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András Kert: Zwischen Hoffnung und Angst. - Pogrom, 172, August/September 1993., 34.

Zwischen Hoffnung und Angst. Die Wojwodina-Ungarn in Serbien

Etwa 90% der Ungarn im ehemaligen Jugoslawien, nach Angaben der Ungarischen Liga für Menschenrechte etwa 400 000 Menschen, leben in der zu Serbien gehörenden Wojwodina, bis 1989 eine autonome Republik (vgl. pogrom 160, Juli/August 91, S. 41). Die meisten von ihnen gehören der Römisch-Katholischen, einige wenige auch der Reformierten Kirche an. Als es zu Beginn des Krieges zwischen Serbien und Kroatien auch in der Wojwodina zu Zwangsrekrutierungen kam, entzogen sich etwa 25 000 junge Männer durch die Flucht nach Ungarn der tragischen Situation, an der Front gegen die in Kroatien lebenden Ungarn kämpfen zu müssen. Politisch werden die Wojwodina-Ungarn von der "Demokratischen Gemeinschaft der Ungarn aus der Wojwodina" vertreten, die auf allen politischen Ebenen Rest-Jugoslawiens Abgeordnetenmandate erringen konnte. Ihr wichtigster Repräsentant ist András Agoston, mit dem sich András Kert Anfang Juli 1993 für pogrom über die derzeitige Situation der ungarischen Minderheit in der Wojwodina, über das problematische Abhängigkeitsverhältnis zu Belgrad, über Zukunftshoffnungen und -perspektiven unterhielt. Zentrale Forderung der Wojwodina-Ungarn ist die Wiederherstellung des Autonomen Status der Wojwodina innerhalb Serbiens. Inwiefern sich der verhaltene Optimismus von Herrn Agoston als Zweckoptimismus erweisen wird, muß die Zukunft zeigen.

Pogrom: Herr Agoston, 1991 bezeichnete die "Gesellschaft für bedrohte Völker" Kosovo, Sandschak und Wojwodina als möglichen künftigen Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen. Wie schätzen Sie dies ein?

Agoston: Ich wage da keine Prognose; ich habe mir auch nie vorstellen können, daß Jugoslawien je zerfallen würde. Wir haben von Anfang an gesagt, daß wir mit den Auseinandersetzungen der südslawischen Völker nichts zu tun haben wollen. Wir wollen uns nicht in einen bewaffneten Konflikt hineinziehen lassen. Deshalb haben wir auch keine eigenen Waffen. Käme es zum Schlimmsten und würde man auf uns schießen, dann würden wir wohl massakriert werden. Für diesen Ernstfall haben wir unsere Bevölkerung - auch in offiziellen Stellungnahmen - aufgerufen, zu flüchten. In weniger als einer Woche könnten etwa 150 000 bis 200000 Menschen nach Norden, nach Ungarn, entkommen. Aber ehrlich gesagt sehe ich momentan diese Gefahr nicht.

Ein anderes Problem sind die paramilitärischen Kräfte, die Tschetniks z. B.. Bei uns gibt es viele leerstehende Häuser, deren Besitzer im Ausland arbeiten. Diese Häuser werden jetzt von Nachbarn gehütet und wären eine leichte Beute für bewaffnete Banden. Eine Destabilisierung der Zentralmacht in Belgrad, bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen in Serbien, würden diese Banden völlig unkontrollierbar machen. In dieser Hinsicht haben wir allerdings Grund zur Sorge.

Pogrom: Im November 1992 hat eine Delegation der FUEV ein recht düsteres Bild von der Wojwodina gemalt. Von Zwangsmaßnahmen war da die Rede, von Vertreibungen, einer sorgenvollen Zukunft. Wie steht es jetzt mit den Vertriebenen? Können sie Zahlen nennen?

