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Rosmarie Zeller: Matthias Zschokke

Rosmarie Zeller

Matthias Zschokke

 





Ich bin immer noch bei Autoren, die ich mit Darstellung des Kleinen und Unbedeutenden überschrieben habe. Matthias Zschokkes erster Roman heisst Max. Sie sehen schon am Titel das Zschokke hier sozusagen mit sparsamsten Mitteln arbeitet. Der Roman geht eigentlich darum, dass Max kein Held einer Geschichte werden kann. Max ist denn auch kein Held einer Geschichte, denn von ihm heisst es: „Max kann tun und lassen, was er will, er wirkt immer wie Öl auf Wasser. | Er breitet eine geordnete überschaubare Atmosphäre um sich aus | wenn er die Bar betritt sind die Rocker schon weg | wenn er zur Hure geht, hat sie keine Syphillis | wenn er beim Griechen isst, ist das Fleisch frisch | wenn er vergewaltig wird, ist der Vergewaltiger liebenswert.“ (S. 20) An einer andern Stelle heißt es: „Max hat nun mal keine verrückte Großmutter und keinen tollen Großvater, kalte Füße hat er oft und wäscht sich in normalem täglichen Rhythmus, oder zweitäglich.“ (S. 128) Wenn Max sich Mühe geben möchte, irgendetwas Besonderes zu sein, läßt er sich doch von der Reklame einreden, „welche Hosenfarbe und Substantive jeweils eigenwillig genug sind, um als Individualitäts-Steuer akzeptiert zu werden“ (S. 26).

Max ist die Gewöhnlichkeit selbst und gleicht in diesem Sinn ganz den Figuren, die Bichsel in seinen Milchmann-Geschichten darstellt.

Max versucht dann noch auf andere Weise ein Held zu werden, indem er kleinere Verstöße gegen die Rechtsordnung begeht, er klebt einen Fahrkartenautomaten zu, er zeigt dem Kontrolleur die Fahrkarte nicht, rennt bei Rot über die Straße, stiehlt Streichhölzer und zündet seinen Paß an: „Aber ihm passierte nichts. Es half alles nichts, er kehrte heim. Er ist kein Held geworden.“ (S. 164f.) Das Problem ist, dass es in der modernen Welt keine Helden mehr braucht und auch keine mehr gibt.

Der dritte Band von Zschokke heisst ErSieEs, auch wiederum ein bezeichnender Titel, denn hier weiss man nicht, ob die Hauptfigur ein Mann, eine Frau oder ein eben ein ‚Fräulein’ ist. Angeregt ist der Titel von der amtlichen Anschrift: Herr / Frau / Fräulein – was jetzt nicht mehr so gut funktionieren würde, der Nachname der Figur ist „de Glych“, was man wohl als der Gleiche übersetzen muss, das heisst, die Individualität der Figur ist noch stärker zurückgeschnitten, weil sie eben immer dieselbe ist, gleichgültig, ob sie eine er, ein sie oder ein es ist.

In seinem neusten Roman Maurice mit Huhn hat Zschokke wiederum einen solchen Nicht-Helden gewählt. Maurice hat irgendein Schreibbüro in Berlin, das aber überhaupt nicht läuft, in diesem Büro hört er ein Cello. Er hat einen Freund Flavian Karr, der Schauspieler ist und als „liebenswürdig, nichtssagend aussehender Mann beschrieben wird. Auch Maurice heisst es da empfinde sich eher als „unscheinbar und uninteressant“ (S. 19) Flavian tritt nur ganz am Anfang auf und dann wieder am Schluss des Romans. Dann gibt es noch eine Frau, die wie es heisst, die Geliebte von Maurice spielt, eine alte Frau, die die Mutter von Maurice spielt, einmal kommt ein alter Vater vor, einmal scheint Maurice ein Kind zu haben. Immer wieder schreibt er einen Brief an Hamid, der in Genf lebt.

