Indiskutable Lyrik, aber psychoanalytisch hochinteressant. Und konsequent bewältigte Hesse mit psychotherapeutischer Hilfe sporadisch auftauchende Lebenskrisen und wohl auch seine Alkoholprobleme.

 

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Wesentlich bedrohter vom Alkohol ist der Kleine-Leute-Autor HANS FALLADA (1893-1947) gewesen. Falladas Leben war ein Leidensweg durch Nervenheilanstalten, Gefängnisse und Sanatorien, insgesamt mehr als sieben Jahre wurde er verwahrt: als Totschläger, Alkoholiker, Morphinist, wegen Beschaffungskriminalität, als Nazigegner.  Ein chaotisches Leben.Hans Fallada 

Erst postum, im Jahr 1950, erschien bei Rowohlt Falladas stark autobiographisch getönter (auch heute noch lesbarer) Roman "Der Trinker". Wie gerät der Kleinbürger Erwin Sommer in den Alkoholstrudel? Geradezu exemplarisch erscheint der Beginn: "ICH HABE natürlich nicht immer getrunken, es ist sogar nicht sehr lange her, daß ich mit Trinken angefangen habe. Früher ekelte ich mich vor Alkohol; allenfalls trank ich mal ein Glas Bier; Wein schmeckte mir sauer, und der Geruch von Schnaps machte mich krank. Aber dann kam eine Zeit, da es mir schlecht zu gehen anfing. Meine Geschäfte liefen nicht so, wie sie sollten, und mit den Menschen hatte ich auch mancherlei Mißgeschick. Ich bin immer ein weicher Mensch gewesen, ich brauchte die Sympathie und Anerkennung meiner Umwelt, wenn ich mir das auch nicht merken ließ und stets sehr sicher und selbstbewußt auftrat. Das Schlimmere war, daß ich das Gefühl bekam, auch meine Frau wende sich von mir ab."

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Der Fallada-Biograph Alfred Geßler sieht in dem 1944 geschriebenen Roman nicht nur eine private Tragödie des Protagonisten: "Im 'Trinker' wird kein zeitloses isoliertes Kleinbürgerschicksal dargestellt, der Roman steht symbolisch für die ganze Schicht, der Sommer entstammt. In der bewußten Selbstzerstörung Sommers offenbart sich die nahende Apokalypse des faschistischen Systems."

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Der Filmregisseur Géza von Cziffra hat dem Schriftsteller JOSEPH ROTH (1894-1939) das Erinnerungslibell "Der heilige Trinker" gewidmet. Darin schreibt er über den k.u.k. Chronisten und Exilautor: "Roth war ein rhapsodischer Mensch, wahrscheinlich bedingt durch seinen Alkoholismus. Er trank Wein und Schnaps schon zum Frühstück. Er hatte böse Perioden. Oft zitterten seine Hände bedenklich, aber sein Geist nie. Der Alkohol machte ihn aggressiv, aber je mehr er trank, desto eher baute sich seine Angriffslust ab, schließlich wurde er zum Weisen. Joseph Roth

Als ich ihn zum letztenmal traf, erzählte er mir, daß er an einer Novelle arbeite, die den Titel 'Die Legende vom heiligen Trinker' tragen sollte.

'Warum ist Ihr Trinker heilig?' fragte ich ihn.

'Aus demselben Grunde wie ich', antwortete er mit ernster Miene. 'Weil der liebe Gott ihm dieselbe Gnade zuteil werden ließ wie mir. Er lieh meinem Trinker, einem Clochard, einmal zweihundert Francs, die er an die heilige Therese von Lisieux zurückzahlen sollte, per Adresse des Priesters der Kapelle Ste. Marie de Batignolles. Der Clochard vertrank natürlich die Gabe, aber der liebe Gott ließ ihm auf Umwegen immer wieder Geld zukommen- genau so, wie er meine dichterische Begabung immer wieder aufflammen ließ, wenn die innere Flamme auszulöschen drohte.'"

Mit der Erzählung "Die Legende vom heiligen Trinker" schrieb Joseph Roth sein letztes Buch, ehe er nicht einmal 45jährig im Delirium tremens starb. Seinen Clochard Andreas hatte der Autor mit den Worten verabschiedet: "Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und schönen Tod."

Im Exil lebte Joseph Roth einige Zeit zusammen mit der Schriftstellerin IRMGARD KEUN (1910-1982), der Autorin von Romanen wie "Das kunstseidene Mädchen" und "Nach Mitternacht". Irmgard KeunEgon Erwin Kisch, "der rasende Reporter", der zum Freundeskreis gehörte: "Ich glaube, im großen und ganzen passen die beiden gut zueinander, auch in ihrer Lebensweise. Die Keun versucht, Roth den Alkohol abzugewöhnen, Sepp, ihn ihr anzugewöhnen. Ich befürchte, Roth wird siegen."

Kisch hat recht behalten. Irmgard Keuns Biographin Gabriele Kreis: "Beide sind Heimatlose, immer auf der Suche nach einem Halt und einem Sinn, bereit, nach allem zu greifen, was ihnen Versöhnung mit dem Leben und Ausweg aus ihrer Isolierung verspricht: nach Menschen, nach Ideen und nach Alkohol. Sie sind possessiv, verbohrt und oft betrunken."

Nach dem Krieg wird Irmgard Keuns Alkoholismus immer zügelloser. 1966 ist ihre Einweisung ins Landeskrankenhaus Bonn erforderlich, wo sie bis Ende 1972 bleibt. Trotz eines Comebacks durch Neuauflagen der alten Bücher verdämmern ihre restlichen Jahre in unproduktivem Rausch.

