
Heinz Schafroth und Matthias Zschokke im Briefwechsel über Robert Walsers Mikrogramme
Walsers Mikrogramme «Aus dem Bleistiftgebiet» sind ein Konvolut von 526 Blättern und Blättchen verschiedenster Formate und Papiersorten von unterschiedlichster Qualität. Sie sind beschrieben mit einer mit den Jahren immer noch kleiner werdenden Bleistiftschrift (durchschnittliche Höhe der Buchstaben zuletzt 1 mm!). Ein Grossteil von Walsers in Bern zwischen 1925 und 1933 entstandenem Werk ist so überliefert. Wobei Walser einen Teil der betreffenden Texte ins Reine geschrieben, bearbeitet und dann an die Feuilleton-Redaktionen versandt hat. Andere Mikrogramme sind unbearbeitet, mit einer Publikation scheint Walser nicht mehr gerechnet zu haben. Die Mikrogrammschrift wurde lange Zeit für eine Geheim- oder Stenogrammschrift gehalten, bis Jochen Greven entdeckte, dass es sich «bloss» um eine Kleinstschrift handelt, und in den 60er und 70er Jahren die ersten Texte entzifferte (darunter u. a. den «Räuber»-Roman). Morlang und Echte haben das Entzifferungswerk in den sechs Bänden «Aus dem Bleistiftgebiet» fortgesetzt und in 17-jähriger (Sisyphus-)Arbeit nun zu Ende geführt.
Heinz Schafroth: Jochen Greven, der Walsers Gesammelte Werke in zwölf Bänden herausgegeben hat, musste sich schon 1978 die Frage stellen lassen, ob er «nicht ein verdienstvollerer Herausgeber gewesen wäre», wenn er «manches weggelassen hätte». Oder, in einer andern Rezension, ob Walser «nicht wunderbarer war, als man noch nicht so viel von ihm kannte». - Jetzt, nach Erscheinen von Band 5 und 6 der von Werner Morlang und Bernhard Echte entzifferten Mikrogramme «Aus dem Bleistiftgebiet», müsste der Rezensent von damals sich vollends «mit seinem Kulturkompass ziemlich alleingelassen» fühlen «vor diesem buntscheckigen Durcheinander» der Walser'schen Prosa.
Gerade zum Ansinnen, schreibend einem «Kulturkompass» zu folgen, hat Walser sich darin präventiv mancherlei einfallen lassen. «Ich vermag natürlich», merkt er einmal süffisant beiläufig an, «besser zu dichten, als wies hier geschieht. Ich spare mich für später auf.» Oder er erteilt («mit lispelnder Donnerstimme und mit kreischender Nachtigallenträllerigkeit») seine Lektion über «die Gutenbuchfrage» und tut kund, «in ebensolchem Masse ein Freund des Schund- sowie des guten Buches» zu sein: «Indem man dem Publikum das Vergnügen am Schundbuch wegzunehmen bestrebt gewesen ist, war man nicht im Stande, ihm die Sehnsucht nach dem guten Buch einzuimpfen. [...] Doch weshalb sollte nicht gerade das bei den Gutenbuchvertretern unbeliebte schlechte Buch es gewesen sein, das durch sein Wahrnehmbarsein die schönere Schwester irgendwie schützte?»
Pilcher, Rosamunde, schützt Virginia Woolf? Wers glaubt, wird selig. Wer nicht, muss immun sein: gegen die heimliche Stringenz von Walsers (über mehrere Seiten mäandernder) Argumentation; und gegen das irgendwie anrüchig, abwegig Schöne seiner Redeweise, in der Ernst und Ironie und Ironisierung der Ironie eine so einzigartige Legierung ergeben, dass jede Wahrheit nie mehr als ein poetischer Augenblick sein kann. - Lieber Matthias! Einst hast du mein Entzücken über die Mikrogramme rüde abgekanzelt mit dem Satz: «Legt doch diesem Echte endlich das Handwerk!» Hattest du da etwa einen Walser-Kompass im Kopf?
Matthias Zschokke: Wird uns Mozart lieber dadurch, dass wir von ihm alle sechsundzwanzig Klavierkonzerte kennen? Oder wird unsere Liebe zu ihm verwässert durch das routiniert gefällige Geklimper, das sie zur Hälfte sind; Tagesware, entstanden, um Krautjunkern ihre langen, dunklen Winternachmittage auf böhmischen Landgütern zu verkürzen oder sitzengelassene niederösterreichische Baronessen zu trösten? Wäre weniger Mozart nicht mehr?
Von Picasso dachte ich vierzig Jahre lang, er sei nichts als ein monströser Kunstmarktstratege und grotesk überschätzter Schnellpinsler, weil von ihm dermassen viele Gelegenheitsarbeiten kursieren und ich zufälligerweise nur solche kannte. Neulich stand ich bei Beyeler in Basel vor drei, vier Picasso-Gemälden, die diesen Namen verdienen und mich dazu veranlasst haben, meine Meinung zu revidieren. Weniger Picasso wäre mit Sicherheit mehr.Walser hat keine kanonisierten Hauptwerke geschaffen. Sein Œuvre ist ein grandioses Gestolper, ein Frischling auf wackligen Beinen, ein purzelnder Hund im Herbstlaub, der im Übermut unvermittelt in fremde Waden beisst, ein edler Araber, ein Mondkalb, das auf Wachstäfelchen spielt, ein sich selbst kauendes Kamel, ein trauriger Esel. Es geht seines Wegs, produziert Fehlzündungen, überschlägt sich, implodiert, jagt davon, tanzt elegant auf der Stelle usw. Ich gebe zu, oft sehne ich mich, wenn ich darin lese, nach einem «verdienstvollen Herausgeber, der manches weglässt». Sobald ich die beiden vorliegenden Bände jedoch auf Überflüssiges prüfe, gerate ich ins Stocken. Ist ein «kalbskopfjetztebenfallsvertilgthabendes Dienstmädchen» ein Wassertrieb, den Walser vor Veröffentlichung gekappt hätte (und ein Nachlassverwalter heute kappen sollte), oder gehören gerade solch verwegene Blüten zur «einzigartigen Legierung», wie du es nennst? Hast du dich beim Lesen nicht manchmal über das Treten vor Ort, das Geleier und Geeier geärgert? Willst du einen Sack Schulbubengedichte lesen müssen, um dazwischen eine Hand voll wunderbarer entdecken zu können?
Heinz Schafroth: Die Wunderbaren sind manchmal ergreifend unbeholfen und traurig, sind wie von Hölderlin/ Scardanelli und können wie folgt enden: «Und in der Tat vermocht ich allerlei / mir vorzuspiegeln, / und obs tapfer sei, / wenn man sich diesbezüglich Mühe gibt, / lasse ich fraglich sein. Ich gab mir Mühe, / damit ich nicht an Unlust früh verglühe.»
Nein, geärgert habe ich mich schon deshalb nie, weil Walser es zeitweise darauf anlegt, zu ärgern: mit erzählerischer Sprunghaftigkeit und Flüchtigkeit, mit der Verspieltheit im Umgang mit ernsten zeitgenössischen oder geschichtlichen Themen, mit seinen exzentrischen Wortbasteleien und all den sonstigen Verstössen gegen jede Form von klassischem Stil. Erst die Mikrogramme haben mir ganz und gar die Augen geöffnet, wie sehr Walser ein Anti-Proust ist. Aber auch dafür, dass Kafka ihn nicht zuletzt deshalb bewundert und geliebt haben muss, weil Walser, wenn ihm danach zu Mute war, so ohne Ehrgeiz, skrupellos zu schreiben wagte. Oder so tat, als wagte ers: «Was ich hier schrieb, braucht nicht schon wieder, wie dies nun schon so oft der Fall war, ein Erfolg zu sein.»
Deine Fragen sind trotzdem nicht einfach beiseite geschoben. Ich muss mich schliesslich selber wundern, dass ich von den Mikrogrammen nicht genug bekommen kann. Wogegen ich, als Band um Band von Thomas Manns Tagebüchern erschien, ihrer (ihrer gestelzten Kunstlosigkeit) sogleich überdrüssig war. Dabei sind die Mikrogramme ebenfalls Tagebücher. Und bezeichnet sich Walser, kokett, aber wortgetreu, mehrmals als «Journalist». Er ist es im doppelten Sinne: weil er nur noch Zeitungen und Zeitschriften beliefert und weil er im «Bleistiftgebiet» eine Art Journal, ein Tagebuch also, realisiert. Anders als Mann, der das (All-)Tägliche zelebriert und zementiert, zerlegt Walser es in seine Bestandteile, jongliert damit, sammelt sie wieder ein und setzt sie neu zusammen, zu einem «Prosastückli», einem Gedicht. - Im Grunde wundere ich mich nicht wirklich!
Matthias Zschokke: «Gedehnter Schleim» nennt Alfred Kerr Thomas Manns Prosa (mit welcher Wonne ich das zitiere!): «Er ist ein Spiessbürger, ein berechnender, listiger, sehr behutsamer...»
Deine Schilderung des vorliegenden Bleistiftdschungels ist ein Genuss. Und mit jedem Wort hast du Recht. Trotzdem: Liesse sich aus den beiden Bänden nicht ein konzentrierter, toller herausdestillieren? Oder gehört für dich zum Tollen das Streunen, das Zeit- verplempern zwischen den wuchernden Sätzen? Baumeln sie dir nicht oft allzu absichtslos in den Scharnieren, von jedem Sinn und jeder Notwendigkeit losgelöst, schlackernd wie die Kiefer eines alten Staatsschauspielers, die sich, von jahrelanger Sprechtechnik müde geworden, anfangen selbstständig zu machen?