 

»Das Problem ist, ich habe zur Zeit keine Arbeit, der ich nachgehen konnte«, gesteht Maurice. »Zwar stehen verschiedene Angebote im Raum, doch tun sie das auf eher wackeligen Beinen. Um der Wahrheit die Ehre zu erweisen, sie hängen allesamt mehr in der Luft, als daß sie stehen. Deswegen habe ich mich in den letzten Wochen ja auch so verzweifelt an Ihr Cellospiel geklammert. (S. 97)

Dies sagt Maurice angeblich zum Cellospieler, von dem sich aber nachher erweist, dass es ihn nur in der Phantasie von Maurice gibt. Die Konstruktion des Satzes erinnert sehr stark an Robert Walser: er nimmt zuerst eine Redewendung: es stehen verschiedene Angebote im Raum, dann führt er die Metapher weiter, indem er sie sozusagen wörtlich nimmt mit den wackligen Beinen, was aber wieder eine Redewendung ist, die Metapher wird aber aktiviert, dadurch, dass die Redewendung nicht passt: man kann nicht sagen: ein Angebot steht auf wackligen Beinen, Zschokke braucht also genau wie Walser die Redewendungen etwas schief. Dann korrigiert er nochmals, und zwar, indem er wieder eine Redewendung braucht „Um der Wahrheit die Ehre zu geben“, die zweite Hälfte des Satzes aktualisiert wieder die Metapher: hängen statt stehen. An das Cellospiel kann man sich ja eigentlich nicht klammern, das ist wiederum schief, hat aber seine Logik in der Fortführung der Metapher von stehen, in der Luft hängen, auf wackligen Beinen stehen.

Es gäbe weitere solche Beispiele, in denen mit der Sprache gespielt wird, die Aufmerksamkeit des Lesers von der Geschichte auf die Sprache gelenkt wird. Dies umso mehr, als man im Laufe des Romans den Eindruck bekommt, den Cellospieler oder die Cellospielerin gebe es gar nicht, es handle sich eher um eine Phantasie von Maurice. So heisst es an einer Stelle: „Maurice ist also durch den Stadtpark zur Arbeit gefahren mit dem Vorsatz, endlich die Cellistin in seinem Leben auftreten zu lassen, eine zarte, blasse Russin. Im Büro mußte er sich jedoch eingestehen, daß er das Cello seit Monaten nicht mehr gehört hatte — ohne es übrigens vermißt zu haben.“ (S. 81)

Ein anderer Hinweis, welcher einen intertextuellen Bezug herstellt, unterstreicht, dass es sich beim Cello eher um etwas handelt, was Text produziert als um etwas Reales: „Das Cello hinter der Wand erinnert an eine Erzählung, die unter dem Titel »Das Cello« anfangs des neuen Jahrtausends im deutschsprachigen Raum eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte und dort in vielen Haushalten abends vorgelesen wurde.“ (S. 69)  Es handelt sich hierbei um eine Anspielung auf Zschokkes gleichnamige Erzählung in dem Band Ein neuer Nachbar. Purer Hohn, dass sie "in vielen Haushalten abends vorgelesen wurde": natürlich kann sie wie Maurice mit Huhn keinen solchen Erfolg verbuchen, da sie eben absichtlich und systematisch wie der Roman solche Ansprüche unterläuft bzw. zurückweist. Maurice mit Huhn erzählt genau wie die andern Romane von Zschokke eine Geschichte, die eigentlich gar nicht erzählenswert ist, sie erzählt von einem Helden, der eigentlich gar kein Held ist, dem in seinem Leben auch nicht Nennenswertes passiert. So heisst es denn konsequenterweise, dass er den Besuch bei der Cellistin, der ausführlich beschrieben wird samt einem Geschlechtsakt, nicht gemacht hat. „Der Besuch beim Cellisten, bei der Cellistin hat nicht stattgefunden. Die Sehnsucht nach Abenteuer verführt zu den infamsten Lügen. […] Er hätte gern endlich einmal etwas erlebt. Die Wahrheit ist jedoch, daß er das Cello nach wie vor noch nicht einmal ausfindig gemacht hat.“ (S. 113)





