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Todtnauberger Literaturtage 2o13
Todtnauberger Literaturtage 2o13


Samuel Moser


Matthias Zschokke


 

Matthias Zschokkes Bücher „Max” (1982), „Prinz Hans” (1984), „ErSieEs” (1986) und „Piraten” (1991) sind Künstlerbiographien und im strengsten Sinne des Wortes autobiographisch. Wenn sie die Geschichten ihrer Titelhelden, deren Namen sie tragen, erzählen, erzählen sie von sich selbst. Ihr einziges Thema ist die Kunst, oder besser: die Liebe zur Kunst. In einem Buch aber wird alles zur Kunst, auch das Leben. Zschokkes Bücher handeln ebenso von der Liebe zum Leben; von der Liebe überhaupt, in die sich die Künstler hoffnungslos verstricken. Liebe ist Ausdruck eines Defizits an Leben und an Kunst. Aber Kunst ist nicht Lebensersatz, und Leben macht Kunst nicht überflüssig. Lieben, weist Zschokke nach, kann man etwas nur um seiner selbst willen. Als l’art pour l’art ist Kunst so gut wie Leben.

 

Zschokkes Figuren Max, Prinz Hans, ErSieEs und die Piraten sind nicht Künstler, die in der einen oder andern Kunst reüssieren. Im Gegenteil: für keine Rolle sind sie so ungeeignet wie für jene des Künstlers. Sie sind auch nicht Lebenskünstler, die besonders gut zu leben verstehen. Sie sind Künstler, weil sie - wie ihr Schöpfer und wie alle Schöpfer - nur eine Wirklichkeit kennen: die Welt als Artefakt. Sie sind nicht Genies aufgrund außerordentlicher Leistungen, sondern dadurch, dass sie tun, was sie tun müssen. Sie sind auf gewöhnliche Weise genial.

 

Die Welt als Buch, in dem wir mühselig lesen, war die Auffassung der Romantik. Bei Zschokke sind wir am andern Ende des Bogens angelangt: das Buch ist die Welt. Die Kopie beansprucht Original zu sein. Zu Zschokkes bevorzugten Figuren gehören die Piraten, weil sie - wie die Künstler - verlangen, was ihnen nicht gehört: „Es ist ratsam, als Dichter immer einen Dolch bei sich zu tragen - was ich tue -, denn man repräsentiert Freibeutertum; das verpflichtet”, schreibt er in seinem poetologischen Essay „Amateure Autodidakten Dilettanten Ich” (1987). Zschokke und seine Figuren wissen, dass die Welt sich nach wie vor für das Original hält. Ihr erscheint der Künstler als unglaubwürdige Existenz, und sein Gesang tönt in ihren Ohren falsch, gerade weil er so schön ist. Zwischen der Welt des Künstlers und dem Leben, wie es die Welt definiert, liegt hier ein Abgrund: „Das Leben und die Schriftsteller kennen einander kaum.” (In: „Amateure …”). Je eleganter sich Zschokkes Figuren bewegen, desto grundloser ist ihr Tun. Und umgekehrt. „Das Grundlose kann sehr schön sein, wenn man darüber hinweggleitet und hinabschauen kann. Danach freut man sich aber wieder auf dem Festland”, sagt ErSieEs. Der Satz ist typisch für das Understatement, mit dem Zschokke die Abgründe sichtbar werden lässt. Abstürzen wäre buchstäblich keine Kunst. Also bleiben seine Figuren auf dem Seil: der Kunst zuliebe. „Einer mehr, der dem Leben den Triumph nicht gönnte, an ihm zu zerbrechen”, heißt es im Märchen „Die Erdbeertorte” (1987) über einen Pianisten, der immer tiefer sinkt.

 

Die Welt nennt das Gleiten über Abgründe Schwindel. Es hat den Geruch des Unmoralischen. Zschokkes Figuren sind leichtfüßige und schwermütige Schwindler. Aber sie stehen nicht in Opposition zur Gesellschaft; die Gesellschaft steht in Opposition zu ihnen: „Max bleibt. Die Welt muss sich ändern.”

Der Primat der Kunst beinhaltet ein politisches Engagement und eine philosophische Option. Zschokkes Figuren verkörpern das Beharrende, die Substanz. ErSieEs, das „Grenzenlose”, ist der Ursprung der Dinge, um mit dem Vorsokratiker Anaximander zu sprechen. Der sich stets verändernde, zerbrechliche, erfolglose, „windige” Max ist das Wesen der Welt. In ihm ist die Einheit von Philosophie, Politik und Poesie realisiert.

Max, aufgewachsen in einem Schweizer Bauerndorf, zieht in eine deutsche Großstadt. Er flieht vor den Zumutungen der Gesellschaft helvetischer Ausprägung. In Deutschland möchte er Schauspieler werden. Das Theater jedoch stellt sich ihm als Abbild der Verhältnisse dar, denen er zu entkommen versuchte. Max’ Karriere scheitert. Spazierend und räsonierend zieht er durch die Stadt. Er ist ein Tagedieb, der überall aneckt und sich nirgends einfügt. Einige schlecht ausgehende Liebeleien tragen das Ihrige zu seinem Scheitern bei. Je schlechter es ihm aber geht, desto radikaler und witziger werden seine Einfälle, desto unerbittlicher und scharfzüngiger seine Ausfälle gegen die Gesellschaft und ihre Institutionen, gegen das Leben und seine Lügen.

 

Zschokkes Erstlingswerk attackiert mit dem der Jugendbewegung der achtziger Jahre eigenen Zynismus die den Menschen in der Entwicklung seiner Individualität zerstörende und die Kunst in der Entfaltung ihrer schöpferischen Kräfte unterdrückende Gesellschaft. Wie die andern Bücher Zschokkes lässt sich der Roman „Max” zu der Zahl jener Bücher rechnen, die der Identitätsfindung eines jungen Menschen dienen. Dennoch ist er weder Protestliteratur noch Entwicklungsroman. Zschokkes Figuren sind nicht nur Zeitkritik, sondern auch Zeiterscheinung. Sein Verhältnis zu ihnen ist zwiespältig und erlaubt keine ungebrochene Perspektive des Erzählens. Max ist nicht nur das gespiegelte Ich, sondern auch eine Gegenfigur. Formal am weitesten fortgeschritten ist diese Auflösung der Standpunkte in „ErSieEs”, während sich im „Prinz Hans” der Protagonist am wenigsten der Einwände seines Autors zu erwehren hat. Anders als Max braucht Prinz Hans denn auch nicht aus der Welt geschafft zu werden: Er läuft am Ende des Buches von selbst in einen Telegraphenmast.

 

Max träumt davon, das Leben eines Durchschnittsmenschen zu führen: ein Leben ohne Individualität. Listig nimmt er den Anspruch der Institutionen ernst, den einzelnen zu entlasten. Der Zwang zum Individualismus, der heutzutage ausgeübt werde, lasse auch gar keine andere Art von Individualität mehr zu als die, keine zu haben, räsoniert er. So wird der Biedermann zum Anarchisten, indem er das System übertreibt. Max optiert für das Private da, wo es nichts Privates mehr gibt. Mit traumtänzerischer Eleganz lässt Zschokke jedes aufklärerische Plädoyer für die Autonomie des Subjekts als plump erscheinen. Max lässt sich nichts mehr vorschreiben: „Meine Enttäuschungen bin ich.” Das ist dann allerdings selbst seinem Erzähler zu arrogant: „Dieser Mensch geht nicht”, empört er sich. Noch arroganter ist Prinz Hans: Auch er lebt in einer deutschen Metropole und bleibt ein „Trachtentänzer aus der Provinz, mit geradem Rücken, unwürdig”. Dass er ein Prinz sei, könnten auch die andern zu ihm gesagt haben, um seine Arroganz zu verspotten. Gerade das aber macht ihn erst hochnäsig: Er bleibt höflich und charmant, wie es sich für einen Prinzen gehört, der er nicht ist, und führt ein Leben als bescheidener Kioskverkäufer. Er unterläuft, was man ihm sagt, indem er es tut. Er „negligiert”, was ihm nicht gehört - so gehört ihm auch, was ihm nicht gehört. Seine Aufenthaltsbewilligung hat er beim „Daseinsberechtigungsamt” erschwindelt. Nun gibt er sich Mühe, seinem „gefälschten” Dasein selber Gründe zu geben: Im Kino beispielsweise lacht er an denselben Stellen wie die anderen, nur lacht er anders. Er tut, was die andern tun, aber er tut es aus anderen, aus besseren Gründen. Und niemand nimmt es zur Kenntnis.