Würdest du die zwei Bücher so auch einem Lebenden abnehmen? Würdest du sie ihm nicht zurückgeben mit der Bitte, er möge sich doch noch einmal hinsetzen und überlegen, ob ihm das wirklich alles unverzichtbar vorkomme? «Ob sie, was sie aussprach, für eine Leistung von bleibendem, hohem Wert halte, fragte ich sie. Lächelnd erwiderte sie, sie kümmere sich hierum keineswegs.» Nimm einmal an, dir fehlt die Geduld, auf solch herrlich entwaffnende Sätze zu warten...
Walser steht für viele im Verdacht, geschwätzig zu sein. Jede fragwürdige Arabeske, die neu hinzukommt, nährt dieses Vorurteil und verstellt zusätzlich die Sicht auf die Tatsache, dass er mit die schönsten, dichtesten, schwebendsten, lustigsten, traurigsten Seiten der Weltliteratur geschaffen hat. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass es Genies gibt (zu denen er ohne Frage zu zählen wäre): Entfällt deswegen für spätere Herausgeber die Pflicht, seiner Produktion gegenüber eine Haltung einzunehmen und zu entscheiden, dieses Stück Prosa ist ein Gewinn und gehört veröffentlicht, jenes ist eine reine Fingerübung, eine Variation, eine Wiederholung und gehört ins Archiv?
Heinz Schafroth: Den Herausgeber, der für mich aus- und abwählt, möchte ich mir verbeten haben. Und das Vorurteil, Walser sei geschwätzig, entdeckt, wenn es mehr als ein Vorurteil sein
will, dass in den Mikrogrammen die Geschwätzigkeit dem Pfeifen im finsteren Walde gleichen kann. Oder einem Ertrinken, bei dem Ertrinkender und Rettungsschwimmer ein und derselbe sind. Ja, es schwätzt in und aus Walser der unbedarfteste Minnesänger aller Zeiten; aber ebenso eine Funken sprühende Aufmüpfigkeit, die sich nicht einschüchtern lässt durch die allseitige Attitüde des Wichtig-, zumal Sichwichtignehmens.
Weit mehr bewegt mich die Sorge, dass Walser in unseren Briefen allzu sehr in die Ecke seiner «Lachfüllhornhaftigkeiten» gedrängt wurde. Dass sie die Schärfe und Treffsicherheit verpassten, zu denen sein Schreiben sich aufrappeln kann. In jener Geschichte z. B., in der eine Frau dem Mann «das Ding», das ihn irritierend und provozierend von ihr unterscheidet, abschneidet, brätelt und aufisst. Das Ungeheuerliche ist bei Walser aber nicht die Tat, sondern wie seine Sprachtanzschritte eine Choreografie des Wesens der Geschlechter und des Geschlechterkampfs entwerfen, mit einem Finale, das so weder Macho noch Feministin freuen kann: «Sie wunderte sich, wie sie sich hatte ereifern können. Er war nicht anders, auch sie nicht [...].» - Und noch ein Beispiel (für viele!), ein einziger Satz aus dem langen Prosastück über Voltaires Biografie des Schwedenkönigs Karl XII. Er könnte von weitem (aber nur so!) ein Voltaire-Zitat sein und gilt dem König und seinen Soldaten: «Er war, was Essen und Trinken betrifft, anspruchslos, deshalb durften sie es auch sein.» Ein Satz wie eine vergiftete Praline! Und mit bösen Folgen für historische Grösse und die Faszination durch sie und für jede Überlieferung, die die Machtverhältnisse bejubelt. Ein Satz wie dieser blitzt nicht zuletzt deshalb so subversiv auf, weil genügend andere harmlos geschwätzig auf ihn zu- und wieder von ihm wegführen.
«Es hat geklirrt, wenn er einherschritt», fällt Walser zu Cesare Borgia ein. Und als Nachsatz: «Hoffentlich klirre ich hier nicht minder.» - Lieber Matthias, deine Frage, ob ich die beiden Bände «so auch einem Lebenden abnehmen» würde, ist eine klirrende. Aber die Antwort einfach: Her mit dem Lebenden!
Matthias Zschokke: Kann ich meine eigene Prosa durch Weglassungen verdichten? Kann das ein anderer für mich tun? Lässt sich unser Briefwechsel zusammenstreichen und dadurch verbessern? Oder ist, wenn überhaupt, immer nur die Urfassung, das Fragment, das Ungekämmte lebendig und spannend? Eine Frage, mit der ich bei meiner Arbeit täglich konfrontiert bin, und die sich beim Lesen dieser Mikrogramme geradezu aufdrängt. Die beiden Bände bilden eine amorphe Masse. Will ich etwas herausheben, zerfällts zu Staub, will ichs wegpusten, erweist es sich als Granit. Nenne ichs gut, sagt es soso, nenne ichs schlecht, sagt es aha. Jeder Optimierungs- und Rationalisierungsvorschlag gleitet daran ab. Es ist radikal autonom.
Selten habe ich etwas gelesen, bei dem ich weniger das Gefühl hatte, es gelesen haben zu müssen. Das hat mich zunehmend beglückt: Lauter Sätze, die ebenso gut nicht dastehen könnten, wie sie dastehen. «Seine Gedanken umschwirren ihn, umringen ihn wie klagende, staunende Kinder, die preisgegeben sind und ins Haus hinein möchten, aber er findet stets neue, die sein sein wollen, die er wieder nicht behält.» Das Ganze gleicht einer Wiese, die grün ist, einem Mann, der über eine Strasse geht, einem Spatz, der hüpft: Es ist und tut, was es ist und tut, nicht, um zu gefallen, sondern weil ihm nichts anderes für sich einfällt. «Ich wünsche nicht, dass Sie mit mir zufrieden sind, aber mit sich.» Entweder hält man das für eine Zumutung und wendet sich davon ab, oder man bewegt sich mit wachsender Vorsicht durch dieses Bleistiftgebiet, wird von Seite zu Seite wacher, sich selber fremd und eigentlich so, wie man gern wäre: frei.
«Keiner hat was vom anderen, wenn er ihn versteht, aber viel, wenns ihm lieb ist, ihn zu sehen, und es ihn erquickt, wenn er spricht.» Dir war ganz offensichtlich lieb, Walser wieder einmal zu sehen und sprechen zu hören. Mir auch.


Von Matthias Zschokke
Meine erste Robert-Walser-Begegnung hatte ich mit neunzehn. Eine Frau mittleren Alters reichte mir «Fritz Kocher's Aufsätze». Ich sollte ihr daraus vorlesen, und zwar nicht irgendwie, sondern reinen Herzens, gewissermassen mit roten Backen. Dazu lächelte sie sonntagsschullehrerinnenartig.
Ich wollte ihr gefallen und gab mir alle Mühe, einen bubenhaften Eindruck zu erwecken. Bis heute schüttelt's mich, wenn ich daran zurückdenke. Alles an den Aufsätzen kam mir verlogen vor. Ich fand kein reines Wort darin. Im Gegenteil, jede Seite wirkte auf mich wie eine Pose, jeder Satz wie ein Versuch, Unschuld vorzutäuschen - ein einziges Sich-Verstellen und So-tun- als-ob. Den Effekt erkläre ich mir heute mit der Unerfahrenheit des Autors: Die Aufsätze waren sein Erstlingswerk. Wie es scheint, hat er als Erstes die Lücken zwischen den Zeilen für sich entdeckt und war jugendlich stolz auf jede Doppeldeutigkeit, die ihm gelang. Das verlor sich mit den Jahren. Zuletzt kümmerte er sich überhaupt nicht mehr darum, ob er sich gerade auf, über oder unter der Zeile bewegte - es ging ihm nur noch um die Bewegung selbst, ums Leben auf dem Papier.
Im Band VI der Mikrogramme fand ich später ein Zitat, das meine Unterstellung, Fritz Kocher spiele nur den Bescheidenen, entkräftet. Jemand meint da abschätzig von einem jungen Mann: «Seine Bescheidenheit ist eine Unbescheidenheit», worauf eine Frau den Gescholtenen in Schutz nimmt und erwidert: «Diesen Vorwurf kannst du jedem Bescheidenen machen.»
So oder so: Nach dem Kochererlebnis habe ich lange Zeit einen Bogen um Walser gemacht und begegnete jedem, der von ihm sprach, mit Misstrauen. Bis mir ein Freund, von dessen literarischer Integrität ich überzeugt war, eines Tages ohne Kommentar den «Räuber»-Roman schenkte. Da war's um mich geschehen.
Seither kriege ich dann und wann das Walserfieber. Es beginnt meistens damit, dass mir zufällig ein Text von ihm in die Hände fällt, worauf im eigenen Schreiben plötzlich da und dort zusammengesetzte, substantivierte Wortungeheuer ihr Haupt erheben, später taucht das Wort «gleichsam» auf. Es ist, als ob ich anfangen würde, in Zungen zu sprechen. Die Inhalte verschwimmen, ich schweife ab, meine Stimme nimmt mehr und mehr den Klang eines Imitators an, wobei nicht genau auszumachen ist, wer da eigentlich imitiert werden soll.
Manchmal versuche ich mir einzureden, dieses «Walsern» habe weniger mit ihm zu tun als mit dem Schweizerdeutschen an sich, mit unserer Sozialisation, unserer nationalen Eigenart, unserem Verständnis von Humor. Denn ein wenig ergeht es mir wie dem Basken Don José Lizzarabengoa in «Carmen» von Prosper Mérimée. Der gesteht in der Todeszelle, er sei Carmen vor allem deswegen verfallen, weil sie ihn bei der ersten Begegnung baskisch angesprochen habe («unsere Sprache, mein Herr, ist so schön, dass es uns erzittern macht, wenn wir sie in der Fremde vernehmen», offenbart er).