Es geht darum, das Alltägliche zu erzählen, nicht das Ausserordentliche, die Abenteuer. Abenteuer finden nur in Romanen, im Kino, in den Medien statt. Die Kritik an dieser Art von Abenteuer haben wir in anderer Weise schon bei Otto F. Walter gesehen, der auch da Fortleben von Mythen und Vorstellungen in den Medien kritisierte. Es ist dies ebenfalls ein Aspekt des modernen Romans, dass er jene Literatur bzw. das, was in den Medien als Wirklichkeit dargestellt wird, als falsch, als lügenhaft entlarvt. Im Augenblick, wo die Medien, zunächst vor allem die Zeitungen an Bedeutung zunehmen, muss sich die Literatur neue Bereiche schaffen und nicht das noch einmal erzählen, was man schon in den Zeitungen oder im Fernsehen erzählt bekommt. Das „Fait divers“, welches im realistischen Roman häufig die Grundlage der Geschichte abgibt, wird besser in der Zeitung erzählt, der Roman erzählt daher gerade das scheinbar Nicht-Erzählenswerte. Es gibt eine Stelle, die dies deutlich thematisiert:

Maurice wird eines Tages von der Sucht nach Wirklichkeit erfasst, wie es heisst.

„Er hat es satt, immer nur im Kino und in Romanen das wilde Leben vorgeführt zu bekommen, das man ihm dort schon in seiner Jugend ausgemalt hatte, dieses Leben im zweiten Gang, mit Liebe, die so genannt wird und brennt, mit Freundschaft, die so genannt wird und glüht, […]dieses ganze Bilderbuchleben ist ihm über. (S. 143) Wirklichkeit ist nach Meinung von Maurice das Leben draussen vor der Tür, das darin besteht, ein Brot zu kaufen, ein Fahrkarte für die U-Bahn zu kaufen usw. Er geht also hinaus, ins Café und was macht er dort? Er liest die Zeitung, in welcher er wieder all den Katastrophen begegnet, die wahrscheinlich in dem Sinne nicht wirklich sind als sie uns nur durch die zweite Hand vermittelt werden, das zeigt sich auch in der Formulierung. Zschokke formuliert so allgemein, dass die Sätze keinen Informationsgehalt mehr haben, genauso wie die Sätze in Bichsels Jodok, wo alle Substantive durch Jodok ersetzt werden: „Häuser flogen auf der ersten Seite in die Luft, nachdem deren Gasleitungen Keller angesägt worden waren; Männer flohen auf der zweiten, nachdem sie ihre Frauen erdrosselt hatten; […] ein erfolgreicher Schriftsteller äußerte auf der vierten, er verstehe nicht, warum sich hierzulande erfolglose Schriftsteller besonderer Wertschätzung erfreuen dürften. Der Journalist, der ihn befragte, verstand das ebenfalls nicht. Gemeinsam schüttelten sie den Kopf über die Erfolglosen und lobten den Erfolg, redeten über Geld und erklärten einander, welche Literatur ihnen gefiel. Sie zitierten Sätze, die prall waren von dem, was sie aus Broschüren kannten und als Wirklichkeit bezeichneten.“ (S. 144)

Unschwer sich vorzustellen, dass Zschokke nicht zu jenen erfolgreichen Schriftstellern gehört, ja, er gehört eben überhaupt nicht zu jenen, die Erfolg haben, die Sätze über die Wirklichkeit sagen, die in Broschüren stehen. 

An einer späteren Stelle heisst es hingegen von Maurice, dass Maurice, obwohl um ihn herum Leute krank werden und sterben, nichts Erwähnenswertes erlebt. „Er liest aus diesem Grund gern packende Erzählungen von Gelähmten, Krebskranken, Krieg, Liebe, Drogen, Haß, Diebstahl, Mord, Selbstmord, möchte sich verlieben, hassen, in den Krieg ziehen, Frieden genießen, blickt von den Buchseiten auf, schaut in seinen grauen Alltag, der ihn nicht packt, und trinkt noch einen Schluck.“ (S. 202)

Maurice scheint bald unter diesem gewöhnlichen Leben zu leiden, bald aber auch das Gewöhnliche, die alltägliche Beobachtung zu lieben, es zu schätzen, dass er die im Sand badenden Spatzen beobachten kann.