 

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Exkurs: Bei Schriftstellerinnen ist Alkoholismus offenbar nur selten anzutreffen. Eine der wenigen, die sich öffentlich als Alkoholikerin bekannte, ist die französische Autorin MARGUERITE DURAS Marguerite Duras (1914-1996). In dem Interviewband "Das tägliche Leben" (1988) finden sich bewegende und tiefe Worte zum Thema: "Der Alkohol bringt die Einsamkeit zum Schwingen und führt dazu, daß man sie schließlich allem andern vorzieht. Trinken heißt nicht zwangsläufig sterben wollen, nein. Doch kann man nicht trinken, ohne daran zu denken, daß man sich umbringt. Mit dem Alkohol leben, heißt mit dem Tod in Reichweite leben. Was einen –wenn man süchtig nach Trunkenheit ist- hindert, sich umzubringen, ist der Gedanke, daß man, einmal tot, nicht mehr trinken wird. Ich habe begonnen, auf Festen, auf politischen Veranstaltungen zu trinken, zuerst Wein, dann Whisky. ...Das hat zehn Jahre gedauert. Bis zur Zirrhose, bis zum Bluterbrechen. Ich habe zehn Jahre aufgehört. Es war das erste Mal. Ich habe wieder angefangen und dann noch einmal aufgehört. ...Nun bin ich beim dritten Stop... Es fehlt einem ein Gott. Diese Leere, die man eines Tages als Heranwachsender entdeckt, läßt sich durch nichts verdrängen. Der Alkohol ist erschaffen worden, damit man die Leere des Universums ertragen kann. ...Der Alkohol tröstet über nichts hinweg, er füllt die psychischen Räume des Individuums nicht aus, er ersetzt nur das Fehlen Gottes."

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Zum Schluß soll noch darauf hingewiesen werden, daß sich das Thema Alkoholismus auch in der Trivialliteratur großer Beliebtheit erfreut. 1944 veröffentlichte der Amerikaner CHARLES JACKSON seinen Roman "Das verlorene Wochenende", der "den mehrtägigen Alkoholexzeß eines Trinkers durch alle Höhen und Tiefen" beschreibt. Die eigene Suchtkarriere schildern der Franzose JEAN ST. DIDIER in seinem Buch "J'etais un alcoolique" (deutscher Titel: "Ich bin geheilt") und die Amerikanerin LEE BRYANT in ihrem Werk "Come, Fill the Cup"- beide finden durch religiöses Erleben zur Nüchternheit zurück.

1962 erschien von JOHANNES MARIO SIMMEL Johannes Mario Simmelder Roman "Bis zur bitteren Neige", der das bittere Trinker-Schicksal des versoffenen Filmstars Peter Jordan bis zum Happy-End erzählt. Auch der Autor Simmel war zeitweilig alkoholabhängig, wie er selbst freimütig bekennt. "Eines Tages war ich so kaputt, daß ich ins Krankenhaus mußte. Jetzt trinke ich keinen einzigen Tropfen Alkohol mehr. Nur deshalb lebe und schreibe ich noch..."

1957 veröffentlichte der Amerikaner THOMAS RANDALL sein Bekenntnisbuch "The twelfth Step" (auf deutsch unter zwei verschiedenen Titeln: "Größer als wir selbst" und "Falle Alkohol"), das Trinkern praktische Lebenshilfe bieten will, indem es –episch breit: in der deutschen Ausgabe auf 763 Seiten- den Entzug mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker darstellt. 

Dieses Ziel verfolgt auch ERNST HERHAUS in seinem wesentlich kompakteren und literarisch anspruchsvolleren Roman "Kapitulation. Aufgang einer Krankheit" (1977), wobei ein mittlerweile trockener Alkoholiker den Autor ermuntert, die Flasche wegzustellen und seine Lebens- & Krankengeschichte aufzuschreiben: "Ernst, du wirst es schaffen. Eher als du denkst, wirst du Alkoholikern, die noch drinhängen, durch Erzählen helfen. Du wirst ein Hund sein für die Nassen..."

Es darf stark bezweifelt werden, daß die SCHÖNE LITERATUR als Therapie taugt, allenfalls gehen von ihr emanzipatorische Impulse aus. Aber manchem zwanghaften Trinker mag es ein Trost sein, daß auch große Schöpfer literarischer Welten Narren und Bettler waren am Hof von KÖNIG ALKOHOL.


Supplement


¹Vgl. vier Anthologien, die zahlreiche literarische Zeugnisse zum Thema Alkohol versammeln: Karl Heinz Wallhäußer (Hg.), Säufzer. Geschichten über den Alkohol. Hofheim: Wolke Verlag 1987; Treibstoff Alkohol. Die Dichter und die Flasche. "du – Die Zeitschrift der Kultur", Zürich, Nr.12/ 1994 [Themenheft]; König Alkohol. "orte", CH-9427 Zelg-Wolfhalden, Nr.64 [Themenheft]; Jörg Sundermeier (Hg.), Das Buch vom Trinken. Berlin: Verbrecher Verlag 2004

²Vgl. auch: Tom Dardis, The Thirsty Muse. Alcohol and the American Writer. Boston: Houghton Mifflin Company 1989; Donald W. Goodwin, Alkohol und Autor. Zürich: Edition Epoca 1995 und Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000

³Vgl. Joachim Müller, Die Figur des Trinkers in der deutschen Literatur seit dem Naturalismus. In: "Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena", Jg.17/ 1968, Heft 2, S. 255-267

Über den Verfasser: Niels Höpfner trinkt seit 50 Jahren Wein.



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