Doch ganz so leicht lässt es sich nicht erklären. Von der regional gefärbten gemeinsamen Sprach- und Gedankenmelodie abgesehen, bleibt das Phänomen bestehen: Ein Schweizer Autor, der den Trampelpfad des geradlinigen Erzählens verlässt und sich ins Unterholz des freien Redens vorwagt, dem wird dort früher oder später Walser begegnen. Wer sich dann nicht entschieden abwendet, das Kreuz schlägt und in Knoblauch beisst, der wird diesem Untoten verfallen und von ihm tiefer und tiefer in den Wald gelockt, so tief, bis er sich darin verliert. Orientierungs- und hilflos steckt er dann mitten im unlösbar verfilzten Dschungel fest. Da sind Sumpfstellen und Lichtungen, Insekten und stumme Tiere - es ist ein unheimlicher Ort, aus dem man nur noch mäandernd, purzelnd, sich windend, walsernd eben wieder hinausfinden kann. Und ist man endlich draussen, kann man sich nur entweder schwören, von Stund an streng walserabstinent zu leben, oder man lässt sich wieder und wieder von ihm verführen und verliert sich wieder und wieder fiebernd in seiner halt- und bodenlosen Zwischenwelt. Es ist wie ein Rausch. Walser ist ein schrecklicher Autor, ein Tyrann. Er bestimmt Richtung, Tempo und Dauer der Expeditionen. Entweder folgt man ihm, oder man verliert ihn aus dem Blick. Gleichberechtigt neben sich hergehen lässt er niemanden.
Seit den siebziger Jahren ist es für einen Schweizer Schriftsteller schier unmöglich, nicht irgendwann mit dem Walservirus in Berührung zu kommen. Ein paar sind immun dagegen; die haben Glück. Viele sind gesundheitlich stabil; die bekommen nur leichte Walsergrippen, welche sich in unregelmässigen Abständen wiederholen. Ein paar haben Pech; die werden vom Fieber gepackt und schlottern sich, einmal infiziert, von einem erschöpfenden Anfall zum nächsten.
Auch Leser werden vom Virus befallen. Bei ihnen sind die Symptome: Arroganz gegenüber anderen Autoren und Lesern, versteckt hinter demonstrativ zur Schau gestellter Bescheidenheit. Die Infizierten stehen wie Zeugen Jehovas an den Rändern des Literaturbetriebs. Sie tragen nicht selten die eine oder andere Walserbroschüre bei sich, Heftchen, in denen kurze Geschichten abgedruckt sind von Würsten oder von Nägeln in Wänden, von Taschentüchern, toten Fliegen, Saaltöchtern und deren Schühli, Schneeflocken. Aus den Augen der Fiebernden flackert eine Mischung aus Besessen- und Gelassenheit, Bigotterie und Verzückung. Ihre Gesichter strahlen etwas aufreizend Duldendes aus, hinter dem die impertinente Sicherheit glimmt, den literarisch klarsten Wein zu kennen und alle anderen bemitleiden zu dürfen als arme Wichte, die trübe Brühe saufen. Im Unterschied zu den Zeugen Jehovas wollen sie jedoch niemanden missionieren. Im Gegenteil, sie hüten Walser wie ihren Augapfel. Selbst untereinander hegen sie stärkste Vorurteile und sind meist der Überzeugung, nur sie allein würden ihn richtig zu lesen verstehen. (Was ich hier tue, ist leserfiebertypisch: Ich verunglimpfe pauschal alle anderen Walserleser.)
Seine Biografie hat mich nie besonders elektrisiert. Sicher, man kann sich als erfolgloser Autor - und welcher Autor ist das nicht - mit ihm identifizieren und trösten. Doch früher oder später hat jeder einen lichten Moment und realisiert, was so ein Verkanntsein konkret bedeutet - dieses Nichtvorhandensein in der Gegenwart, dieses Lebendig-begraben-Sein. Dann wird einem eiskalt, hohl, dunkel und leer im Kopf. Die romantische Faszination, die Walsers Vita ausstrahlt - die des radikal freien Dichters, des verkannten Künstlers, des einsamen Genies, des Kinomythos -, zerstiebt, wenn man sich dessen tägliches Leben in der Bieler Mansarde hautnah vorstellt, das Aufstehen am Morgen, das Die-Treppe-Hinuntergehen, das Hinaustreten auf die kurze Strasse, das Herumgehen in der schmalen Stadt, das Grüssen und Begrüsstwerden (dasselbe später in Bern), diese erbarmungslose Ernüchterung Tag für Tag, Minute für Minute. Ebenso wie Kafkas, Pessoas oder Kleists Biografie ist auch seine ohne Frage faszinierend und hebt ihn über das Alltägliche hinaus. Den Zugang zu den Texten verstellt sie jedoch eher, als dass sie ihn öffnet - in seinem Fall ganz besonders: Nicht wenige lesen ihn als einen Verrückten, als klinischen Fall, und missverstehen ihn so aufs Gründlichste.
Obwohl Lebensläufe den Leser oft besonders stark anrühren, ja packen - auch die von Glauser, Mozart, Woolf, Stifter, Schubert usw. -, vernebeln sie die Werke doch eher, als dass sie sie erhellen. Sie beglaubigen zwar meist auf beklemmende Weise die Kunst, die ihnen abgerungen wurde. Aber ich lese nicht ein Buch, weil es von einem Selbstmörder geschrieben wurde, sondern ich lese es, weil ich - auf meist nicht zurückzuverfolgenden Umwegen - darauf gestossen (worden) bin. Und dann ist da immer zuerst das Werk allein, das zu mir spricht. Wenn's mich begeistert, werde ich früher oder später zwangsläufig erfahren, wer der Autor oder die Autorin war oder ist und wie sie gelebt haben oder leben. (Was mich, nebenbei bemerkt, zunehmend ins Grübeln versetzt: Fast nie sind es helle Schicksale, die hinter den Werken stehen, welche mich ergreifen.)
"Neue Zürcher Zeitung", 27. Mai 2oo6

Bertolt Brecht, der im selben Jahr wie Walser gestorben ist, wurde vorgeworfen, er habe einige seiner Sachen abgeschrieben. Das entschuldigte er mit seiner sprichwörtlich gewordenen „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“, womit er den Glauben ans Urheberrecht und an den Autor als eigenständige, nicht austauschbare Instanz empfindlich ins Wanken gebracht hat. Später tauchten dann auch noch die französischen Strukturalisten auf (Foucault, Derrida usw.) und gaben denjenigen den Rest, die so etwas wie Autorschaft, Unverwechselbarkeit oder gar Einzigartigkeit im Schreiben und Denken für sich beanspruchten und von anderen forderten.
Ein Schriftsteller wird heute selbstverständlich als Interpret verstanden, der sich seine Texte aus den Tresoren der großen europäischen Bibliotheken oder aus amerikanischen Archiven besorgt und in seiner eigenen Diktion vorträgt, oder er hat sich, nach neueren Vorstellungen, durch den Internetdschungel zu schlagen, um von solchen Exkursionen mit literarischen Edelsteinen zurückzukehren, die er neu fasst und dann unter eigenem Namen auf dem Markt feilbietet.
Vielleicht werden Verse, Romane und Theaterstücke tatsächlich erst nach mehrmaliger Überschreibung, Bearbeitung, Politur oder Aufrauung wirklich rund und gut. Selbst von Goethe sind die besten Gedichte wahrscheinlich jene, die er nachgedichtet hat. Möglicherweise sind Sätze überhaupt erst dann reif und verdaubar, wenn der erste Frost in sie gefahren ist und einige Stürme über sie hinweggefegt sind. Auf jeden Fall sind mir solche in letzter Zeit lieber als all die grünen Dummheiten, die noch feucht sind hinter den Ohren und die ich nur deswegen willkommen heissen und loben soll, weil sie einem jungen, neuen Kopf oder meinem eigenen, schon etwas älteren entsprungen sind und noch jungfräulich zu sein scheinen.
Trotzdem empört sich in mir bis heute etwas gegen die Methode der Wiederaufbereitung. Vielleicht ist es meine protestantische Erziehung, mein eingebrannter Respekt vor fremdem Eigentum, oder es ist romantische Verklärung: Ich meine, Sätze müssten aus der Tiefe eines Autors ans Tageslicht geschleudert werden, oder höhere Mächte müssten sie ihm einträufeln. Nur dann dürfe einer sich Dichter nennen, wenn er ganz aus sich selbst heraus schaffe. Dieses „ganz aus sich selbst heraus“ gibt es nicht, das habe inzwischen auch ich kapiert, aber die Sehnsucht danach, die gibt es sehr wohl.
Damit komme ich zu Walser, mit dem ich es halte wie wohl die meisten: Ich lese ihn nur sporadisch und nehme ihn dann eher zu mir wie Schnaps, in kleinen Schlucken. Und wenn ich dann benebelt bin, lasse ich wieder die Finger von ihm.
Doch im letzten Buch, „Maurice mit Huhn“, sprang ich über meinen Schatten und habe es auch einmal mit dem Paraphrasieren versucht. Ich wählte zwei, drei Walserabschnitte zu diesem Zweck. Bei der Beschäftigung damit fiel mir etwas Entscheidendes auf: Walser lässt sich nicht unterbuttern. Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder von Ihnen, der es darauf anlegen würde, die Walserpassagen in meinem Buch verhältnismäßig rasch entdecken würde. Das finde ich bemerkenswert: In einer Zeit, in der alles per Mausklick geklont, überschrieben, kopiert und so lange hin und her geschoben werden kann, bis keiner mehr weiß, woher es stammt und was es ursprünglich meinte, gibt es offenbar nach wie vor Sätze, die nicht zu vereinnahmen sind und sich nicht im großen Strom des allgemeinen Bewusstseins, dem sogenannten Metatext, auflösen lassen. Sätze, die sich wie das gallische Dorf von Asterix und Obelix standhaft weigern, eingemeindet zu werden. Kein Brecht und kein Derrida werden es jemals schaffen, Walser zum Allgemeingut umzumünzen. Man kann den Walser nicht spielen, man muss Walser sein. Er ist extrem, radikal individuell, unverwechselbar, in keine EU-Norm einzupassen. Und das besonders Erstaunliche: er schafft das quasi ohne Stoff, ohne Handlung. Weder zeichnet er sich durch grosse Themen aus, noch durch überbordende Phantasie, noch durch einen besonders reichen Erfahrungsschatz, aus dem er schöpfen könnte. Es ist allein der Klang, der Rhythmus, die Melodie, was ihn heraushebt. Er transformiert jeden Vorgang, jeden Gedanken mit den dazukommenden Assoziationen in die deutsche Sprache, von der kein einziges i-Tüpfelchen ihm gehört, und schafft allein mit der eigenwilligen Anordnung der Wörter und der Satzzeichen Unverwechselbarkeit.