Man könnte jetzt denken, dass das ja gerade die Wirklichkeit sei, aber Zschokke hat ein anderes Verständnis von Wirklichkeit, nicht das vom Alltäglichen Abweichende ist die Wirklichkeit, sondern das Alltägliche. Er weigert sich eine Wirklichkeit zu erzählen, die der Wirklichkeit in der Zeitung entspricht.

Zu einem solchen Roman gehört, wie wir nun schön öfters gesehen haben, dass er seine Schreibverfahren thematisiert. Dazu ist zunächst einmal zu sagen, dass wir es mit einem Erzähler zu tun haben, der zwar ich sagt und sich immer wieder einmal zu Wort meldet, den wir aber nicht identifizieren können. Manchmal scheint er mit Maurice identisch zu sein, manchmal scheint es der scripteur zu sein, also der Verfasser des Romans, so wenn er S. 65 plötzlich bemerkt, dass er ja die Figur Hamid gar nicht richtig eingeführt habe und dies nun nachholt, indem er sagt, warum Maurice und Hamid einander kennen. Man erfährt, dass sie sich in einem Internat in der Schweiz kennen gelernt haben.

S. 152 bemerkt er, dass Maurice ein Gedicht gelesen habe, „dass aber nicht hierher passt“. Eine Seite später zitiert er es dann trotzdem.

Wieder etwas später schreibt er: „Ich habe den Kanal gestrichen voll, um zwischendurch einmal eine Redewendung einzuflechten, die zwar, wie das Gedicht weiter vorne, weder zu mir noch an diese Stelle paßt, die mich aber aufzuheitern vermochte, als sie mir eben gerade durch den Kopf wischte.“ (S. 169)

Er schreibt gerade das, was nicht passt und zwar weder an die Stelle, wo wir gerade sind, wobei eigentlich, wie wir unterdessen begriffen haben, sowieso nichts passt, so dass wir uns fragen können, warum es überhaupt passen muss, wenn sowieso nichts passt. Solche Stellen machen uns darauf aufmerksam, dass wir etwas erwarten, was nicht der Realität entspricht.

Auf der einen Seite scheint der Ich-Erzähler oder scripteur einfach vor sich hin zu schreiben. So gibt es zum Beispiel auch immer wieder Lexikoneinträge, der erste ist wohl nicht zufällig „débauche“ frz. für Ausschweifung. Er macht sich dann Gedanken darüber, dass er nicht eine Ausschweifung, sondern eine Abschweifung mache. Abschweifungen kann man eigentlich nur feststellen, wenn es einen roten Faden gibt, aber Zschokke gibt uns keinen roten Faden an die Hand. Zwar wünschen sich alle einen roten Faden in ihrem Leben, aber diesen roten Faden gibt es eben nicht: „Schließlich wünschen wir uns alle so sehr, in unserem Leben einen roten Faden zu erwischen, an dem wir uns festhalten können, an dem wir uns entlanghangeln können, ans Ende unserer Tage, am liebsten bis ins Grab hinein, wünschen uns aus dem Labyrinth heraus, möchten ein Schicksal haben, Geschichte, einen dicken, roten Faden, ein Tau von einem Faden, der stark ist und hält. […] Also zerbrechen sich einige den Kopf darüber, wie sie sich eine Form, einen Weg, ein Ziel geben könnten. Sie erfinden in ihrer Not Geschichten mit Hand und Fuß, Anfang und Ende, Aktionen und Reaktionen, Ursachen und Wirkungen, Leichen, Polizisten, Intrigen, Liebe, Leidenschaft, Schicksal, Tod.“ (S. 198)

Den roten Faden gibt es nur noch in den Geschichten, die die Leute erfinden, es gibt ihn nicht im wirklichen Leben. Maurice ist auch in diesem Sinn ein moderner Held, dass es in seinem Leben keinen roten Faden gibt, dass man aus seinem Leben keine Geschichte aus Hand und Fuss machen kann.  