Agoston: Wie in solchen Fällen üblich, stehen wirklich zuverlässige Zahlen niemandem zur Verfügung. Meines Wissens aber ist die erste große Flüchtlingswelle zu Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen, als 25 000 - vor allem junge - Männer vor den Zwangsrekrutierungen der serbischen Armee auf die Flucht gingen, die bislang einzige diesen Ausmasses geblieben. Das hat zwei Gründe: Zum einen gibt es zur Zeit keine Zwangsrekrutierungen bei uns, zum anderen werden ungarische Soldaten momentan nicht in die Krisengebiete geschickt. Von einer "Welle" kann man zur Zeit nicht reden. Im Gegenteil: Viele der Geflüchteten wollen zurückkehren oder haben es bereits getan. Ein anderes Problem sind die vielen jungen Leute, die unabhängig von der politischen Situation ins westliche Ausland gehen, auch in die Bundesrepublik, um dort zu arbeiten und sich eine Existenz aufzubauen. Sie fehlen uns zwar, aber wir konnten diese Situation bislang gut auffangen.

Die Wiederherstellung unserer Autonomie wäre sicher ein Anreiz für die Rückkehr der Flüchtlinge, denn sie würde den hier Lebenden eine politische und soziale Stabilität sichern, die dann auch die Wirtschaft ankurbeln würde. Unsere Grenznähe, unser Standort überhaupt, bietet dafür alle Möglichkeiten. Zur Zeit arbeiten wir an einem Plan, der, sollten wir durch eine Volksabstimmung die Autonomie zurückerhalten, die Weichen für eine wirtschaftliche Konsolidierung, einen Aufschwung stellen soll. Wir glauben, daß wir damit auch ein Zeichen setzen können für die Wirtschaftsentwicklung in ganz Serbien. Von unserem Wirtschaftsmodell sollen natürlich nicht nur die Ungarn der Wojwodina, sondern die Angehörigen aller Nationalitäten bei uns und im ganzen Land profitieren.

Pogrom: Ich möchte noch einmal nachhaken: Es werden keine Zwangsrekrutierungen in der Wojwodina vorgenommen? Ungarische Soldaten sind nirgendwo in Kriegsgeschehen verwickelt?

Agoston: So ist es. Unseres Wissen werden Ungarn aus der Wojwodina im Moment nicht in Kampfgebiete geschickt. Während des serbisch-kroatischen Konfliktes ist es allerdings vorgekommen, daß Ungarn aus der Wojwodina in der vordersten Frontlinie auf Ungarn aus Kroatien schießen mußten.

Pogrom: Die Welt hat Bosnien-Herzegowina abgeschrieben. Die Wojwodina ist auf ein "gutes" Verhältnis zu der Belgrader Regierung angewiesen. Hat sie eine Lobby in Europa, die sie im Zweifelsfall unterstützen würde, auf die sich die Wojwodina verlassen könnte, wenn die Regierung ähnlich dem Kosovo auf eine massive Serbisierung umschalten sollte?

Agoston: Wir empfinden es so, daß im Westen, in der Welt überhaupt, keine echten Anstrengungen unternommen wurden, um Bosnien-Herzegowina zu retten. Das hat die bisherigen Lösungsvorschläge ja auch sehr stark geprägt. Ich sehe hier zwei Wege. Entweder kommt es zu noch schlimmeren Grausamkeiten, wo niemand mehr wegschauen kann, und dadurch endlich zu ernsthaften Anstrengungen für den Frieden - was ich allerdings für unwahrscheinlich halte, da diese Grenze eigentlich längst überschritten ist - oder die Lust am Krieg flaut irgendwann ab, und sei es nur, weil er aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr geführt werden kann. In dem Fall entstünde von allein eine Situation, in der der Westen durch seine ökonomischen Möglichkeiten einen Beitrag leisten könnte für eine gewisse Stabilität.

Die dafür notwendigen politischen Voraussetzungen werden am grünen Tisch geschaffen. Für diesen Fall fühlen wir uns gewappnet. In den vergangenen zweieinhalb Jahren habe ich die Gelegenheit gehabt, mit über 180 Diplomaten und Politikern höchsten Ranges und Vertretern verschiedenster Organisationen aus Europa und Amerika darüber zu diskutieren und ihnen unsere Anliegen vorzutragen. Bei allen Überlegungen für einen Frieden in der Region wird die Minderheitenfrage zwangsläufig eine große Rolle spielen. Denn spätestens jetzt muß allen klar sein, daß ohne die Lösung dieses Problems keine vernünftige Regelung für die Zukunft zustande kommen kann. Wir können dabei auf die Unterstützung und Aufmerksamkeit der ungarischen Regierung, des Parlaments und der Parteien Ungarns, aber auch von seiten der westeuropäischen Regierungen, des Europaparlamentes und Amerikas rechnen.