Ein Beispiel aus dem Bleistiftgebiet: Seine Gedanken umschwirren ihn, umringen ihn wie klagende, staunende Kinder, die preisgegeben sind und ins Haus hinein möchten, aber er findet stets neue, die sein sein wollen, die er wieder nicht behält (Aus dem Bleistiftgebiet, Bd. 5, S. 221). Was macht den Satz walsersch? Es fallen darin kleine Ungereimtheiten auf, Sprünge, Auslassungen, die das Ganze beschleunigen, verdichten und zum Schweben bringen. Zuerst lässt er Gedanken auftreten, die ihn „wie Kinder umschwirren“. Nach einem Komma fährt er mit einem „aber“ fort. Würde er sich korrekt an die Grammatik und ans Bild halten, müsste es doch eher mit einem „und“ weitergehen? Kinder umschwirren ihn, und es stossen immer noch neue dazu. Durch das „aber“ kommt eine Irritation ins Spiel; der Satz biegt um die Ecke. Die Bedrohung, die im „klagende“ und „preisgegeben“ anklingt, wird verstärkt. Die Kinder vor dem Haus werden gewissermassen ausgeblendet, der Blick wird auf die neuen nach dem „aber“ gerichtet, die „sein sein wollen“ (was drängender ist als das anfängliche „ins Haus hinein möchten“). Nach einem weiteren Komma schliesst er damit, dass er diese neuen Kinder „wieder nicht behält“. Daraus müssen wir folgern, dass er offenbar auch diejenigen, die ihn anfänglich umschwirrt haben, nicht hinein gelassen und längst vergessen hat. So zappelt, dehnt und windet sich der Satz, während er sich entwickelt, wie ein Ferkel, das man auf der sonnenbeschienenen Wiese eingefangen hat und in den dunklen, kalten Stall trägt, wo es nicht hinein will.
Vieles kommt mir so vor von dem, was Walser schreibt. Als ob er seinen Sätzen zu dicht auf den Fersen gefolgt und dadurch in ihren Sog geraten sei, in ihren Windschatten, wo er in erster Linie ihren Rücken vor Augen hatte und das Ziel, auf das sie zusteuerten, immer nur sporadisch mal links, mal rechts an ihnen vorbei kurz aufleuchten sah. Das machte es für ihn offenbar spannend und abenteuerlich: Um zu erfahren, wohin seine Gedanken ihn führten, liess er sich von ihnen leiten. Hätte er jeweils vorab gewusst, wo sie enden würden, wäre es ihm möglicherweise unterwegs langweilig geworden, und er hätte sie allein weiterziehen lassen. Das ist wie mit dem Spazieren, mit dem es aus ist, sobald ein Ziel in Sicht kommt.
Zur Zeit entstehen überall Schreibakademien. Vielleicht versucht man bereits in einer von ihnen zu unterrichten, wie man Walser werden kann. Es heisst, er habe seine Texte niemals verbessert. Im Detail entspricht das sicher nicht der Wahrheit – jeder, der schreibt, weiss, dass Korrekturen unerlässlich sind –, im erweiterten Sinn kann ich es mir aber gut vorstellen.
Ein Schritt auf dem Weg zur Walserwerdung könnte also ein selbstauferlegtes Korrekturverbot sein. Wer in einen Satz einsteigt und sich darin verhaspelt, fängt normalerweise noch einmal von vorne an. Insbesondere beim Schreiben auf dem Computer fällt das spielend leicht. Würden nun die Schreibstudenten dazu angehalten, ihre irregelaufenen Anfänge am Leben zu lassen und sich zu bemühen, selbst den verkorkstesten Unsinn noch so hinzubiegen, dass sich auch aus ihm zu guter Letzt ein Tropfen Sinn keltern liesse, kämen möglicherweise walserähnliche Sätze zustande. Nicht walsersche, aber immerhin walsernde, solche, die sich im Entstehen selbst erfinden und nur aus sich selbst heraus verstanden werden können und also von Anfang bis Ende gelesen werden müssen – was bei Walser unumgänglich ist: Wer ihn kennen lernen will, muss ihn lesen, Satz für Satz. Es hat keinen Sinn, ihn zusammenzufassen oder nachzuerzählen. Es geht immer um jedes Wort, um jeden Buchstaben; um die Art, wie da ein Gedanke den anderen ablöst, ihn ergänzt, ihm widerspricht; um die Weise, in der sich ausdrückt wird.
Meine Lieblingsschauspielerin in Berlin mümmelt und nölt. Ein Wort von ihr, hinter den Kulissen gesprochen, und ich weiß, sie wird gleich auftreten – und ich freue mich. Es gibt gewiss bessere Schauspielerinnen, solche, die perfekt sprechen, großartig spielen, mich ergreifen – aber es gibt nur ganz wenige, in die ich mich verliebe, weil sie unmöglich sind, bockig, störrisch. So ergeht es mir auch mit dem Geschriebenen: Ich kann intelligente, große, geglückte Paraphrasen zwar durchaus erkennen und bewundern, lieben jedoch kann ich nur, was den aberwitzigen Anspruch erhebt, sich ganz aus sich selbst heraus zu stülpen, und sei es noch so schlecht, verkehrt, falsch oder verzworgelt – mit etwas Glück erlangt es dafür vielleicht den Status des Eigensinns, wird rätselhaft und uneinnehmbar.
Jahr für Jahr tauchen neue Schauspieler auf, mal einzeln, mal in Gruppen, und bescheren uns Walserabende. Es sind nie die strahlenden Heldendarsteller, die da ins Licht treten. Im Gegenteil, es sind immer eher jene, die an sich und am Beruf zweifeln, die Heiseren, die Errötenden; die Linkischen; diejenigen, die sich, kaum haben sie die Bühne betreten, darüber den Kopf zerbrechen, ob sie nicht vielleicht doch besser mit dem anderen Fuss hätten auftreten sollen; die beim Auftreten übers Abtreten nachdenken und beim Abtreten übers Auftreten. Schwankende, die, kaum geraten sie ins Scheinwerferlicht, sofort von der Frage an der Gurgel gepackt werden, was um alles in der Welt bloss in sie gefahren sei, sich in diese exponierte Position zu begeben. Der Hafer, sich rauszuwagen, sticht sie einerseits, und andererseits sind sie in der Regel zu intelligent und zu skrupulös, um draussen auf der Bühne ohne Wenn und Aber so tun zu können, als seien sie jemand anderes und könnten die Zuschauer zum Narren halten.
So sind Walserabende in der Regel eher verrutschte Angelegenheiten. Holprige Nummernrevuen. Merkwürdig aneinandergereihte Monologe, Dialoge, Momentaufnahmen, die aufleuchten und gleich drauf verglimmen. Es riecht nach Kurzschluss und bengalischen Streichhölzern. Es klingt nach Fragen, selten nach Behauptungen, nie nach Antworten. Ein einziger grosser V-Effekt, wobei das Tückische an der walserschen Verfremdung ist, dass sie den Darsteller nicht daran teilhaben lässt. Bei Brecht darf, ja, soll der Schauspieler dem Publikum gewissermassen zuzwinkern, bei Walser wird mit ihm gezwinkert, ob er will oder nicht. In jeder Walserfigur sitzt immer schon und noch der Autor, der sie gerade erfindet und dem sie Satz für Satz aus dem Ruder zu laufen droht. Wenn der Darsteller dazu auch noch seinen eigenen Senf geben will, kippt die Mischung und wird ungeniessbar.
Ich habe aus diesem Grund Walsercollagen meistens schon nach kurzem satt und verfluche die Theaterleute, die sich einmal mehr haben aufs Walsereis hinauslocken lassen, wo sie sich einmal mehr nicht trauen, frei herumzutanzen. Irgendwie scheint sie alle, kaum stehen sie draussen auf der spiegelglatten Fläche, der Mut zu verlassen. Sie tappen in der Prosa herum mit winzigen Schrittchen. Keiner nimmt Anlauf und schiesst übers Ziel hinaus, keiner lässt sich gleiten und fällt mit Krach hin. Allen kommt die Textfläche, stehen sie erst einmal drauf, so makellos schön und zerbrechlich vor, dass sie den Mut verlieren, darauf Kratzer zu hinterlassen.
Manchmal platzt mir dann der Kragen ob so eines zum x-ten Mal vertanen Abends. Ich gehe nach Hause, nehme einen Walserband zur Hand und überlege, ob man diese Sätze denn wirklich nicht auf die Bühne bringen könne. Sie sind eindeutig sprechbar. Sie verführen sogar zum Sprechen, ja, wahrscheinlich sind sie während der Niederschrift leise mit- oder vorausgemurmelt worden, schliesslich träumte Walser ursprünglich davon, Schauspieler zu werden. Sie locken wie der Erlenkönig. Der Nervöse zum Beispiel – ein Traumauftritt, mit dem man von jeder grossen Bühne Deutschlands herab das Publikum zum Kochen bringen könnte. Oder Für die Katz, oder – oder ... Ein bravouröser Monolog nach dem anderen. Einige könnte man auch aufdröseln und daraus Dialoge machen. Es müsste ein fetter, umwerfender Abend werden. Doch kaum lasse ich mich näher darauf ein und überlege, wie er zusammenmontiert werden könnte, entdecke ich Stellen, die stören, die nicht reinpassen, die man wegschneiden müsste. Und schneide ich sie weg, verliert der Text sein Aroma. Also setze ich sie wieder ein – und schon bin ich auf dem Eis gelandet neben allen anderen. Man traut sich nicht mit der Axt reinzuhauen, aus Furcht davor, einzubrechen.