Zschokke hat es also darauf angelegt, ständig gegen unsere Erwartung von einem gut gebauten Text zu verstossen, indem er die Personen nicht richtig bzw. zu spät einführt, indem er ein Rätsel mit dem Cello einführt, das aber eigentlich gar kein Rätsel ist, es erweist sich nämlich, dass Maurice nur in einem Geschäft nachfragen muss, wer dort wohnt, um zu erfahren, was es mit dem Cello- oder dem Klavierspiel auf sich hat. Er lässt uns auch im Unklaren darüber, wer den Text schreibt, wer das Ich ist, das immer wieder Bemerkungen macht oder ob es überhaupt mehrere Stimmen gibt, die dazwischen reden, wie es an der Stelle scheint, wo er uns endlich den Titel erklärt. Maurice mit Huhn ist, wie auch der Klappentext zeigt, ein Bild von Albert Anker. Nur, was hat ein Bild von Albert Anker mit Maurice in Berlin zu tun, der zwar, wie manchmal angedeutet wird, wahrscheinlich ein Schweizer ist? (Zschokke in Ins aufgewachsen). S. 188 (das ganze Buch hat 239 Seiten) ist von diesem Gemälde die Rede, wobei vor allem erzählt wird, wie die früheren Reisenden auf der Reise durch das Grosse Moos krank wurden und sich in Bern erst einmal auskurieren mussten, was dann der Bau der Eisenbahn für Vorteile gebracht hat, dass Anker selbst, der nie mit Namen genannt wird, öfters nach Paris gereist sei, was er direkt von seinem Dorf aus konnte, weil da die Züge alle anhielten. Endlich wird auch das Bild beschrieben, bezeichnenderweise hat Zschokke ein nicht narratives Bild ausgewählt, ein Porträt von einem Huhn und dem Sohn des Malers, das heisst, ein Bild auf dem nichts geschieht, das einfach meisterhaft gemalt ist. Das Bild hänge im Büro des Direktors der Strafanstalt im Grossen Moos. Das ist es denn auch schon, ausser dass der Bub auf dem Bild Maurice heisst wie der Held der Geschichte und dass von der Strafanstalt etwas weiter vorn schon einmal die Rede war, gibt es keinen Zusammenhang mit dem, was im Buch erzählt oder eben nicht erzählt wird. Es folgt dann eine Episode von einem Ich mit einer Tochter, welches zugleich den alten Vater pflegen muss. Der Abschnitt wird abgeschlossen mit einer Frage: „Was für ein Sohnemann, was für ein Vater, was für eine Tochter? Was für ein Durcheinander. Wer hat hier dazwischen gesprochen? Maurice’ Freund? Ein Jugendfreund? Ein weiterer Maurice?“ (S. 194) Damit wird auch noch die Sprechinstanz verwischt. Man kann sich fragen, wer eigentlich noch gut steht für den Text.

So sehr der Text seine Willkürlichkeit, das Unpassende betont, er muss auf der andern Seite doch auch gewisse Beziehungen herstellen. Dazu dient das immer wiederkehrende Cello- bzw. Klavierspiel, dazu dienen auch kleinere witzige Verknüpfungen, so fährt zum Beispiel Maurice mit dem Rad in Berlin herum. Ein paar Seiten später begegnen wir, diesmal in der Heimat von Maurice einem seltsamen Umzug, in dem Männer in Sänften getragen werden. Maurice erfährt, dies seien Sträflinge, welche die Sänften in der Werkstatt aus alten Fahrradrahmen zusammen geschweisst hätten. Dies wiederum wird kommentiert: „Das Fahrradmotiv wurde hiermit auf unangestrengte Weise einmal mehr aufgenommen, wie auch auf die Sehnsucht von Schicksalslosen nach Vertreibungs- und Gaskammererfahrungen in diesen Ausführungen meiner Meinung nach in schönster Rondomanier eingegangen wurde.“ (S. 184) Zschokke weist hier einerseits darauf hin, dass sein Roman, wie viele moderne Roman nicht den roten Faden der Geschichte sondern die motivische Verknüpfung, wie sie in der Musik verwendet wird, zur Grundlage haben. Er thematisiert damit sein Verfahren und gibt dem Leser zugleich Hinweise, wie die Zusammenhänge zu suchen sind. Zugleich ironisiert er auch diese motivische Verknüpfung, die hier eher witzig ist. So gibt es z. B. einen Wörterbucheintrag Sebastobol, weil Maurice offenbar im Duden liest. Es gibt dann allerlei über den Herbst in Berlin, über einen Totentag in Mexiko, über das letzte Silvesteressen des bereits todkranken Mitterand, wobei ausführlich auf einen Vogel eingegangen wird, den er gegessen hat. Der nächste Abschnitt beginnt mit „Was für ein majestätischer Bart über Großmutters Oberlippe. […]. Von welcher Großmutter ist hier gleich noch mal die Rede? Von der Großmutter der zeitungslesenden Führungskräfte, genauer gesagt, derjenigen des Vorstandsvorsitzenden Sebastopol, noch genauer gesagt, der Großmutter des Vorstandsvorsitzenden Schäufele aus Sewastopol.“ (S. 54)