Auch Prinz Hans ist nur ein „Wurm”, eine „arme Wurst”. Und wenn Max den Helden zu spielen versucht, sich im Theater vom Ehemann seiner Geliebten verprügeln lässt, verdient auch er nicht das geringste Mitgefühl. Max bleibt „Kartoffelstock”. Max wird nie ein Künstler. Er bleibt Zuschauer des Lebens. Ein Meister des Zuschauens ist ErSieEs: ErSieEs hat keine feste Identität und keinen festen Beruf: bald Mädchen oder Frau, bald Mann, bald einfach ein Objekt, das man aufhängen kann, ist ErSieEs mal im Filmgeschäft, mal als Proband für einen Pharmakonzern, mal auf dem Postscheckamt, mal für ein Marktforschungsinstitut tätig. ErSieEs ist Liebhaber und Fan des „meteorologischen Sängers” Mario Massa, der jeden Morgen die Wetterprognosen und andere Hinweise zur praktischen Lebensbewältigung singt. ErSieEs schreibt und empfängt Briefe, sitzt aber am liebsten in der Sonne, um „unerkannt auf Kanapees die wesentlichen Momente der Welt beobachten” zu können.

 

Gnadenlos nimmt Zschokke seine Figuren an die Kandare, wenn sich in ihnen der Wunsch nach Karriere regt. „Max bleibt Max”, das heißt: Aus nichts wird nichts. So soll es bleiben. Die niedrigste Stufe der Identität ist die verlässlichste. Ziel der Entwicklung ist der Nullpunkt. Niemand zu bleiben, ist der schwierige, aber einzige Weg, jemand zu werden. So wird jeder, was er ist, und es gibt keine tragischen Abstürze. Aber Max wehrt sich. Sieben mal versucht Zschokke vergeblich, ihn zum Verschwinden zu bringen. Beim achten Schluss des Buches trägt er ihn in den Wald und erschießt ihn auf erbärmliche Art und Weise. Dann packt er ihn, weil er umziehen will, auf den Müll: „Aber ich konnte ihn wirklich nicht mitnehmen. Und woanders wäre er möglicherweise noch trauriger geworden.” Max ist nicht umzubringen, der Roman nicht zu beenden. Fiktion und Wirklichkeit sind so zur Deckung gebracht.

 

Zschokkes Bilder sind nicht Abbilder der Realität. Sie behaupten ihre eigene, traumhafte Wirklichkeit. Sowohl in der Prosa als auch in den Filmen und Theaterstücken geht es Zschokke immer um das Echte der Täuschung, nicht um das täuschend Echte.

Die Piraten, die er im Theaterstück „Brut” (1986, Uraufführung 1988) auf die Bühne stellt, sind „Traum”-Piraten. Ihr größter Feind ist ihr eigener Anspruch, wirkliche Piraten zu werden, Schiffe zu entern, Beute zu machen. Sie müssen lernen, keine Piraten zu sein, um Piraten zu bleiben. Sie müssen lernen, im Sumpf festzuliegen, einen gekidnappten Dichter nicht gegen Geld einzutauschen und das Schiff einer auf dem Meer lebenden Fürstin nicht zu entern. Die Kapitänin Tristana Nunez aber setzt sich ebensowenig durch wie der zierliche Pirat Selkirk, der als Frau in Männerkleidern mit seiner Meuterei gegen die Natur ebenfalls scheitert: Alle verlieben sich in ihn. Soviel Ernst erträgt eine Metapher nicht. Selkirk erhängt sich, während die andern nun wie richtige Piraten ein Schiff zu entern beginnen.

Im Roman „Piraten” (1991) treten die Figuren aus dem Theaterstück heraus und werden Schauspieler. Das Stück bringen sie nie zur Aufführung. Nur der Garderobier ist noch da, wenn der Autor Zschokke sein Stück sehen will. Die Schauspieler sind verschwunden. Tauchen sie wieder auf, sind sie zum Spielen zu müde, von den Proben schon zu mitgenommen. Einige von ihnen überleben sie gar nicht. Aber auch als Schauspieler bleiben sie Piraten: Piraten, die Piraten spielen möchten. Piraten, die am Stück scheitern wie die, die im Stück scheitern. Das doppelte Scheitern macht sie wirklich. Als Kopien sind sie echt. Nur Piraten, sagt „Brut”, die keine sind, sind Piraten. Weil sie es im Stück nicht lernten, müssen sie es jetzt im Leben fühlen. Das Misslingen, das sie nicht spielen können, werden sie nicht mehr los. Die Parks, Hallen und Speisesäle der Heilbäder, in denen sie herumhängen, sind schlimmer als der Sumpf, in dem die Theater-Piraten dümpelten. Objekte unserer Sehnsucht sind sie nicht mehr. Sie haben selber Sehnsucht nach der Sehnsucht; die ist trauriger, komplizierter, nahe dem Nichts. Niemand weiß, was er will. Überall sieht man nur, was man nicht will; was man weiß und lieber nicht wissen möchte: den Alltag und die politische Wirklichkeit, den Schutt des Abendlandes und die Langeweile. Zschokkes Piraten lungern wie Heimatlose auf unseren Straßen herum, benehmen sich auf liebenswürdigste Art daneben und lassen ihre Stille hörbarer werden als große Worte und Taten. Nur mit sich selber beschäftigt, verwickelt in die Verwechslung von Spiel und Wirklichkeit in ihren Beziehungen, sind sie für uns brandgefährlich - wie echte Piraten. Sie ersetzen uns nicht mehr unser Defizit. Sie unterscheiden sich überhaupt nicht mehr von uns. Auch der Autor wird zu einer seiner Figuren, übernimmt Rollen verstorbener Truppenmitglieder. Er ist am Schluss der harte Kern der Truppe, die sich wöchentlich in einer Berliner Kneipe trifft, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, nur noch mit dem Altern beschäftigt.

 

Der Roman „Piraten” ist nicht eine Fortsetzung, sondern eine Verschärfung von „Brut”. Im Stück scheitern die Piraten. Im Roman wird der Autor selber zum Scheiternden. Ironisch enthüllt er die Entstehung des Stücks, indem er sie versteckt. Zuhinterst in Australien soll ihm ein gewisser Nettelbeck die Geschichte erzählt haben. Aber auch das ist wiederum eine Geschichte, unverbürgt am Rande der Glaubwürdigkeit. Ihr Erzähler ist selber ein Erzählter. Gut möglich, so Zschokke listig und illusionslos, dass er die Geschichte im Theater gesehen hat. Was also bleibt, sind Spiegelungen, Abschriften von Abschriften. Zschokke erzählt die Geschichte der Unaufhebbarkeit einer Geschichte, oder: der Wirklichkeit der Kunst.

Zschokkes Figuren sind Produkte und Opfer der Sprache, ihrer Worte und Metaphern. Nur wenn es gelingt, über sie zu schweigen, können sie wirklich leben: „Sobald man nichts mehr von ihm wissen wird, wäre er interessant geworden”, heißt es von Max. Das jenseits des Buches beginnende Leben ist das Ziel des Schreibens. Das Buch ist eine Vernichtungsmaschine: eine Anekdotensammlung, die alles zusammenträgt, um jemanden im Ungewissen zu belassen. Die amorphe, eklektische und an die antike Satire erinnernde Form, in der vom Brief über die Parabel bis zum Märchen und Theaterstück alles Platz hat, ist die zwingende Umsetzung des anarchistischen Lebensentwurfs der Protagonisten. Das Buch als Fiktion einer klar konturierten raum-zeitlichen Entität ist ad absurdum geführt. Der große Roman wäre jederzeit mühelos zu schreiben, demonstriert Zschokke, aber es kommt darauf an, ihn nicht zu schreiben. „Solange es jemanden gibt, der sagt: ,Thomas Mann, der großartige deutsche Romançier’, solange muß ich jeden Tag einen falschen Satz sagen”, schreibt er in „Max”. Die herrschende Ästhetik ist eine Institution des Bösen. „Der Regisseur soll gucken, dass die Schauspieler nicht ineinander laufen auf der Bühne”, lautet der erste Satz von Zschokkes „Berlinische Dramaturgie” (in: „ErSieEs”). Sie enthält eine Parodie auf den aktuellen Theaterbetrieb und eine minimale Poetik: Ein Buch ist ein Spielfeld, nicht mehr. Das Buch ist ein Spielfeld in einer Welt ohne Spielräume. Deutlich lassen Zschokkes Figuren das erkennen, was sie überspielen.

 

In einem Theaterstück, das unter dem Titel „Elefanten können nicht in die Luft springen, weil sie zu dick sind - oder wollen sie nicht-” auch als Bühnenmanuskript (1983) vorliegt, fasst Zschokke im „Prinz Hans” alle Figuren zu einem Finale zusammen. Hauptfigur ist Seume, der mit seiner Freundin, der erfolglosen Schauspielerin Leta, in einer Fabrikhalle wohnt. Ihr spielt er ein Puppentheater vor, in dem er die Rolle von Khanian Seume übernimmt, einem melancholischen und anarchistischen Sohn des reichsten Emirs der Welt. Dabei wird er u. a. immer wieder vom Tod, der sich selber zu Tode langweilt, gestört. Leta holt Gionandris, einen Cellospieler, und Zaira. Gionandris ist niemand anderes als der in Leta verliebte Prinz Hans. Das Stück, das nun alle zusammen spielen wollen, endet mit gegenseitigen Attacken und artet zu einem skurrilen Ball aus.