Wobei man gerade in dieser Furcht den Texten vielleicht besonders nah ist. Ein Grund, warum sie sind, wie sie sind, könnte nämlich durchaus Furchtsamkeit sein. Weswegen sonst hätte Walser jeden Gedanken, der sich in ihnen ans Licht wagt, noch im Entstehen abfedern und relativieren sollen, wenn nicht aus Angst davor, missverstanden, man kann ebenso gut sagen: verstanden zu werden? Selbst kleinste Boshaftigkeiten, Liebesbezeugungen, Unverschämtheiten oder Seitenhiebe werden von ihm fortlaufend verschnörkelt, entschärft, überhöht oder verniedlicht und konsequent mit einem „Es ist nicht so gemeint“-Schleifchen versehen. Jeden Versuch, aus sich auszubrechen, hat er via Schneckenhausspirale in sich selbst zurückgebogen. Auf dieses notorische Sich Wegducken, Entziehen und aus allem heraus Halten reagiert man insbesondere in Deutschland allergisch. Es wird als typisch schweizerisch empfunden, als gewohnheitsneutral, auch als feige, was die Lektüre unter anderem so vertrackt macht.
Doch zurück zur Darstellung. Bestimmt ist das Bild längst auf Walsers Schreiben angewendet worden: das Stolpern. Seine Sätze erleben nicht selten die Beschleunigung desjenigen, der stolpert und, um nicht zu fallen, einen Ausfallschritt macht, wobei er nach etwas sucht, an dem er sich festhalten kann, das er aber, wenn er es erwischt, in seinem Ungestüm zusätzlich mit sich reisst, worauf er einen weiteren, noch grösseren Schritt macht, um das Gleichgewicht vielleicht doch noch zu finden. Zur Überraschung des Lesers fängt er sich in den meisten Fällen am Ende tatsächlich auf und kommt zur Ruhe, zum Punkt. Dieser atemberaubende Moment des Strauchelns, die kurze Schwerelosigkeit, das wilde um sich Greifen mit den haltsuchenden Händen, das Gefuchtel, die ganze Aktion, die aus der puren Not geboren wird, die nichts zeigen, nichts darstellen, sondern einzig und allein zu einem guten Ende finden will – das ist genau die Art der Bewegung, nach der auch der Schauspieler sucht, gedanklich wie physisch. Er verachtet, was er beherrscht. Er will sich dem Moment ausliefern. Er will nicht wissen, wie sein nächster Ton klingt, wie seine nächste Geste ausschaut, er will von ihnen überrascht werden, in der Überzeugung, nur so wirkliche Glaubwürdigkeit erreichen und den Zuschauer für sich gewinnen zu können. Deswegen fühlen sich Schauspieler so angezogen von Walsers Texten: weil diese sich selbst fortlaufend den Boden entziehen, um diesen Schwindel des wahrhaftigen Augenblicks immer neu zu erzeugen und zu empfinden. Walser hat die unheimliche Begabung, Leben nicht abzuschreiben, sondern es schreibend entstehen zu lassen, indem er es in rasendem Wechsel entwirft und verwirft.
Der Beruf des Schauspielers ist es, Emotionen glaubhaft darzustellen. Doch kaum gelingt das, und der Zuschauer glaubt ihm seine Emotionen, reicht es dem Schauspieler nicht mehr aus. Was man ihm abnimmt, kann er sich selbst nicht abnehmen, weil er weiss, dass es viel komplizierter ist. Er möchte nicht darstellen, dass er liebt – er möchte lieben; möchte nicht darstellen, dass er verzweifelt – er möchte verzweifeln; möchte hassen, möchte sterben. Wenn man ihn nach der Vorstellung daran erinnert, dass er ja noch am Leben ist und nur so getan hat, als ob er gestorben sei, dann ist er am Boden zerstört. Natürlich weiss er insgeheim, dass er nicht gestorben ist, doch mit einem Zipfel seiner Unvernunft ist er eben doch davon überzeugt, er sei gestorben.
Walsersätze kommen diesem Zwiespalt entgegen. Sie sind sozusagen im Fallen begriffen. So kann sich, wer Walser spielt, einen ganzen Abend lang wie als Kind auf den zu hohen Stöckelschuhen seiner Mutter bewegen, nach vorne gekippt, dem eigenen Schwerpunkt, der vor ihm in der Luft schwebt, hinterherrennend. Das kann natürlich nicht gut gehen. Entweder tut man nur so, als ob man renne, täuscht dieses niedliche Gestöckel also kokett vor, oder man wird früher oder später tatsächlich fallen. Der Wunsch, im Fallen begriffen zu agieren, also das echte Leben zu verkörpern – das heisst, die Angst, im nächsten Moment hart aufzuschlagen am Boden, wirklich zu empfinden –, das ist das utopische Ziel jeden Schauspielers.
Was ist denn nun aber theatralisch an Walsers Texten? Meistens sind es einfache Grundsituationen, auf kaleidoskopische Art ausgedrückt, mit vielen Facetten und Schichten: Die Figuren sagen etwas, das immer auch gleichzeitig ein Kommentar darüber ist, wie sie es sagen und was sie dazu denken. Ergänzt wird es durch eingeflochtene Regie- und Bühnenbildanweisungen. Als Beispiel nehme ich den Monologanfang einer jungen Frau, die in der Allee eines Parks steht. Marta: „Meine Schwester ist gestorben. Ein Fieber hat sie hinweggezehrt, und diejenige, die hier in ihrer zagen Bänge in der Allee steht und die der Tod nicht liebt, die vom Leben begehrt wird, soll ihre Hand, die vielleicht die schönste Hand des Erdballes ist, falls mich diese Worte nicht in die Regionen ausgeprägter Eigenliebe hinauftragen, einem Mann zum Ehebund reichen, der ein Roué ist und den es ergötzt, den es aus seinen Gesunkenheiten hebt, an mir hinaufzuschauen.“ (Aus dem Bleistiftgebiet, Bd. 6, S.516).
Monologe sind szenisch wenig ergiebig. Sie erfordern vom Zuschauer die grundsätzliche Bereitschaft zur Abstraktion, welche die wenigsten gern zeigen. Um es zu vereinfachen, übertrage ich Martas Art zu sprechen in eine dialogische Situation.
Zwei Männer mit Gläsern in den Händen. Der eine hebt seins und sagt: „Lassen Sie mich mein Glas auf Ihre Gesundheit erheben, was mir, wie ich eben feststelle, einen ans Lächerliche grenzenden Ausdruck verleiht und folglich genau das Gegenteil von dem bewirkt, was ich beabsichtigt hatte mit dieser landesüblichen Geste des einander Zugetan-Seins, die mich, wenn wir der Wahrheit die Erlaubnis erteilen wollen, sich für einen Augenblick zu uns zu gesellen, eher in die Nähe des kerzenhaltenden Jünglings rückt, welcher mich am Fuss Ihrer Treppe empfangen hat, wo er in gusseiserner Unerschütterlichkeit steht und den Gästen den Weg nach oben leuchtet, während ich auf Sie doch viel lieber den Eindruck jener die Freiheit verkörpernden Riesin gemacht hätte, die entlaufene Pagen aus aller Welt im Hafen von New York angsteinflössend Willkommen heisst.“
Walser schreibt selten so umstandskrämerisch wie ich in meinem Beispiel. Bei ihm bleibt vieles von dem, was ich an Querverweisen eingebaut habe (zum Teil sind es Walserzitate), unausgesprochen und versteckt sich zwischen den Zeilen. Wenn er auf seiner dichterischen Höhe ist, vibrieren die Sätze geradezu, so voll sind sie von Über-, Unter- und Nebeninformationen. Aus den Beiseits quellen und tropfen unzählige psychologisch erhellende, oft auch entblößende Details. Ich habe in meinem Beispiel alles ausgeplappert, was bei Walser manchmal auf engstem Raum versteckt wird, um daran die Probleme aufzuzeigen, die diese Art von Sprache dem Schauspieler handwerklich bereitet. Mein Toast fängt konkret in der Situation an und drechselt sich aus dem Stand in sprachlich/gedanklich unmögliche Windungen hinein, aus denen er nur mit knapper Not wieder herab zum Schlusspunkt findet. Diese Art des Beinahe-im-Text-Ertrinkens kann zum Lachen, manchmal auch zum Davonlaufen sein. Was daran auffällt, sind die vielen theatralischen Hinweise, die enthalten sind. Wenn man solche Prosa auf die Bühne bringen will, muss man sich entscheiden. Entweder lässt man den Schauspieler sagen „Auf Ihr Wohl“ und schreibt dazu in Klammer (hebt sein Glas, kommt sich blöde vor mit dem erhobenen Glas in der Hand, bricht die Bewegung ab und – verlässt überstürzt den Raum) oder was weiß ich. Oder man lässt den Schauspieler den ganzen gedrechselten Sermon sprechen (woran er scheitern wird, denn welcher Mensch kann so einen Satz glaubwürdig sprechen, ohne von den anderen für verrückt gehalten zu werden – was wiederum der Inhalt des Satzes in keiner Weise ist). Oder man lässt ihn „Prost“ sagen, worauf das Gegenüber antwortet: „Sie sehen aus wie ein Armleuchter, wie Sie dastehen, mit Ihrem gehobenen Glas in der Hand. Lächerlich. Hören Sie sofort auf mit dieser blödsinnigen Zuprosterei“ oder so etwas – all diese praktischen Umsetzungsvorschläge sind, wie Sie sehen, armselig und verlustreich.