Gerade aus Ungarn haben wir auf allen politischen Ebenen unschätzbare Hilfe bekommen. Das kann man nicht oft genug unterstreichen. Durch die intensive Arbeit und Unterstützung verschiedenster Organisationen und Vereine in den vielen Ländern, in denen ich inzwischen gewesen bin, konnten wir überall wichtige Kontakte herstellen. Meine Partei unterhält überdies Büros in der ganzen Welt, von Deutschland bis nach Australien. Dieses weltweite Netz von Unterstützern hat uns meiner Einschätzung nach eine sehr effektive internationale politische Arbeit ermöglicht, die sich hoffentlich positiv auswirken wird.

Pogrom: Herr Agoston, seit ihrer Gründung 1989 hat Ihre Partei, die Demokratische Gemeinschaft der Ungarn aus der Wojwodina (DGUW), bei allen drei Wahlen, die seitdem stattgefunden haben, ein sehr überzeugendes Ergebnis erreicht. Sie kann als legitime Vertreterin der ungarischen Minderheit in der Wojwodina betrachtet werden.

Agoston: Ja. In dieser kurzen Zeit konnten wir im Bundesparlament (Serbien/Montenegro), im Parlament Serbiens, im Regionalparlament der Wojwodina und in sieben Kommunen Mandate erringen. 80% der wahlberechtigten Ungarn haben uns bei den ersten Mehrparteienwahlen in Serbien gewählt. Es gibt Kommunen, wie z. B. Temerin, wo die Serben zwar die Bevölkerungsmehrheit ausmachen, die DGUW aber dennoch 48% der Stimmen erreichte. Doch die Sozialisten und die serbische Radikale Partei haben uns durch ihre Koalition in die Opposition verdrängt.

Pogrom: Welche Ziele verfolgt Ihre Partei?

Agoston: Im wesentlichen konzentrieren wir uns auf zwei Punkte: Zum einen unsere grundsätzliche Forderung nach Autonomie - drüber sind wir ständig im Dialog mit der serbischen Regierung. Zum anderen unterstützen wir die Befürworter der demokratischen Entwicklung in der Republik Serbien. Wir haben uns z. B. auch an den Aktionen der serbischen Opposition für die Freilassung von Vuk Draskovic beteiligt. Allerdings können wir natürlich immer nur die politische Rolle erfüllen, die uns das jetzige politische System überhaupt ermöglicht.

Die breite Unterstützung der Wähler, die trotz der gegenwärtigen Krise nicht nachgelassen hat, bestärkt uns darin, konsequent und kompromißlos unsere Forderung nach Autonomie zu verfolgen, die wir als unser höchstes Ziel betrachten. Ich bin überzeugt davon, daß Autonomie die einzige Chance für die in Serbien lebende ungarische Minderheit ist, um ihre Identität, Kultur und schließlich ihren Platz in Europa zu bewahren. Ohne eine Verwirklichung der Autonomie würde in weniger als zehn Jahren die Zahl der in der Wojwodina lebenden Ungarn auf weniger als die jetzigen 10 Prozent der Bevölkerung dieser Region zurückgehen. Das ist zwar auch der serbischen Führung klar, die eine Autonomie verhindern will. Noch wird der Dialog jedoch weitergeführt. Pogrom: Welchen Einfluß haben Sie denn auf Belgrad?

Agoston: Nun, daß der Dialog über Autonomie in der Wojwodina noch nicht abgebrochen wurde, ist ein wichtiger Punkt, besonders angesichts der Tatsache, daß Belgrad unsere Autonomie 1989 selbst abgeschafft hat. Wir hoffen, daß die Belgrader Regierung begreift, daß wir Ungarn aus der Wojwodina allmählich ihre letzte Brücke nach Europa sind.