 

Das Spiel ist nicht ein Beweis realer Freiheit, sondern einer absoluten, die die reale Unfreiheit ausdrückt. Sein Hintergrund sind Einsamkeit und Langeweile in einer erstarrten, alt gewordenen Welt: „Wenn einer im Blut liegt, wurde schon jemand benachrichtigt. Man kann zuschauen oder weitergehen. Es wirkt klebrig und grau.” Für Leidenschaft und Gefühle ist es zu spät. Alles ist zu Ende gedacht. Es herrscht ewiger Sonntag. „Ist das nicht eine sonnendurchflutete Erzählung?” fragt ErSieEs. Selbst der Tod ist überflüssig. „Liebe, Sie können wählen, Straßenzustand kein Grund, können bleiben, können gehn, werden immer nur sich sehn”, lautet der letzte Gesang des meteorologischen Sängers. Um das Spiel als Spiel durchschaubar zu machen, müssen Zschokkes Figuren Dilettanten bleiben. Wenn hinter ihrem Spiel Leben sichtbar wird, ist das nicht dem Können, sondern ihrem Mangel an Perfektion zuzuschreiben. Das Spiel verändert die Welt nicht. Es ist zerschlissen wie ein alter Mantel, der nicht mehr an früher erinnert, „als das Zigarettenrauchen noch gekonnt sein musste”, sondern nur noch ein Mantel „von früher” ist. So hat alles seine Bedeutung verloren. Das Leben ist nichts als eine Attitüde.

Der Roman „Der dicke Dichter” (1995) setzt thematisch und formal die Reihe der Künstlerromane fort. In der Figur des dicken Dichters reflektiert Zschokke das literarische Schreiben auf der Ebene dieses Schreibens selber: „Ich schreibe zur Zeit an einem Buch. Darin soll nichts geschehen, die Zeiten sind Zeiten, mehr nicht, die Geschichten folgen eine brav hinter der anderen, manchmal geht ihnen die Luft aus, kleine Geschehnisse, Anekdoten, Zeug, von einem Dichter aufgeschrieben, der sich des schönen Titels wegen als dick bezeichnet. Manchmal gerät der Schreibende selbst ins Zentrum, ins Visier des Lesers, deckt sich mit dem Buchhelden, der ich bin, der jeder ist, erbarmungslos.”

 

Der „Schreibende” ist der dicke Dichter, Ich und Autor, ist jedermann. Dies ermöglicht das Spiel auf mehreren Textebenen, die ein komplexes Geflecht von Bezügen bilden. Das Ich ist im Besitz des Nachlasses des dicken Dichters. Zugleich ist es dieser Nachlass selber. Der dicke Dichter ist ein Mantel, den das Ich beschreiben, in den es schlüpfen und aus dem heraus es sprechen kann.

 

Das Ich bilanziert sein Leben in der Großstadt Berlin. In Berlin wohnt auch der dicke Dichter, der in einer Silvesternacht in einer stillgelegten Fabrik ebenfalls die Bilanz seines Lebens und seines Schreibens zieht. Ihm erscheint Severinchen, ein nicht definiertes Wesen, das ihn zum Geschichtenerzählen auffordert. Weit weg an einem schönen See, hat der dicke Dichter einen reichen Freund, bei dem er für kurze Zeit Erholung sucht von seinem gescheiterten Versuch, den viel beschworenen zeitgenössischen Großstadtroman zu schreiben. Bald wird ihm das Landleben unerträglich, und er kehrt nach Berlin zu seiner Geliebten zurück, wo er buchstäblich vor Glück stirbt.

 

In keinem andern Roman Zschokkes sind Schauplatz und Menschen so eindeutig in Berlin lokalisiert. Im subjektiven Erleben des dicken Dichters jedoch wird dieses Berlin zu einem Niemandsort, einer „faden Fladenstadt”, in der sich stumpfsinnige Ereignislosigkeit und widerliche Lebensgeilheit ergänzen. Berlin ist keine Reise wert. Berlin ist überall, überall ist Berlin.

Unerträglich ist dem dicken Dichter die Diskrepanz zwischen der Banalität Berlins und ihrer kitschigen Überhöhung in der Literatur. Fulminant rechnet er mit der herrschenden Literaturszene ab, kommt jedoch ohne die sonst üblichen Beschimpfungen aus. Zudem ist seine Argumentation getragen von grundsätzlicher Sprachskepsis. Dichtung als Benennungsvorgang zerstört, was sie zu retten vorgibt. Zschokkes ästhetische Kritik ist auch hier eine moralische: Literatur lügt. Gerecht ist nur die Literatur, die keine Gerechtigkeit einfordert: Sätze, die nichts als Sätze sind; Sätze, die die Welt lassen, wie sie nicht ist.

Aus der Verwerfung der überhöhenden Literatur entsteht in einem Abtragungsverfahren der vorliegende „flache” Text. Aus dem Berlin-Text wird das Text-Berlin. Zschokkes Roman ist nicht das Buch zur Wende, sondern das Buch als Wende, als Abwende. Redundanz der Form und Abundanz der Sprache verbinden sich zu einer Ästhetik des Abfalls. Das Abtragungsverfahren erlaubt es Zschokke, listig all das wieder aufzutürmen, was er abbaut. So kommt das Großstadtleben ironisch durch die Hintertür wieder in seinen Text. Abfallprodukte, nämlich abgefallen von ihrem Erzähler, sind die Geschichten, die der dicke Dichter für Severinchen und für uns geschichtensüchtige Leser erfindet. Ihr Erzähler folgt nur einer Maxime: strengste Teilnahmslosigkeit. Die Severinchen-Geschichten sind aalglatt und doch voller Risse, leise und doch schrill, die Kälte produzierend, gegen die sie uns helfen sollen.

 

„Schon wieder ist ein Jahr vorbei, diesmal ist kein Vers dabei”, dichtet der dicke Dichter gekonnt dilettantisch. Je gereimter die Literatur, desto ungereimter das Leben. Das bare Entsetzen hat den dicken Dichter gepackt: wir leben nicht und sterben nicht. Mutlos altern wir. Alles ist falsch, und wir wissen es. Wir wissen alles sogar besser. Weder ertragen wir, was wir tun, noch ertragen wir, dass wir nichts tun. Alles ist bedeutungslos, beliebig.

Zschokke stellt die alte philosophische Frage nach dem höchsten Gut. Der dicke Dichter ist ein radikaler Epikuräer, denn Epikur setzte die Apathie als höchstes Gut. Was er hingegen als Lust verstanden haben wollte, übersetzt der dicke Dichter mit Unlust. So wird die Müllhalde Berlin ihm zum „Gnadenbrotort”. Das falsche Leben hier ist das richtige. Die Geliebte des dicken Dichters ist dann noch radikaler, und alles klappt nochmals um: Berlin ist für sie nicht richtig, weil es falsch ist, sondern weil es richtig ist. Sie hat das Höchste erreicht: alles ist, was es ist. Wenn der dicke Dichter gestorben ist vor Glück, gibt sich das Ich ein letztes Mal weiter an ein anderes, an „einen Paul”, der seiner Mutter die Postkarte schreibt: „Herzliche Grüße aus dem zauberhaften Leben”. Er ist der „Weltnarr”, der den Mantel des dicken Dichters trägt wie ein luftiges, zu weites Kleid, heiter und trotzig, nichts verstehend und unverstanden.

 

Einen thematischen, wenn auch nicht mehr so engen Zusammenhang wie zwischen „Brut” und „Piraten” gibt es auch zwischen dem „Dicken Dichter” und dem rund fünf Jahre zuvor entstandenen Stück „Die Alphabeten” (UA 1994).

Am Anfang und am Ende steht, symmetrisch angeordnet, je eine Ohrfeige. Die erste erhält die soeben preisgekrönte junge Autorin Susanne Serval von einer über ihr Auftreten empörten Zuhörerin. Die zweite verabreicht die Serval selber ihrem Kritiker und Förderer Dr. Samuel Seet, der, an seinen hehren Absichten irre geworden, in einer Nervenklinik zusammenbricht. Auch die Ohrfeige der Serval vermag ihn nicht mehr zur Räson zu bringen. Dazwischen entwickelt sich das Drama, dessen Höhepunkt der groteske Tanz des Kritikers mit seiner Autorin im „Esplanade” darstellt. Dass die Serval nichts schreibt, sondern als Brotverkäuferin und als Jahrmarktattraktion auftritt, weil schließlich auch eine Preisträgerin ihr Leben verdienen muss, treibt den Schöngeist Seet in die Verzweiflung. Im letzten Bild wird dann ausgerechnet der junge Mann, der mit seiner gesunden „Turnlehrerphilosophie” die Dichterin aus dem Sumpf des Literaturbetriebes herausholen wollte, schon als nächster Preisträger gefeiert, auf einer Wolke, in die Ewigkeit entrückt.