Zu einem anderen Originalbeispiel. Ein Herr verabschiedet sich von seiner Geliebten, die er mit einem Jüngling (dem Icherzähler, einem erfolglosen Schriftsteller) zurücklässt. Den Jüngling hält er für einen Faulpelz. Überdies hat er ihn im Verdacht, er wolle ihm seine Geliebte ausspannen. Das klingt bei Walser so: „Er deutete auf die Schönheit hin, die für ihn im Drange liege, sich im Leben möglichst viel zu tun zu geben, schützte eine Verabredung mit einem Geschäftsfreund vor, grüßte hierauf lediglich mich, den so süßen und schlankgewachsenen Gegenstand seiner Sorge vorsichtshalber oder vielleicht auch anstandshalber vorläufig nicht weiter beachtend, und verließ uns.“ (Aus dem Bleistiftgebiet, Bd. 5, S.153).
Was sagte der Herr nun wirklich? Sagte er tatsächlich: Glauben Sie mir, junger Mann, wahre Schönheit liegt im Drange, sich im Leben möglichst viel zu tun zu geben. – Das zu einem erfolglosen, arbeitslosen Dichter, von dem er glaubt, er wolle ihm seine Geliebte rauben? Was ist das für ein Satz, was ist das für ein Mann? Schauspieler wollen das wissen. Nur die wenigsten beherrschen ein derart virtuoses Oszillieren zwischen Selbstironie und Ironie, Zynismus, Borniertheit und Tollpatschigkeit. – Was ist es genau? Wie schützt man eine Verabredung mit einem Geschäftsfreund vor? Der Schauspieler muss sich entscheiden, hat er eine Verabredung oder hat er keine. Walser lässt es offen und macht es dadurch spannend. Auch dass der Herr seine Geliebte „vorsichtshalber“ oder „anstandshalber“ nicht weiter beachtet bei der Verabschiedung – was bedeutet das, und vor allem, wie spielt man beides gleichzeitig?
Es ist ein Vergnügen, wie diese gläsernen Menschen sich um Kopf und Kragen reden und viel zu viel von sich preisgeben, so viel, dass man anfängt, an ihren Aussagen zu zweifeln, wodurch die Figuren zwielichtig werden, ja, vor unseren Augen anfangen zu flirren und sich aufzulösen. Sie öffnen sich uns so weit, dass wir durch sie hindurch in die Leere laufen; sie sind verschwiegen, indem sie zu viel reden. – Da sagt in der bereits zitierten Abschiedsszene der Herr zu seiner Geliebten beispielsweise auch noch Folgendes (in Anwesenheit des vermeintlichen Rivalen, um den es geht): „Sei froh, meine Liebe, dass der, den du zu dir einludest und den du hier eigentlich sehr sorglos bewirtest, sich gegenüber mir, wenigstens bis jetzt, noch nicht zum Gegenstand der Unannehmlichkeit auswuchs“. Was für eine sonderbar bedrohliche Art zu sprechen, was für eine Komik, was für ein irres Flackern. Ein Traum für jeden Schauspieler, und zugleich ein Alptraum, weil man ahnt, dass man sich aller Voraussicht nach beim Ausloten der Feinheiten verhaspeln wird.
Ich könnte mir vorstellen, dass Walser auf der Bühne genau daran gescheitert ist: Jeder Satz, den er nach aussen bringen wollte, öffnete sich ihm nach innen. Wollte er einen konkreten Inhalt vermitteln, fiel ihm beim Sagen die schillernde Form auf, in die der Inhalt verpackt war, und auf die er meinte, ebenfalls aufmerksam machen zu müssen, und wollte er eine hohle Floskel elegant hohl servieren, entdeckte er die Ungeheuerlichkeit, die sich inhaltlich dahinter verbarg und die es mitzutransportieren galt. Ein Gleichgewicht des Schreckens: die Stimme soll nach aussen, rutscht aber in den Hals; die Wörter sollen sich wie Perlen aneinander reihen, lösen sich aber vom Faden und kullern durcheinander; betont er die eine Silbe, will sofort auch die andere betont werden; spricht er auf Punkt, meldet sich eine gedankliche Ergänzung, die unbedingt noch angehängt sein will; den Körper zieht es an die Rampe, während der Geist sich nach der Gasse sehnt – ein sich selbst fortlaufend in die eigenen Speichen fallendes Perpetuum mobile. Wenn man sich so einen Schauspieler konkret auf der Bühne vorstellt, ist das ein Anblick zum Erbarmen: abwechselnd hochrot und totenbleich, mit abgewürgter Stimme und überdrehter Gestik, die unvermittelt in Erstarrung umkippt – eine permanente Selbstdemontage.
Und trotzdem oder gerade deswegen bleibt zu wünschen, dass sich immer wieder welche trauen, den Walser zu spielen, auch wenn es fast immer misslingt und vielleicht sogar misslingen muss. Das Lesen, das Schreiben und das Zuschauen bleiben dadurch spannend. Ohne Gewalsertes würde etwas Wesentliches fehlen: diese unmöglichen Erscheinungen, die sichtbar immer mindestens zwei Herzen auf der Zunge tragen, das der Figur, die spricht, und das des Autors, der sie erfindet, diese labyrinthischen, vielfach zersplitterten Ichs, die uns tröstlich daran erinnern, dass keiner weiss, wer er ist.
Die Norm ist doch leider die, dass sich der Autor dafür entscheidet, seine Figuren als Pappkameraden zu behandeln, die ihm gehorchen und genau das tun und sagen, was er sich ausdenkt. So bringt er sie zu Fall und schafft es, sie zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. Hier schmoren sie dann und müssen darauf hoffen, von einem Nachgeborenen wiederentdeckt und als Vorlage für Neuinterpretationen und Paraphrasen herangezogen zu werden.
Walsers Figuren wehren sich erfolgreich dagegen, aufs Blatt niedergerissen zu werden, indem sie sich und dem Autor ständig ins Wort und in den Rücken fallen und sich auf diese Weise ihrer Fixierung entziehen. Es sind Stehaufmännchen, die gegen alle Vernunft taumelnd am Leben bleiben.
... Am Leben, an welchem jeder Lebende immer neu ist und sein muss. Ich habe am Anfang vom Nachdichten und Überschreiben geredet und mich gefragt, warum sich Walser dazu so schlecht eignet. Ich denke, es sind die gleichen Gründe, die ihn auch zum Darstellen so schwierig machen. Etwas, das lebt, kann nicht mit zusätzlichem Leben erfüllt werden; es braucht weder eine geliehene Stimme noch einen geliehenen Körper, um sich auszudrücken; man kann es sich nicht wie eine zweite Haut überstülpen, da die Larve nicht hohl ist und man keinen Platz in ihr drin findet. Nicht einmal als Maske kann man es sich vors Gesicht halten um hindurchzusprechen, da es für sich selber spricht.
So bleibt einem Schauspieler im Grunde genommen nur das Nachahmen übrig. In Theaterkreisen geniessen sie kein besonders hohes Ansehen: die Imitatoren. Nicht besser ergeht es dem Schriftsteller, der zu walsern versucht: er wird aller Voraussicht nach als Plagiator enden und aufgeben. Um dieser Gefahr zu entrinnen, verabschiede ich mich hiermit von ihm und von Ihnen, denn – erlauben Sie mir zum Schluss den Kalauer – wer zuviel Valser Wasser trinkt, verliert jeglichen Durst und damit die Lust, nach eigenen Quellen zu bohren.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Rede beim Robert-Walser-Symposion, Zürich, 6. Dezember 2oo6; gedruckt in: Robert Walsers >Ferne Nähe<. Neue Beiträge zur Forschung. Hg. von Wolfram Groddeck - Reto Sorg - Peter Utz - Karl Wagner. München: Wilhelm Fink Verlag 2oo7, S. 25-33
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8. Dezember 2006, Neue Zürcher Zeitung
«Tread softly because you tread on my dreams»: Karl Wagner von der gastgebenden Universität Zürich zitierte am Mittwochabend zur Eröffnung des Robert-Walser-Symposiums den Dichter William Butler Yeats und konnte voraussetzen, dass sein Publikum wusste, wovon er sprach und was gemeint war. Vielleicht treten Walser-Leser von Natur aus behutsam auf, und wenn sie die Bücher des vor fünfzig Jahren verstorbenen Schriftstellers zur Hand nehmen, ahnen sie, dass sie auf Träumen gehen, dass sie es, wie es der Dichter Gerhard Meier sagen würde, mit «in den Wind geschriebenen» Texten zu tun haben. Das bedeutet anderseits nicht, dass solche Leserinnen und Leser nicht auch robuste Exegeten sein können. Es war darum mehr als eine noble Geste und eine Verbeugung vor dem Dichter, dass an dem Symposium vor den Literaturwissenschaftern zwei Schriftsteller zu Worte kamen: Dankbar nahmen Brigitte Kronauer und Matthias Zschokke das Angebot an und zeigten, je nach eigenem Temperament, wie aus der Behutsamkeit heraus ein beherzter Zugriff möglich wird.
Indessen verstrickten sich Brigitte Kronauer und Matthias Zschokke mit ihren Vorträgen in den schönsten Paradoxien - oder müsste man sagen: Sie liessen sich willig darein verstricken, da solches nicht zu vermeiden ist bei einem Dichter, der radikaler als andere in seinem Werk die eigene Existenz in nur scheinbar ungebrochener Naivität zugleich darstellte und verstellte. Walser besass, so legte es Matthias Zschokke dar, die Begabung, das Leben nicht zu beschreiben, sondern im Beschreiben erst entstehen zu lassen, indem er es in rasendem Wechsel fortlaufend entwirft und verwirft. Und so habe sich denn, was Zschokke gleichsam szenisch zur Darstellung brachte, noch dem unscheinbarsten Satz von Walser das labyrinthische Wesen seines Denkens eingeschrieben, das sich wie in einander gegenüberliegenden Spiegeln ins Unendliche fortsetzt.