Da Herr Schäufele aus Sewastapol Erfolg hat, wird über diejenigen gesprochen, die in der Fremde Erfolg haben.

So gibt es auch einen Eintrag Nomen, der indirekt darauf hinweist, dass man auf die Namen achten muss, und in der Tat gibt es kuriose Namen in dem Buch. Der Regisseur, der der den ganzen Faust I und II ungekürzt aufgeführt hat, heisst Her Kurzweil. Dann gibt es einen Herrn Gernot Pflaume, der sich von einem Dr. Mus behandeln lassen sollte, nachdem er einen Unfall gehabt hat. Vorher war schon immer davon die Rede, dass man mit Zwetschgen Kuchen machen kann, mit Pflaumen aber Mus. Der Text entsteht aus der Sprache und den sprachlichen Abwandlungen und nicht aus der Realität. Das Café, in das Maurice immer geht, heisst Solitaire, nicht gerade ein einladender Name für ein Café, welches denn auch am Ende des Romans eingeht, wie schon im Laufe des Romans viele Geschäfte in diesem Quartier eingegangen sind.

 

Wenn wir zurückdenken an die Texte, die ich bisher behandelt habe, so können wir feststellen, dass es Hugo Loetscher, Otto F. Walter und Dürrenmatt irgendwie noch um eine Botschaft geht. Otto F. Walter entwickelt alternative Lebensmodelle, Utopien, Hugo Loetscher versucht menschliche Möglichkeiten der Existenz aufzuzeigen, Max Frisch hat es mit dem Problem der Identität zu tun, Dürrenmatt thematisiert den Zerfall von Ordnungen und Werten. Bichsel und Zschokke hingegen versuchen so etwas, wie sich überhaupt dem Literaturbetrieb zu entziehen, sie haben keine Botschaft, sie nehmen in diesem Sinn nicht Stellung zu den politischen oder gesellschaftlichen Problemen, was sich ja gerade daran zeigt, dass sowohl Bichsel wie Zschokke den Ausschluss thematisieren: sie stellen das nicht dar, was man in der Welt für wichtig hält, sie stellen aber auch das nicht dar, was man von ihnen erwarten könnte, sie versuchen, Kunst zu machen und sich allem zu entziehen, was die Kunst in den Dienst von etwas anderem stellt. In einem Essay mit dem Titel Amateure, Autodidakten, Dilettanten, ich, welcher im Band Ein neuer Nachbar enthalten ist, schreibt Zschokke: „Kunst ist es, das andere suchen, sich zu entziehen, das Machbare nicht zu machen, die übriggebliebenen Unmöglichkeiten herauszuschälen und anzugehen in dem allgemeinen Gejohle und Besäufnis, beim ausgebrochenen Kunst-zum-Anfassen-Trubel. Bei der Kunstschwemme nicht mitzuschwimmen, um selber nicht bachab zu gehen.“ (S. 194)

Diese Weigerung, das Gejohle mitzumachen, schlägt sich nicht zuletzt auch darin nieder, dass nicht nur Sinnvolles erzählt wird, oder dass uns jedenfalls der Sinn des Erzählten nicht unmittelbar einsichtig ist. Der Reiz des Romans besteht nicht darin, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird.

(Aus einer Vorlesung an der Universität Basel, 2oo6)