Zschokke zeichnet ein apokalyptisches Bild der „Alphabeten”, der Träger des abendländischen Kulturerbes. Nur vordergründig allerdings handelt das Stück von einer Krise des Kunstbetriebs. Was nicht nur den Künstler in seinem Selbstverständnis radikal erschüttert, ist wie im „dicken Dichter” eine tiefgreifende Identitätskrise: „Alles, alles falsch!”, sagt Susanne, deren dezidierte Verweigerungshaltung („ich möchte lieber nicht” weigert sie sich, die Herrentoilette zu verlassen) an Melvilles Bartleby erinnert. Auch in der Figur der Kriminalkommissarin Baltensberger, die sich selber als bloßes Double erlebt, während ausgerechnet ihr einem Bilderbuch entsprungener Bruder „Fritz-der-Verbrecher” sich als „Original” bezeichnet, ist die zentrale Problematik gestaltet: Alles ist ein Kostümball, das Leben nicht weniger als die Kunst; und das eine ist vom andern nicht mehr zu unterscheiden.

 

Der Gegensatz zwischen Großstadt und natürlicher Abgeschiedenheit fern von den Zentren bildet den Hintergrund, vor dem Zschokke im Roman „Das lose Glück" (1999) seine mit den Problemen des Älterwerdens konfrontierten Figuren die Frage nach der rechten Lebensführung debattieren lässt.

 

Dem Dichter namens Roman, der in einer aufgelassenen Fabrikhalle in­mitten Berlins mit „Hofberichterstattung" (so nennt er die Beobachtung dessen, was sich im Hof seines Wohnhauses abspielt) befasst ist, steht die nicht mehr ganz junge Gruppe von Freunden gegenüber, die sich auf einer auf einem kleinen See vor Anker liegenden Jacht zu einer „letzten Feier des Lebens" zusammenfinden: Tana, Komparatistikprofessorin und Eignerin der Jacht; Samuel, Advokat und Notar; Portmann, Forstingenieur; und Linus, ehemals Lina, gescheiterte Sängerin, ein fast stummes Zwitterwe­sen. Dramaturgisch bedient sich Zschokke eines Tricks: Tana, die Pistole in der Hand, kündigt gleich zu Beginn ihren Selbstmord an. Einstweilen aber geschieht nichts. Nur Geschichten werden erzählt, die zunehmend in einen lebensphilosophischen Sog geraten. Romans Freundin Ellen ist das Bindeglied zwischen beiden Schauplätzen. Sie hält das Leben in Berlin nur noch selten aus und will weg. Im Hotel „Seegurke" nimmt sie ein Zim­mer, schwimmt nachts auf den See hinaus und wird von Tana an Bord genommen. Der Schuss löst sich dann zufällig bei Portmann, dem Tana die Pistole übergeben hatte. Ellen mag nicht mehr und steigt aus. Portmann stirbt im Spital. Die Freunde gehen auseinander, das Jahr geht zu Ende.

 

Im Grunde ist „Das lose Glück" ein Entwicklungsroman, geht es seinen Figuren doch um den schwierigen Prozess der Sinnfindung jenseits berufli­cher und gesellschaftlicher Karriere. Das Schiff auf dem windstillen See bei hereinbrechender Nacht ist eine Metapher für das summum bonum, nach dem sie streben. Inmitten des falschen Lebens bildet es eine utopische Insel nicht des Gelingens, sondern eines glücklichen Scheiterns. Zschokkes Figuren sprechen nicht mit einer Stimme, stellen aber alle zusammen doch Nuancierungen einer Grunderfahrung dar: dass die Glückseligkeit nicht mit dem lärmenden Aufwand der Konsumgesellschaft, nicht in den flüchtigen Surrogaten ihrer Illusionswelten zu erlangen ist. Nicht das Glück hat sich von den Menschen, sondern die Menschen haben sich vom Glück entfernt. In einem Weniger, nicht in einem Mehr liegt der Gewinn; im Anhalten, nicht im Vorwärtsstürmen die Rettung.

 

Die Leere, in die der Mensch existenzialistisch „geworfen" ist, ist die Heraus­forderung, die es mit „Tapferkeit" anzunehmen gilt. Hic et nunc, im Naheliegenden ist Erfüllung zu suchen. Ein kleines „Anstupsen", der leichte Luftzug der vorbeirauschenden Fortuna, ein „Glückslos" genügte, den Menschen die Augen zu öffnen. In den Wiederholungen des Alltags liegt das „Weltereignis"; in dem, was uns täglich niederschmettert, das „Erhabene". Dem zweckgerichteten Werden stellt Zschokke das Sein in seiner Ziellosigkeit und Ambivalenz gegenüber. Der Titel „Das lose Glück" spielt dialektisch auf die Glücklosigkeit und deren Überwindung im Glück der „Losigkeit" an. Die depressive Apathie, die seine Figuren in ihrer Lebenskrise befallen hat, versucht Zschokke umzuwerten in eine Apathie des inneren Ausgleichs. Stoische und epikureische Positionen werden im Roman bis in die gedanklichen Formen (des Paradoxons beispielsweise) hinein sichtbar.

 

Das Schiff ist aber immer auch eine Metapher für die Fragilität und Fiktionalität dieses Glücks, das nur für die Dauer einer der Geschichten, die die Romanfiguren erzählen, sich einstellt. Geschichten können die Traurigkeit der Dinge bannen, indem sie von ihr reden. Es geht dabei nicht um Inhalte, sondern um das „nackte" Erzählen, das Erzählen um des Erzählens willen. So ist eine konservative Lebensphilosophie hier aufgehoben im „losen" Bau einer postmodernen Patchwork-Poetik. Zschokkes auch in diesem Roman heftig vorgebrachte Kritik einer verlogenen Gesellschaft verlangt konsequent die Ablehnung der „großen Erzählung" und des auktorialen Erzählers. Das Erzählen des „Nichts-zu-erzählen-Habens" ist das „lose Glück". Zum Ausdruck kommt es in der Leichtigkeit, in die sich die Schwermut der Figuren auflöst; in der Freundlichkeit, mit der sie der Welt begegnen. Nicht mit systemkritischer Schärfe und alternativer Dogmatik gehen sie ihren Weg, sondern mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Dinge der Welt. In der Genauigkeit, für die Zschokke seit den Anfängen seines Schreibens optiert, fallen das Schöne und das Gute, das Glück und die Wahrheit, Moralphilosophie und Ästhetik in eins. Dabei hört Kunst auf, etwas Künstliches zu sein, und der Künstler wird wieder ein gewöhnlicher Bürger.

 

Mehrfach variiert Zschokke in den Theaterstücken, die vor und nach „Das lose Glück" entstanden sind, diese Grundthematik. Wie eine vorweggenommene Antithese erscheint die Komödie „Der reiche Freund" (UA 1995). Auch hier befindet sich der Gral der zschokkeschen Glückssuche an einem als Kontrapunkt zur Großstadt gesetzten idyllischen See.

 

Im Schloss über dem See residiert der reiche Freund mit seinem Diener und einer ihn konterkarierenden Hausdichterin. In der Stadt wohnt der Architekt mit seiner Freundin Rosa. Es ist Silvester. Der Architekt er­wartet von einem Besuch beim reichen Freund die Wende, den Aufstieg in seiner Karriere. Rosa, die spröde Skeptikerin, zieht alles herunter, was er sich erhofft. Der Besuch verläuft ernüchternd. Die Artusrunde kommt nicht zustande: alles ist am Ende, auch das Erzählen. Zum Schluss des Stücks ist es wieder Silvester - ob im nächsten Jahr oder noch im alten, einerlei. Der Freund kehrt in die Stadt zurück, von der Höhe ins „Flache".