Daraus ergab sich in Zschokkes Überlegungen das drastische Bild des labyrinthischen, vielfach zersplitterten Ichs, dessen innere Zerreissprobe sich in die harmlos scheinenden, aber unter ihrer Gedankenfülle auseinanderbrechenden Sätze ausstülpte, was sich wiederum ganz zwanglos mit Brigitte Kronauers Darlegungen überkreuzte. Während sie Jakob von Gunten noch in einem vielleicht produktiven, aber jedenfalls befreienden Sinne mit seinen «Wesenspolaritäten» jonglieren sieht, so entkomme der Räuber im gleichnamigen Roman seinen inneren Stimmen und Widersprüchen nicht mehr. Mit einem überraschenden und doch hilfreichen Seitenblick auf Friedrich Nietzsche und Gottfried Benn rückte sie Robert Walser genau auf die Bruchstelle der literarischen Moderne. Mit seinen Figuren werde der Dichter von dem Generalsymptom der Moderne, von den «flackernden Identitäten», wie es Brigitte Kronauer nannte, gepeinigt.
In einer durch nichts bevormundeten Anschauung und im Angriff auf die epischen Grundregeln gelange Walser zu dem, was in seinen Figuren (und in seiner Zeit) verborgen und unterdrückt schlummert. Was bei Goethe noch vornehm «vorfühlen» heissen konnte, werde bei Walser zu einem allzeit unerbittlich auf die Verstellungskunst lauernden «Zersetzungsblick». Nicht weniger als das Pendant zur menschlichen Verstellung sei daher die Künstlichkeit der Walserschen Prosa, die hinter den Masken die zweite Natur des Menschen hervortreibe. Und noch einmal überschnitten sich an dieser Stelle aufs Schönste die Gedankengänge der beiden Vortragenden.
Matthias Zschokke gab den Überlegungen abermals eine Wendung ins Theatralische. Es verhalte sich bei Walser, der seine Leser gerne über seine Sätze stolpern lasse und sie auf diese Weise an das Gemachte und das Künstliche seiner Prosa erinnere, wie mit dem Schauspieler. Auch dieser verachte, was er beherrsche. Immer wieder setze er sich dem ungeschützten Auftritt aus, um im Augenblick der grösstmöglichen Künstlichkeit den Anschein des Natürlichen hervortreten zu lassen und im Taumeln über dem Abgrund den Schwindel des wahrhaftigen Augenblicks stets neu zu ermöglichen.
Roman Bucheli
Der an dieser Stelle erstmals veröffentlichte Beitrag wurde anlässlich eines Podiumsgesprächs zu Robert Walser im Literaturhaus Berlin vorgetragen, das am 18. Oktober 2013 im Rahmen der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft stattfand. Das Gespräch war der Frage gewidmet, weshalb Robert Walser heute noch bei so vielen namhaften Autorinnen und Autoren ein Thema ist. Neben Matthias Zschokke nahm Lukas Bärfuss am Gespräch teil, die Leitung hatte Reto Sorg inne.
Obwohl sein Name aus dem Literaturkanon von Jahr zu Jahr heller herausklingt, bleibt es erstaunlicherweise eine kleine Minderheit, die dahinschmilzt, wenn sie ihn hört, während die grosse Mehrheit weiterhin aufjault und fluchtartig den Raum verlässt, sobald einer ankündigt, zur Abwechslung mal Möglicherweise ist es mit ähnlichen Schwierigkeiten verbunden, Walser zu servieren, wie es schwierig ist, Ironie zu servieren, zu deren Eigenarten ja gehört, von möglichst wenigen verstanden werden zu wollen, wofür sie von den wenigen umso mehr geliebt, von den vielen aber, die sie nicht verstehen und sich folglich ausgeschlossen fühlen, umso mehr gehasst wird. Ein anderer Grund für den Widerstand, den er auslöst, könnte sein: Es gibt kaum einen Text von Walser, in dem er nicht früher oder später, meistens früher, als Autor persönlich auftritt und störend reinredet. Häufig lässt er sogar auch noch den Leser zwischen den Zeilen auftauchen, dem er unterstellt, er denke jetzt bestimmt gerade dies oder jenes. Viele fühlen sich unangenehm berührt, wenn sie ungefragt irgendwo mit einbezogen oder angesprochen werden. Sie empfinden es als Vereinnahmung, sie wehren sich dagegen, persönlich gemeint zu sein und mitdenken zu müssen, sie wollen in Ruhe gelassen werden und selbst entscheiden, ob und was sie denken - so wie ich im Theater grundsätzlich in Ruhe gelassen werden will und allergisch reagiere, wenn ich zum Mitspielen aufgefordert werde.
Für einen Sprecher bedeutet das, den - meist irritierend verkanteten und verschachtelten - Text erst einmal so selbstverständlich zu servieren, als erfülle er sämtliche Anforderungen, die an gute Literatur gestellt werden. Zweitens muss er in die Rolle dessen schlüpfen, der diese Ansprüche für höchst fragwürdig hält und seine Versuche, ihnen zu genügen, mit grösster Skepsis begleitet. Drittens muss er zwischendurch immer wieder die vierte Wand niederreissen und dem Zuhörer deutlich machen, dass er als Vorleser sich mindestens ebenso sehr wie der Zuhörer wundert über das merkwürdige Gespann des um gute Unterhaltung ringenden Autors und desjenigen, der ihn kopfschüttelnd dabei beobachtet. Insgesamt muss der Sprecher also mindestens drei Rollen synchron laufen lassen, von der keine in den Vordergrund gerückt werden darf, weil sie permanent miteinander rochieren und sich hintereinander verstecken. Doch bei jedem Blindversuch, den ich vornahm, las ich mich fest und begeisterte mich Satz für Satz für die Umstandskrämerei. Nicht eine Zeile hätte ich streichen mögen. Vielleicht bin ich reifer geworden oder ich lese nicht mehr so zielorientiert. Man könnte zwar durchaus Sätze oder ganze Passagen wegstreichen - viele sogar -, aber man gewinnt dadurch nichts. Es wäre, als ob man einer Nachtigall ein paar Tonintervalle wegschneidet in der Absicht, aus ihrem Gesang den perfekten Sommerhit zu kreieren. Als Beispiel lese ich den Anfang einer Geschichte auf Seite 166 im Band 5 «Aus dem Bleistiftgebiet»: «Einem einflußreichen Herrn arrivierte es, daß er sich in ein zierliches Mädchen verliebte. Leider hatte sie aber Mehl am Ärmel und sagte es ihm. Er begütigte sie indem er gutmütig meinte, das schade doch nichts. Am liebsten würde ich einfach weiter vorlesen. Doch spätestens nach drei Minuten würden Sie unruhig auf Ihren Stühlen zu ruckeln beginnen und denken, ich hätte ein schlechtes Beispiel gewählt, das sei ja völlig zerfahren und ohne jedes Ziel, es gebe bestimmt bessere Texte, um damit für Walser zu werben. Sie würden mir den Band aus der Hand nehmen, eine andere Seite aufschlagen und mir etwas Anderes vorlesen wollen, und ich würde nach drei Minuten unruhig ... Das ist eines der grossen Rätsel: Wann und wo immer ich jemanden für ihn gewinnen will, indem ich einen seiner Texte vorlese, scheitere ich, wie einer, der beim Witze-Erzählen sämtliche Pointen verschenkt und verlacht. Zurzeit grassiert die Meinung, die Qualität eines Textes lasse sich prüfen, indem man ihn laut vorlese. Was diesen Test bestehe, sei in der Regel gut und gehaltvoll. Wir entwickeln uns mehr und mehr zurück zur Oralität. Lesefestivals schiessen aus dem Boden, Dichter tragen vor, in Schreibschulen wird das Vortragen geübt, Hörbücher werden hergestellt, spoken word ist angesagt; Autoren, die ihre Texte schlecht präsentieren, fliegen aus dem Literaturkarussell und werden durch unterhaltsamere ersetzt (auch dass wir drei heute hier auf dem Podium sitzen gehört zu diesem Phänomen; man redet lieber über Literatur und hört sich welche an als dass man sie liest). Nachdem ich einen Text abgeschlossen habe, fällt mir aus diesem Grund neuerdings siedendheiss ein, dass er noch dem Lautsprech-Belastungstest unterzogen werden muss, bevor ich ihn entlassen darf. Also lese ich ihn mir laut vor - und bin in der Regel entsetzt. Er klingt kompliziert, papieren, gestelzt. Ich vereinfache, stelle um, poliere, glätte. Ob der Text danach besser ist, weiss ich nicht. Dass er anders ist, nämlich eben vortragbar, darüber besteht kein Zweifel. Walser hat seine Texte - jedenfalls die späteren - kaum jemals auf ihre Vorlesbarkeit hin geprüft. Es ist rein handwerklich nicht vorstellbar: Wie sollte er seine - auch für ihn selbst bestimmt kaum noch entzifferbaren - Mikrogramme fliessend vom Blatt deklamieren können? Resultiert eine der Besonderheiten seiner Literatur möglicherweise aus seiner radikalen Konzentration aufs Schreiben? Gibt es eine literarische Qualität, die sich dem Podium verweigert? Meiner Überzeugung nach kann man Walser nur selber lesen, und zwar im Stillen. Er erfordert eine Art meditativer Konzentration. Man darf keinen Gedanken wichtiger nehmen als den anderen, keinen weniger wichtig, es steht immer alles gleichwertig nebeneinander da; die Frage, ob das Gelesene gut ist oder schlecht, erübrigt sich. Wie man sich beim Spazierengehen - wenn man nicht gerade Bauer ist - selten fragt, ob das Gras, das am Wegrand wächst, gut ist oder schlecht. Es wächst und steht da, weil es dahin zu stehen gekommen ist, aus keinem anderen Grund. Man kann's anschauen und mögen oder nicht, es ist ihm egal. Und weil jeder Walsersatz diese Absichtslosigkeit verkörpert und den Eindruck vermittelt, er sei wild gewachsen, hat man als Leser dauernd das Empfinden, sich in einem Dschungel zu bewegen und auf der Hut sein zu müssen. Man ist unvergleichlich wach und gespannt und fühlt sich selbst verantwortlich für alles, was man beim Lesen entdeckt oder übersieht. Es ist eine Art Goldgräberstimmung, in die man versetzt wird: Man ist ganz allein, wäscht die vorhandenen Wörter und Sätze und freut sich über jedes Körnchen Gold, das man zwischen ihnen findet und das einem gehört. Warum gelingt es nun aber so selten, andere Leute anzustecken und in diesen Goldrausch zu versetzen? Was ist es, das Walser so sperrig macht? Wie kommt es dazu, dass er sich Vor allem bei den Sachen aus dem Bleistiftgebiet erlebe ich dieses Phänomen. Es ist, als ob er durch die Mikroschrift ins Papier hinein geschlüpft sei, durch es hindurch, wie Alice durch den Spiegel, um dahinter seine Innenwelt zu betreten und sich darin zu bewegen. Wortungeheuer blitzen auf und verglühen, Weisheiten, Banalitäten, alles gleichzeitig und ebenbürtig. Kaum ist etwas aufgetaucht, ist es auch schon in der winzigen Schrift als Schemen skizziert, nichts wird in trockene Tücher gebracht, nichts ausformuliert, nichts zementiert. Alles ist immer im Entstehen und Vergehen begriffen, alles folgt einem für den Leser unhörbaren Innenrhythmus, einer dem Leser unbekannten Innenlogik, es resultiert aus der strengen Fokussierung, die die Mikroschrift erzeugt; es ist pure Kompression. Man kann den Effekt simulieren, indem man selbst versucht, in so einer Mikroschrift zu schreiben. Es entsteht dabei ein hypnotischer Sog. Als ob man auf dem Papier ein Nadelöhr anziele, durch das hindurch man in sich hinein schlüpfen wolle, in seine eigenen Blutbahnen, in seine Nerven. Vieles kommt einem plötzlich möglich vor, plausibel, wahr, wie im Traum, man hat keine Zeit, es zu hinterfragen, es zu prüfen, man kann es nicht steuern, nicht beeinflussen, nicht zensieren, es erschafft und vergisst sich fortlaufend selbst. Zweifel haben keine Chance, sich dazwischen drängen zu können - zu wenig Platz -, man lässt erst einmal alles provisorisch stehen.