Pogrom: Welches sind die Schwerpunkte Ihrer Kommunalpolitik?

Agoston: Sie soll zunächst eine politisch stabile Lage des Vertrauens schaffen; wir kümmern uns aber auch um Fragen des Gemeinwohls. Wir haben mit demokratischen Mitteln Korruption, Amtsmißbrauch, sozialen, wirtschaftlichen und anderen Mißständen den Kampfangesagt. Natürlich ist es für unsere Kommunalpolitiker nicht einfach, mit von Belgrad eingesetzten Verwaltungs- und Ordnungskräften zu arbeiten. Durch unsere Bemühungen haben wir allerdings auch bei den Serben Ansehen erworben.

Pogrom: Hält sich Belgrad denn an demokratische Spielregeln?

Agoston: Immerhin sind wir trotz unseres öffentlichen Auftretens als Partei noch nicht verboten worden. Wir haben unsere Abgeordneten auf allen Ebenen, wo politische Entscheidungen getroffen werden. In dieser Hinsicht gibt es keinen Grund zur Klage. Aber natürlich gibt es serbische politische Kräfte, die mit Manipulationen und Zweckkoalitionen wie z. B. im Fall Temerin die Oberhand zu gewinnen versuchen oder sich an alten politischen Machtstrukturen festklammern. Wir betrachten dies als Herausforderung und als Mittel der nicht immer sauberen, aber noch zulässigen politischen Auseinandersetzung. Auf der Ebene dieser politischen Gremien sehen wir zur Zeit noch keine ernsthafte Gefahr.

Beunruhigt sind wir allerdings über die Mittel des psychologischen Krieges, der Propaganda, die auf anderen Ebenen gegen uns zum Einsatz kommen. Ein Beispiel: Vor einer Woche (Anfang Juli 93, Red.) wurde ein Amtsträger von uns in Sabadka bei der Grundsteinlegung einer Kirche von Unbekannten regelrecht zusammengeschlagen. Die Polizei hat den Täter nicht gestellt. Wir sind besorgt, daß wir uns auf die Ordnungshüter nicht mehr verlassen können. Sie gewähren unseren Amtsträgern oft nicht die nötige Sicherheit, wenn sie ihre Pflichten wahrnehmen.

Pogrom: Das von der DGUW erarbeitete Memorandum und der Gesetzentwurf zur Erlangung der Autonomie haben im Ausland große Beachtung gefunden. Sehen Sie reale Chancen, dieses Konzept in Serbien zu verwirklichen?

Agoston: Für die Länder Osteuropas sind die Minderheiten und damit auch ihre Rechte zweifelsohne ein wichtiges Element für den Anschluß an ein großes Europa. Meiner Meinung nach geht kein Weg an der Festlegung von Minderheitenrechten vorbei. Daher bin ich noch immer optimistisch, daß ein entsprechendes Konzept auch bei uns durchsetzbar ist und daß auf internationaler Ebene unsere Forderungen nicht ignoriert werden können. Allerdings erwarten wir natürlich von anderen nicht die Lösung unserer Probleme; das müssen wir selbst schaffen. Daher sind wir ja auch von Anfang an dafür eingetreten, daß der Dialog mit dem serbischen Machthaber nicht abreißt. Ich muß aber zugeben, daß wir dabei bislang keine konkreten Ergebnisse erreicht haben.

Pogrom: Herr Agoston, Sie stehen an einer exponierten Stelle in der politischen Landschaft Ex-Jugoslawiens. Haben Sie Angst?

Agoston: Ja, ich habe Angst. Doch das Ziel, das wir verfolgen, gibt mir Kraft. Zudem stehen meine Familie, meine Freunde und Bekannten bedingungslos hinter mir.

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András Kert ist ungarischer Flüchtling aus Rumänien und lebt zur Zeit in Göttingen. Er hat das Gespräch mit Herrn Agoston geführt und übersetzt.

(András Kert: Zwischen Hoffnung und Angst. Die Wojwodina-Ungarn in Serbien. - Pogrom, 172, August/September 1993., 34.)