 

Nichts geschieht in diesem Stück, das fast ohne Handlung auskommt und dessen monologischer Aufbau schon dasselbe Prinzip zeigt wie der Roman „Das lose Glück". Und doch hat sich am Ende Vieles verändert. Nichts ist so fragwürdig geworden wie die Suche nach dem Glück. Rosa, der sich der reiche Freund mit kühler Heftigkeit genähert hat, trägt Stigmen davon, die sowohl als Spuren des Lebens, wie auch als Spuren des Todes gesehen werden können. Auch die Stimmung hat sich geändert. In selten komischer Art hat Zschokke das Stück begonnen, in düster-schönen Tönen lässt er es enden. Eine Umkehrvariante von „Der reiche Freund" stellt „Die Einladung" (2000, Bühnenmanuskript, Kiepenheuer) dar. Der reiche Freund besucht das Architektenpaar in Berlin. Indem Zschokke hier auf den locus amoenus am See verzichtet, beraubt er die auf ein besseres Leben hoffenden Figuren einer Alternative. Für etwas - allerdings trostlose - Heiterkeit in dem wohl finstersten Stück Zschokkes sorgen höchstens noch spiegelverkehrt die Beziehungstragödien, die sich im Hintergrund der gequälten Gespräche der Eingeladenen abspielen.

 

Eine weitere Variation stellen „Die Exzentrischen" (1997, Bühnenmanuskript, Kiepenheuer) dar, die wie der Roman „Das lose Glück" in der Anlage einem sokratischen Symposium gleichen. Im Hintergrund steht das von Zschokke immer wieder verwendete Thema der Freundschaft, die er hier als Beziehung Beziehungsloser definiert. Auf eine präzisere Fragestellung allerdings lassen sich die Gespräche der Runde, die ein unerwartet eintreten­der Fremder provoziert, nicht festlegen. Gerade das Diffuse, das sich aus dem Aufeinandertreffen von vom Autor bewusst nicht gelösten Widersprüchen ergibt, wird zum eigentlichen Thema. Zschokke geht es auch hier nicht darum, eine Brücke zwischen den Figuren zu bauen, sondern darum, disparate Lebenserfahrungen und -haltungen herauszuarbeiten, wie sie auch in einzelnen Figuren selber aufbrechen können: wenn etwa die Protagonistin Baronne aus ihrem Bekenntnis zur „Flaute" heraus dem schlafenden Herrn Richter plötzlich eine verzweifelte Gier nach Liebe gesteht.

 

Das herausragendste Stück Zschokkes nach den „Alphabeten" ist allerdings „Die singende Kommissarin" (2002). Das monologische Prinzip ist hier bühnenadäquat zu einem Einpersonenstück verarbeitet. Eine zweite Figur tritt später hinzu, aber sie ist als Traumfigur der Protagonistin bewusst schemenhaft gehalten. Der Einakter ist zudem für die Entwicklung des Werks von Zschokke von großer Bedeutung. Die Thematik des sozialen Aufstiegs und der sozialen Beziehungen erfährt eine entscheidende Wendung. Was im Roman und in den andern Stücken letztlich doch in der Schwebe bleibt, ist hier entschieden: gegen die Welt des reichen Freundes, gegen die Utopie des Glücks und einer wie auch immer gearteten Idee der Vervollkommnung des Menschen.

 

Wiederum ist Silvesterabend. Während draußen die ersten Kracher zu hören sind, versieht die altgediente Kommissarin auf der Berliner Polizeiwache 32 ihren einsamen Dienst. Sie ist von der Welt ausgeschlossen. Gleichzeitig aber befindet sie sich auf einer Bühne, denn die Radiosendung „Ohr vor Ort" überträgt sie an diesem Abend live. Das Interesse gilt ihrer Vergangenheit als „Singende Kommissarin", die es einst mit den „Swingenden Vopos" zu lokaler Berühmtheit gebracht hatte. Die Erwartungen des Moderators erfüllen zwei, drei Reminiszenzen in Form gesungener Wetterberichte (eine Wiederaufnahme des „Meteorologischen Sängers" Mario Masse im Roman „ErSieEs") allerdings kaum noch. Auch ein Kapitalverbrechen, das seine Blutspur buchstäblich bis in ihr Büro zieht, bringt sie nicht aus der introvertierten Ruhe, mit der sie zur Jahreswende melancholisch Bilanz zieht. Das Erschütternde tritt auf in der Figur des Angestellten Schwarzkopf, der immer wieder in ihr Büro hereinplatzt. Mit einer schrägen Silvestermaskerade gerät er in die Träume der Kommissarin, um ihr schließlich als der reiche Freund entgegenzutreten, den sie einst gekannt hatte.

 

Die Sehnsucht der Kommissarin ist in der Figur des ebenso biederen wie gespenstischen Herrn Schwarzkopf travestiert. Das Glück ist ein Sonderling geworden wie der Schmetterling auf dessen Hand inmitten der schäbigen Berliner Stadtwelt. Die Kommissarin aber will nicht mehr weg, sie will weder Auf- noch Ausstieg irgendeiner Art, der singenden und künstlerischen schon gar nicht. Und sie will auch keine Freunde. Sie will allein bleiben. Sie will das „Nichts", das die Anderen dauernd bereden und verdrängen. Vor ihm ergreift sie nicht der Horror, sondern vielmehr eine Liebe, eine Liebe zur Freiheit, die ihr als tätiges Nichtstun im Sinne des antiken otium zum Synonym des Künstlerischen wird.

 

Wie die Gruppe der poetologischen Texte im Sammelband „Ein neuer Nachbar" (2002) zeigt, zieht sich die Polarität Großstadt-Provinz als Grundmuster durch Zschokkes gesamtes Werk. In ihr konkretisiert sich die Spannung zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Berlin fungiert als das Reale; das Leben auf dem Land, auf dem See, bei den „reichen" Freunden als der Traum, von dem zu schreiben wäre, wäre da nicht eine grundlegende Skepsis Zschokkes der Literatur gegenüber: Das Schreiben zerstört sein Objekt. „Auf dem Papier erst entsteht also die heftige Leere", schreibt er im „Brief an die Genfer". Weder Realität noch Traum sind in einer Geschichte adäquat zu erfassen. Deshalb gleichen seine Texte dem Gewebe der Penelope: Was sie oberflächlich zu erzählen vorgeben, lösen sie im Subtext wieder auf. Zschokkes oft mit verzweifelter Heiterkeit aus den vernebelten Niederungen des Alltags in eine gleißend dünne Märchenluft hochgeschraubten Porträts sind im Grunde Vertuschungsversuche. Sie holen die Figuren nicht in den Text, sondern öffnen ihnen lauter Türen, um zu verschwinden. „Dank dem Umstand, dass ich ihn vergessen habe, konnte er überleben", heißt es in „Der weinende Sänger" über den Sänger Theodore Zertz, den Zschokke in einem Text, der wie eine Hommage daherkommt, in die Welt des Vergessens zurückerfindet. Der Text dient als falsche Fährte: Er redet, um über das Wesentliche nichts zu sagen. Zschokkes Sätze sind deshalb gegen den Strich zu lesen. Aber doch nicht ausschließlich. Sie bilden in ihrer Doppelbödigkeit die Erfahrung der Widersprüchlichkeit des Lebens ab, aus der heraus ihr Autor schreibt. Als die „mittlere Höhe" ist sein Schreibort zu definieren, die sein Jean-Paulscher Ballonfahrervergleich beschreibt: „Einer, der weiterhin Sand rieseln lässt, nicht steigt, nicht sinkt, der flach dahingleitet, knapp über dem Boden der Realität." („Brief an die Genfer")

 

Einen etwas anderen Ansatz hat zunächst die Gruppe satirischer Arbeiten, in denen Zschokke sich zu aktuellen Themen äußert, während er solche Äußerungen gleichzeitig verweigert. Massiert verwendet er hier rhetorische Mittel wie Umdeutung gewohnter Ausdrucksweisen, bewusste Inkorrektheiten, Gewichtsverschiebungen, Forcierung von Klischees u. a. Hier wird auch sichtbar, wie viel er von seiner eigenen skeptischen Weltsicht in diejenige seiner Romanfiguren einfließen lässt. Besonders fulminant seine in „Der dicke Dichter" dann ausformulierte Abrechnung mit der verzweifelten Eitelkeit der in „galoppierender Selbstauflösung" begriffenen neuen Bundeshauptstadt Berlin („Die ewige Vorstadt"). Solche Eloquenz zeigt, dass gerade er nicht nichts dazu zu sagen hätte, wie er vorgibt. Der Dichterberuf aber, wie er ihn versteht, ist es, Literatur zu produzieren, und die hat per definitionem nichts mit dem „Leben" zu tun, sondern handelt von Dingen, die nur in der Literatur zu finden sind - von Wortdingen wie etwa der „Lederträne" Friederike Mayröckers („Lederträne").

 

Insofern das Schreiben nach Zschokke die Dinge nicht „erhebt", sondern „erniedrigt" („Brief an die Genfer"), kann das Ziel des Schreibens nur der ungeschriebene Text sein. „Kunst strebt nach Unverwertbarkeit, Unverwechselbarkeit, Untauschbarkeit", lautet sein poetologisches Credo („Amateure, Autodidakten, Dilettanten, Ich"). Ziel des Schreibens ist das immer Andere; das, was sich jedem Zugriff des Autors entzieht. Dem ungeschriebenen Text entspricht der „unsichtbare Film", wie Zschokke in „Roman und Ramona" zum Film „Erhöhte Waldbrandgefahr" schreibt: „Das Paar, das ich für wesentlich und unersetzbar halte, wollte ich leben lassen und habe sie dementsprechend versteckt."