Nimmt man dann vom Blatt Abstand und schaut, ob man entziffern kann, was da steht, und ob es für eine Veröffentlichung taugen könnte, wird man unsicher. Als stummer Leser kann man sich noch irgendwie damit identifizieren und sich davon mitziehen lassen. Beim lauten Vorlesen jedoch muss man die einzelnen Wörter und Satzkonstruktionen in ihrer vollen Grösse aussprechen, sie kriegen Volumen, wirken zum Teil monströs, kokett, originalistisch, gesucht, gewollt, ohne dass man sie wirklich gewollt hat - sie fielen einem eher zu. Als Vorleser kann man dieses Zufallen aber nicht imitieren. Man muss sich entscheiden, ob man ein Wort merkwürdig, wichtig, lustig, besonders, ungewöhnlich oder nebensächlich findet. Man muss gewichten, kann nichts in der Schwebe lassen, man muss den Text vertreten, ihn interpretieren. Vielleicht hat Walser deswegen keine Vorlesekarriere angestrebt. Er ertrug es nicht vorgeben zu müssen, so, wie etwas bei ihm dastehe, müsse es dastehen. Seine Texte sind Ephemere, die nur im Moment, in dem sie auftauchen und vom Leser wahrgenommen werden, leben. Sie sind nicht für die Ewigkeit geschrieben, können immer nur das eine Mal leben, das eine Mal aber immer wieder, doch kann man sie nicht mit ins nächste Zimmer nehmen und dort vorzeigen, indem man sie laut vorträgt und der Atmosphäre aussetzt. Da verwelken sie sofort und beginnen nach Leiche zu riechen, süsslich oder säuerlich. Warum verfallen ihm so viele, die professionell mit Schreiben und Denken zu tun haben? Hängt es damit zusammen, dass professionelle Schreiber besonders stark unter dem Zwang leiden, im Dienst der Verstehbarkeit schwitzen und ans Gelingen, ans Gewinnen, ans Rechthaben denken zu müssen? Und dass es für sie eine Wohltat ist, Walser zu lesen, weil er solche Zwänge konsequent zu ignorieren scheint, ohne sich um die Folgen zu kümmern? Er springt sozusagen nackt in den Strom seines Bewusstseins und lässt sich davon treiben; er fordert nicht programmatisch auf, die Freiheit zu wagen, sondern er bewegt sich frei. Staunend sehen wir, dass es funktioniert. Er akzeptiert keine Hierarchie, es gibt kein Thema, keine gebaute Handlung, seine Geschichten suchen nicht nach einem Ziel, sie wachsen oder wuchern einfach dahin, und wenn sie keine Lust mehr dazu haben, sind sie zu Ende. Man hat den Eindruck, er lasse sich auf das Wagnis ein, eine Lilie auf dem Felde zu sein, und er vertraue darauf, doch genährt zu werden. Als Kleingläubiger werde ich von solcher Kühnheit unendlich angezogen. Dazu ein Zitat: «Am nächsten Tag sitzt man dann am Schreibtisch und sieht sich wie schon so oft wieder einmal zu einer Einwilligung in eine Aufgabe veranlaßt, statt daß man sich auf der Unbeeinflußtheit sonnte, daß man sich endlich, endlich fände.» («Aus dem Bleistiftgebiet», Bd. 6, S. 547) Das Bleistiftgebiet ist wie eine Landschaft, über die man im Tiefflug gleitet. Man sieht seinen eigenen Schatten unter sich, der über abgründige Weisheiten, versteppte Plattitüden und philosophische Erkenntnishügel huscht, man sieht Witze aufblitzen - doch immer erst mit zwei, drei Sätzen Verspätung wird man eingeholt vom eben Gelesenen, man wendet sich um, liest noch einmal, langsamer, genauer, doch was man meint gelesen zu haben, steht nicht mehr da, sondern nur noch die Andeutung davon, eine Möglichkeit von dem, was im eigenen Kopf entstanden ist, und von dem man nicht mehr sagen kann, wie genau es ausgesehen und geklungen hat. Und: jeder Leser ergänzt wahrscheinlich anders. Deswegen ist es auch so schwierig, Walser zu instrumentalisieren und ihn zu zitieren: Jeder hört immer etwas anderes.
(Variante: Walser schreibt mit dem Rücken zum Publikum. Er beugt sich tief über sein Blatt, schreibt winzig klein, schlüpft durch die Bleistiftspitze in seinen Kopf hinein. Ich kann als Leser versuchen, an ihm vorbei aufs Blatt zu linsen, kann versuchen, hinter ihm herzulesen, er ist aber immer mehrere Schritte voraus, sieht das ganze Panorama seiner Innenwelt rund um sich herum. Ich sehe nur seinen Hinterkopf und kann nachlesen, was er von seinen Exkursionen festgehalten hat.)
Woran liegt das?
vAusserdem erinnere ich mich daran, sogar beim stummen Lesen seiner Texte oft geächzt zu haben wegen der manchmal geradezu akrobatischen Umstandskrämerei in seinen Formulierungen. Es kam mir vor, als ob er jeden Satz in ein Kaleidoskop gesteckt und ihn darin so lange hin und her gedreht habe, bis er selbst kaum noch wusste, was sein Inhalt war. Nichts sagt er geradeaus, als hätte ihm jemand verboten, die Dinge beim Namen zu nennen.
Also nahm ich mir für heute vor, wahllos einen Band von «Aus dem Bleistiftgebiet» mitzubringen, ihn zufällig irgendwo aufzuschlagen und Ihnen die Seite vorzulegen mit der Frage, ob man die vielleicht lichten, gliedern, kürzen könne, um die Perlen, die ohne Frage darin verborgen sind, leichter auffindbar zu machen. Und ob man nicht vielleicht nur diese Perlen veröffentlichen sollte, damit sich auch der sogenannt einfache Leser an deren Schmelz erfreuen möge. Anders gesagt: ob man einen
Warum mischt er sich so früh ein? Ich möchte von diesem einflussreichen Herrn und dem Mädchen mit dem Mehl am Ärmel weiter hören. Ich möchte nicht mit Kommentaren behelligt werden und schon gar nicht vorgeschrieben bekommen, wie ich diesen Anfang einer Geschichte zu finden habe, nämlich
Walserkenner wissen, dass ihnen die Geschichte vom Mehlmädchen selbstverständlich nicht weiter erzählt wird. Sie kommen gar nicht auf die Idee, darauf zu hoffen, sie erzählt zu bekommen. Im Gegenteil, sie können es kaum erwarten zu erfahren, wie die Geschichte um die nächste Ecke biegt und was für eine Überraschung dort lauert; sie freuen sich, die Bekanntschaft mit dem Mehlmädchen gemacht zu haben, und sie sind gespannt auf neue unvorhersehbare Begegnungen.
«Morgens, wenn Sonne in das Zimmer scheint»
Morgens, wenn Sonne in das Zimmer scheint,
sich meine Seele angelächelt meint.
Von wunderlichen Mittags Schwächen sprechen
käm' mir beinah vor wie ein Verbrechen.
Abende gleichen reizendem Konzert,
das mich zugleich erleichtert und beschwert.
Die Nacht jedoch, und nun sag' ich das Beste,
ist die gewinnende, erwünschte Geste.
Mögen die Tageszeiten
dir nicht viel größ're Schwierigkeiten bereiten,
als Morgen, Mittag, Abend und die Nacht
mir haben auf dem Schreibpapier gemacht.
(«Aus dem Bleistiftgebiet«, Bd.6, S. 429)
In: Mitteilungen der Robert Walser-Gesellschaft, 21/2o14, Bern April 2o14, S. 7ff.