 

Text und Metatext, Poesie und Poetik, das zeigt die Sammlung „Ein neuer Nachbar" erneut eindrücklich, fallen zusammen. Ein Dichter ist einer, der über einen Dichter schreibt. Der beschriebene Dichter sitzt nichtschreibend, d. h. über einen Dichter schreibend, der nicht schreibt usw. in seinem Atelier: „Eigentlich ist das die genaue Umschreibung meines Alltags: Dasitzen, Warten." („Brief an die Genfer") Seine Wirklichkeit ist die Wirklichkeit des Schreibtischs in der alten Fabrik, die keines Blickes, aber gerade deshalb der Rede wert ist: „Meine Erkenntnisse würden anders ausschauen, hätte ich den Titicacasee vor Augen gehabt." („Mein Freund, mein eiserner Gussofen") Das Verschwinden des Dichters in diesem bedeutungslosen Raum ist die Bedingung der Möglichkeit seines Werks. Dieses besteht nicht aus preisgekrönten, für die Ewigkeit geschriebenen Romanen, sondern aus dem winzigen Abdruck des Reifens beispielsweise, den sein Fahrrad an der Mauer im Eingang zum Atelier täglich hinterlässt („Hinterlassenschaften"). Erst das so minimalisierte Ich bietet dem „schmierigen" Zerfall des Lebens („Sol") und dem allgegenwärtigen Tod keine Angriffsfläche mehr. Zschokke ist allerdings auch immer wieder selbstironisch genug, solchen Selbstminiaturisierungszwang als typisch schweizerische (Un)Tugend zu karikieren („Dienerbewerbung").


Sind im Roman «Maurice mit Huhn» (2008) schon die äusseren Eckdaten nur noch schwach bestimmt, verzichtet er in seinem Inneren fast vollständig auf eine kohärente Handlung und Entwicklung. Seine Chronologie folgt dem objektiven Verlauf der Zeit (Jahre, Tage, Stunden), nicht der Gestaltung durch ein handelndes Subjekt. Die Teilstücke fügen sich assoziativ aneinander und ergeben bloss additiv ein Ganzes. Zusammengehalten wird der Roman durch eine sich im Erzählen konstituierende Kunstfigur namens Maurice, die grosse Teile in Briefform selber schreibt. So ergibt sich ein Text jenseits von Fiktion und Realismus. Dies bedeutet jedoch nicht die Abkehr vom Roman als solchem, sondern bloss die Subversion seiner gewohnten narrativen Strukturen. Wozu sich Zschokke, das gehört zur Subversion, durchaus eben dieser Strukturen bedient. Der Anspruch von Maurice, nicht «immer nur im Kino und in Romanen das wilde Leben vorgeführt zu bekommen», sondern etwas «von jenem wirklichen, das draussen vor seiner Tür stattfindet», kann nur durch den Roman «Maurice mit Huhn» eingelöst werden.

Das Spielfeld des Romans ist bekannt aus anderen Werken Zschokkes. Maurice lebt mit seiner Geliebten im Zentrum Berlins in einer Mietwohnung. Wir sind in der Zeit nach dem Mauerfall. Seinen Arbeitsplatz, einen Schreibtisch, hat er in einer aufgelassenen Fabrik am Nettelbeckplatz im Nordosten. Es ist eine unattraktive Gegend. Wer kann, geht weg. Nur Maurice hält die Stellung. Am Anfang des Romans steht eine Einladung bei Flavian, mit dem Maurice früher in einer Bürogemeinschaft ein «Kommunikationskontor» führte. Nach Flavians Ausstieg schreibt Maurice weiterhin Korrespondenzen für Kunden. Flavian ist mittlerweile Schauspieler, ein eher zweitklassiger «Kleindarsteller». Der bevorstehende Besuch bringt Maurice in Verlegenheit, weil er nicht weiss, was er mit Flavian reden könnte. Der Roman erzählt in der Folge in paradoxer Eloquenz im Grunde von nichts anderem als von dem, was Maurice nicht zu sagen weiss. Alles, was er nun dem Leser sagt, ist damit objektiv a priori entwertet. Subjektiv, als Aussage über die Figur Maurice selber, gewinnt es dadurch an Bedeutung.

Neben dem Briefeschreiben führen Maurice tägliche Gänge durch die Umgebung des Nettelbeckplatzes. Dabei begegnet er Nachbarn, Kindern und Erwachsenen, mit denen er zurückhaltend in Kontakt tritt. Selten besucht er zusammen mit seiner Geliebten einen Freund. Seine Tage verbringt er vorallem damit, anekdotische Erinnerungen (auffallend darunter die an eine seine Mutter spielende «dummen Greisin» im Altenheim und einen an Demenz sterbenden Vater) und Meditationen über die spätkapitalistischen Warenwelt und seine Existenz als «Arbeitsloser» niederzuschreiben. Eine beliebig lange Liste vom Fensterputzen bis zu Thema Weekendreisen liesse sich erstellen. Zusätzlich wird der Text immer wieder durch aleatorisch aus einem Lexikon entnommene Begriffe in Gang gebracht. Einige der Reflexionen teilt Maurice in Briefen Hamid mit, einem befreundeten Kaviarhändler in Genf. Hie und da unternimmt Maurice Reisen, so einmal mit seiner Geliebten nach Turin. Wichtige Erfahrungen macht er in Jordanien, wohin diese ihn allein schickt. Hier entdeckt Maurice endlich Menschen, die nicht wie die Europäer an «Geldsucht» leiden, sondern seinem Ideal einer «fatalistischen Gelassenheit» entsprechen.

Maurice ist keine konsistente Figur. Er ist «sanft», «faul» und «müde», ein «typischer Vertreter seiner Zeit». Das Leben erscheint ihm wenig sinnvoll. Manchmal überlegt er, «wie er sich abschaffen könnte». Wie der Roman selber «hangelt» er sich voran. Er liebt das Grau und verharrt in blossen Ahnungen: «Maurice hat nie richtig gelernt zu denken. Er ist bis heute dumm geblieben und lebt in der beständigen Angst, enttarnt zu werden als das, was er ist und am Ende gewesen sein wird: ein Wissenskörner pickendes Huhn, das Huhn in seinen eigenen Armen» heisst es in Anspielung auf das Bild «Maurice mit Huhn» auf dem Buchumschlag. Es handelt sich dabei um das Porträt, das der im selben Dorf wie Zschokke geborene Schweizer Maler Albert Anker (1831-1910) von seinem Sohn Moritz gefertigt hat. Der kleine Bub trägt ein Huhn in seinen Armen.

Missverstehen würde man Maurice, wenn man ihn für einen Zyniker hielte. Wenn er räsonniert: «Wer kann schon ausbrechen aus seinem Trott. Gewohnheiten sind etwas sehr Kräftigendes» meint er nicht das Gegenteil. Wenn er aber dennoch ein singuläres Individuum ist, dann nur weil er nicht zu den gewöhnlichen Gewöhnlichen passt, die überall das Aussergewöhnliche suchen. Insofern ist er ein Nachkomme von Zschokkes erster Romanfigur «Max». Er beharrt auf seiner Bedeutungslosigkeit und steigert die tägliche Leere zur bewussten Lebensform. Mit freundlicher Arroganz kultiviert er sein Fremdsein und läuft seinem Scheitern immer mit offenen Augen in die Arme.

Wie der Fuchs in der Fabel erklärt Maurice das, was er nicht kann, zu dem, was er nicht will. Soziale Kontakte etwa empfindet er als eine «Zumutung». Wenn es ihm nicht gelingt, die Herkunft eines ihn faszinierenden Cello-Tones zu eruieren, ist ihm gerade seine Unauffindbarkeit und der sich daraus ergebende «Ort der Sehnsucht» wichtig. Er möchte gar nicht hinter die Mauer blicken, hinter der er die Spielerin oder den Spieler vermutet. Nur solange er sie nicht kennt, bleibt ihre Musik Inbegriff der Reinheit der Kunst, die durch das Sichtbarwerden ihrer Entstehung ihres schönen Scheins und ihrer Grazie beraubt würde. Deutlicher als Schiller oder Kleist jedoch weiss Maurice, dass er die Mauer, hinter die er sein ästhetisches Ideal versteckt, selber baut und insofern immer schon überschritten hat. Eine Art «Mauerfall» ereignet sich denn auch folgerichtig in einer tristen, pornographischen Balkonszene mit der Cellistin (mit einer nicht pornographischen, aber deshalb nicht weniger tristen Szene auch mit dem Cellisten). Die anschliessende Erklärung, es habe sich dabei soeben nur um ein «vorgestelltes Abenteuer» gehandelt, erfüllt eine doppelte Funktion: Maurice entschuldigt sich so für seine überhitzen, romanhaften Einbildungen, springt dabei gleichzeitig wieder vor die Mauer zurück und stellt das Potential seiner Einbildungskraft wieder her. Das Cello aber verstummt in der Folge im Text. An seine Stelle tritt ein öde klimperndes Klavier.

Maurice lehnt den Roman nicht grundsätzlich ab, sondern sucht ihn durch nicht per se schon romanhafte Themen zu erneuern: «Wenn wir jederzeit offen genug wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen, den Traum eines Lebens, einen Roman, ein ewiges Abenteuer.» Diese implizit ethische Ästhethik der kleinen Dinge ist nicht neu, wirkt in ihrer Realisierung jedoch überzeugend, etwa wenn Maurice minutiös und doch völlig unangestrengt das Staubbad von Spatzen betrachtet. Es geht dabei um einen Blick, der nicht schielt, am wenigsten auf «Kunst». Ein Blick ohne Zweck, aber nicht ohne Interesse, denn auch in «Maurice mit Huhn» geht es wie im gesamten Werk Zschokkes um das «summum bonum», um die alte Glückseligkeit, die mit modischem «Wohlbefinden» wenig zu tun hat. Poetologisch ist das Aufgreifen und Fallenlassen von Themen und Stoffen für diese Ästhetik substantiell. Das eklektische Nebeneinander verzichtet auf Sinnkonstruktionen zu Gunsten der Widersprüche. Flüchtigkeit und Dauer, Schäbigkeit und Schönheit, Trostlosigkeit und Heiterkeit werden nicht versöhnt. Die Turin-Reise etwa ist eine Enttäuschung. Maurice meint gar, sie seien ins «Zwischenreich» des Todes geraten. Aber er reportiert mit einer Gelassenheit, Erleichterung fast, als wäre er gerade hier an einem Ziel angekommen.

Zschokke verschiebt die Erzählperspektive oft kaum bemerkbar vom Er zum Ich. Überlagert wird sie von einem in feinen Einwürfen manifest werdenden auktorialen Stil, der das Buch jederzeit als «Bühne» und die Figuren als «Rollen» deutlich macht. Dasselbe gilt, wenn er bezüglich des zentralen Cellomotivs auf seine Erzählung «Das Cello» (in: «Ein neuer Nachbar») verweist. Es geht ihm dabei nicht darum, sich als Regisseur zu etablieren, sondern den Text zu emanzipieren und sich selber als Autor zu entlasten. Mit dem «Maurice» erfüllt er subjektiv bloss eine Pflicht: «Denen, die noch leben, erzählen, wie es war, als sie lebten». Die objektiv «glücklichen» Protagonisten des Romans sind die Sätze selber, die sich von der Autorität ihres Sprechers befreien: «Was für eine befreiende Tat, all die unterdrückten Dummheiten, die zurückgehaltenen Wörter und Laute auf die offene Wiese hinauszutreiben, sie laufen zu lassen, sie galoppieren und Sprünge machen zu sehen – » Solche Sätze, in denen die Metaphern die Sache selber sind, überholen ihren Autor notwendigerweise und machen auch ihn zum Leser.

Sowohl im Band «Auf Reisen» (2008) wie in «Lieber Niels» (2011) nutzt Zschokke nichtliterarische Gattungen. «Auf Reisen» versammelt Reportagen über so unterschiedlich bekannte und beliebte Reiseziele wie etwa Chur, Hasliberg, Guggisberg, Grenchen (allesamt in der Schweiz) einerseits und Budapest, Berlin, New York, Jordanien andererseits. «Lieber Niels» dagegen ist eine umfassende Publikation von E-Mails, die Zschokke in den Jahren 2002 bis 2009 beinahe täglich, manchmal sogar mehrmals am selben Tag, an seinen langjährigen Freund Niels Höpfner geschrieben hat. Allein schon die Tatsache, dass Textpassagen aus beiden Büchern so oder ähnlich auch in Zschokkes Romanen zu finden sind, verweist auf die grundsätzliche Nähe der veschiedenen Genres in Zschokkes Schaffen insgesamt. Während in den Reisereportagen ein journalistisches Format zunehmend auch mit privaten Inhalten gefüllt und damit sein ursprünglicher Rahmen gesprengt wird, versucht die Publikation der E-Mails ein dem vorallem privaten Austausch dienendes Medium als Gattung der Kunst zu etablieren.

Einige der Reisereportagen hat Zschokke in den Jahren 1999 bis 2005 für die Reisebeilage des «Tages-Anzeigers» verfasst. Bereits sie zeichneten sich aus durch betont subjektive Beobachtungen und Erfahrungen und die unverhohlen privaten Massstäben folgende Wertungen des Verfassers, den man sich aufgrund seiner Eigenwilligkeit eher als ausschweifenden Streuner denn zielfixierten Touristen vorstellen wird. Die Imponderabilien des Reisens und die Rückseite der Sehenswürdigkeiten interessieren ihn meist entschieden mehr als deren präsentable Vorderseite. Dass seine Notizen und Tipps dennoch von praktischem Nutzen sind, macht den Reiz dieser Texte aus. Wozu gewiss auch ihr manchmal ironisch erzieherischer Impetus gehört, mit welchem sie den Reisenden nicht bloss auf seine Ziele, sondern auch auf sich selber vorbereiten: «Wo immer Sie abgestiegen sind, wird sogleich das ungute Gefühl in Ihnen aufsteigen, Sie seien an der falschen Ecke gelandet und verpassten gerade die Hauptsache. Hören Sie nicht auf diese innere Stimme. Versuchen Sie Ruhe zu bewahren und nicht die Flucht ergreifen zu wollen. Sie werden sonst in die Leere laufen und verzweifeln» beginnt Zschokke seine Berlin-Reportage gleich zu Beginn des Bandes.

Für die Buchpublikation hat Zschokke einige Veränderungen an den Zeitungsreportagen vorgenommen. Die grösste erfahren sie jedoch dadurch, dass sie nun Teil einer einzigen «Erzählung» sind, wie der gesamte Band im Untertitel bezeichnet wird. In einer gleichzeitig lockeren und konsequenten Komposition sind sie intermittierend und kontrapunktisch eingelagert in einen längeren Bericht über New York (das Genre der Reportage ist hier umstandlos aufgegeben), wo Zschokke einige Monate als «Writer in residence» lebte. Dadurch entsteht eine fruchtbare Spannung zwischen dem Kleinen, Ruhigen, häufig auch Ländlichen gerade der Reportagen aus der Schweiz und dem Hektischen, Unübersichtlichen, Urbanen der «Weltstadt» jenseits des Atlantiks. Deutlicher als in einzelnen Reportagen wird so das tiefer liegende Interesse Zschokkes fassbar. Es geht ihm «auf Reisen» zwar immer auch um die Wahrnehmung historischer, kultureller und gesellschaftspolitischer Phänomene. Ebenso sind Klischeevorstellungen, Vorurteile und bekannte Bilder aus Film und Literatur Teil seines Reisegepäcks. Was ihn als Reisenden jedoch auszeichnet, ist jene auch in den Romanen festzustellende Fähigkeit, ein existentielles Unbehagen derart zu sublimieren, dass auf dessen Rückseite Heiterkeit, Gelassenheit und Ironie erscheinen. So verliert gerade die Erfahrung der Fremdheit, die das Reisen notwendigerweise begleitet, jede Dramatik.

Entscheidend ist auch «auf Reisen» das Marginale. So kommen beispielsweise durch eine zufällige Begegnung (europäische) Schwermut und (amerikanische) Leichtigkeit, die auch in Zschokkes Reportagen sonst weit auseinanderzuliegen scheinen, dann doch zusammen. In der zweiten Berlin-Reportage, die den Band beschliesst, begegnet er auf dem Heimweg von seinem Büro mitten auf der Strasse einer moribunden Ratte: «Ein Prachtexemplar, der nackte Schwanz in anmutigem Bogen hinter ihr, die eine Pfote neben ihrem Mund. Sie atmete irgendwie friedlich. Wahrscheinlich waren es ihre letzten Züge. Ich stand gebeugt über ihr und atmete auch ganz friedlich. Dann richtete ich mich auf und ging nach Hause, wo ich mich ins eigene, frisch gemachte, kühle Bett legte und rasch einschlief.»

Was in den E-Mails an «Niels» zur Sprache kommt, ist im einzelnen weniger von Interesse, denn es kommt grundsätzlich alles in Frage und kann in der Konzeption des gesamten Werkes von Zschokke nichts anderes sein als das, was in den literarischen Texten auch zur Sprache kommt: tägliche Befindlichkeit, Lebensangst, Lebensfreude, Krankheit, Alter, Verlusterfahrungen, Schaffenskrisen, Verlagsprobleme, Kritiker- und Leserreaktionen, Lese- und andere Reisen, Lehrerfahrungen, finanzielle Nöte, Wohnungsprobleme, Welt- und Gesellschaftspolitik, Moral, Religion, Mode, Essen und Alkohol, Freunde, Begegnungen mit Künstlern, Theater, Filme, Lektüren – und natürlich immer wieder die Tücken des elektronischen Mediums selber. Zschokkes E-Mails leben von einem lustvollen, auch manischen Formulierungstrieb; von seinem Selbstverständnis als einer Existenz, die sich jeden Tag selber erschreiben muss. Manches ist argumentativ wenig fundiert, widersprüchlich, erhebt aber auch gar keinen Anspruch auf Gültigkeit. Gerade dann nicht, wenn das Gegenteil der Fall zu sein scheint. Der «Zschokke», der sich dabei zeigt, ist kein anderer als verwandte «Figuren» seines Werks: empfindlich, eitel, schwankend zwischen Pathos und Ironie, hoch- und tiefstapelnd, jauchzend, jammernd, schwärmend und vernichtend, kokett, charmant und widerborstig, schroff, arrogant, schüchtern, Ruhe suchend, freiheitshungrig und befallen vom horror vacui, nervös - und immer auf der Suche nach einem Wahren, Schönen und Guten, das sich ihm auch hier zumeist nur noch im Kleinen, Schwachen und Heruntergekommenen zeigt.

Keinesfalls ist «Lieber Niels» als Autobiographie konzipiert, in jedem Fall ist es aber mehr als Steinbruch und Materialienband. Wie alle Bücher Zschokkes ist auch dieses Konvolut umgetrieben vom Problem der Authentizität, das sich darin aber doch etwas anders präsentiert. «Lieber Niels» ist eine Eingeweideschau, bei der das Schauen selber zur Schau gestellt wird. Redundanz und Abundanz, ohnehin schon wesentliche Merkmale Zschokkes, finden in der Form des E-Mails einen idealen Boden. Je nach Lesart aber – rückt eher das Fiktionale, rücken eher die Realia in den Vordergrund – wird das literarische Urteil über «Lieber Niels» unterschiedlich ausfallen.

Dass seine eigenen Mails nicht mit abgedruckt sind, begründet Höpfner damit, dass sie in denjenigen Zschokkes implizit immer vorhanden seien. Wie er im Vorwort schreibt, handelt es sich um eine «Auswahl», auch wenn es auf fast achthundert Seiten tausende E-Mails sind: «Zur Poetologie dieses Buches gehört sein unziemlicher Umfang». Es handle sich weder um eine «epische» Kondensierung noch um einen «Roman», sondern um eine «Abbildung» des «Mahlstroms der Zeit», um einen «Erzählband sui generis». Obschon laut Höpfner die Mails niemals für die Öffentlichkeit geschrieben worden sind, zeigen allein schon seine Bemühungen um eine formale Bestimmung, dass sie durch ihre Publikation als «Literatur» verstanden werden sollen. Es ist in der Entwicklung des Werks von Zschokke auch nachvollziehbar, dass der Figurwerdung des Autors in einer Umkehrung einmal die Autorwerdung der Figur folgen musste. Wenn dabei auch dieser Autor wiederum zur Figur würde, wäre der Kreis geschlossen und der Gegensatz zwischen Leben und Werk endgültig aufgehoben.

Dieses Unterfangen erscheint dann aber doch zu ambitiös. Zu stark zeigt sich in den E-Mails immer wieder vor allem eine unaufhebbare Kluft zwischen Zschokke und der Autorenfigur. In einem aufschlussreichen Mail vom 31.5.07 schreibt er, in den Anfängen habe er die «Kühnheit» gehabt sich «als Schriftsteller zu erfinden». Jetzt aber genüge es nicht mehr «sich Dichter oder Regisseur zu nennen», sondern es gehe darum, «dass man es sein muss». Zschokke hebt das «sein» hervor, entscheidend ist aber auch das «müssen». Es zeigt, dass die Schreibexistenz weiterhin eine Erfindung bleibt, eine für das Ich jetzt anstrengendere und auch angestrengtere allerdings.

Neben dem Erscheinen von «Maurice mit Huhn» und der Produktion eines neuen Films sind die Schwierigkeiten, eine Bühne zu finden für die Uraufführung des Theaterstücks «Raghadan» (2005) in den E-Mails ein häufiges Thema. Gerade in diesem Stück wiederum sind Vermittlung, Ausbeutung, Wahrnehmung und Wahrhaftigkeit der Kunst und der Kunstschaffenden zentral.

Das «Raghadan» ist eine Bar in einer Vorstadt mit angebautem «Forsthaussaal». Die Klientel der Bar und die alphüttenartige Atmosphäre des Saals passen sowenig zusammen wie die beiden Anlässe, die den Rahmen des Stücks bilden: der Musikprofessor Sass sucht zur Geburtstagsfeier des Bassbaritons Karl Levin bei einem Wirt eine Lokalität, dem soeben die Frau gestorben ist. Diese Schieflage wuchert dann in allen Schichten und Fasern des Stücks. Der Levin begleitende Pianist Kant hat zwei Finger einer Hand einbandagiert. Der Kammersänger selber ist meist «indisponiert» und muss dauernd aufs Klo. Die beiden treten zusammen schon vor dem Geburtstagsfest in der Bar auf. Da ihre Karriere als Interpreten ernsthafter Musik wie der «Schönen Müllerin» zur Neige geht, tingeln sie nun spätabends als «Die 2 schönen Müller». Statt Schubert und Schumann singen sie «Raghadan», eine operettenhafte Schnulze, die deutschen Schlager mit orientalischen Versatzstücken mischt. Die einzigen Zuhörer sind ein schlecht zusammenpassendes Paar: Oskar, unentwegt mit dem Nachdenken über die Sprache und die Unmöglichkeit sich wahrhaftig auszudrücken befasst, und die ihm aufsässige Übersetzerin Helene, die selbst aus Sprachen übersetzt, die sie nicht versteht. Ähnlich unvereinbar sind Levin und das in der Bar aushelfende Mädchen Eva. Während sie glühend und etwas unbeholfen Levins «Kunst» verehrt («ein wunderbarer Mensch»), geht er ihr am Abend seiner Feier in schnöder Verzweiflung an die Wäsche. Während schliesslich allen das dünne Eis wegbricht, auf dem sie sich bewegen, erscheint ein von Kant bestellter «Producer». Sein Name ist «Heiland», er ist Spezialist für «Vergangenheitsbewältigung», sein Traumprojekt sind «Hitlerfestspiele». Er könnte sich vorstellen, Kant und Levin in einem «Schaukampf der schönen Künste», in dem die Künstler wie Boxer aufzutreten hätten, neu zu lancieren. Die schiefe Geburtstagsfeier ist bereits das, was er haben möchte: ein Sängerwettstreit der brachialen Art, bei dem zuletzt alle nur «vorgeführt» werden, auch die Musikstudentin Ulla, die ein völlig deplaziertes Protestlied vorträgt, und die Sängerin Olga, die zum Schubert-Lied «Der greise Kopf» anhebt. Das Stück endet, wie es angefangen hat: mit dem Lied «Raghadan». Nur dass jetzt nicht mehr «Die 2 schönen Müller» allein singen, sondern «Die 3 schönen Müller». Eva gehört nun auch dazu. Die einzigem Zuhörer bleiben Oscar und Helene.

Wieder ist in einem Werk Zschokkes «nichts» passiert. Ausser dass die abgedroschene Spruchweisheit des Wirts «Das Leben geht weiter» nun nicht mehr bloss für ihn in seiner Trauer, sondern für alle gilt. Für niemanden gibt es eine Erlösung. Es gibt (wie für Büchners «Danton») nur «Fäulnis». Die Figuren haben sich bis zur Peinlichkeit entblösst, aber weder zu sich noch zueinander gefunden. Selbst die «anständige» Eva mit Levins Gesang im Kopfhörer verpasst den Menschen Levin, wenn er in persona vor ihr steht. Auch sie bleibt eingeschlossen in sich selbst. Zschokkes Figuren erinnern an Leibniz’ Monaden, bloss perfekt sind sind sie nicht, und es gibt zwischen ihnen auch keine wie auch immer «prästabilierte» Harmonie. Wenn ihre Sphären miteinander in Berührung kommen, kommt es zu kurzschlussartigen Bränden. Für kurze Zeit öffnen sie sich und die ganze Ordnung, an die sie sich ängstlich geklammert hatten, zerbricht. Dann sehen sie aus wie aus lauter unpassenden Teilen zusammengesetzte Clowns. Wenn sich ihre Hüllen wieder schliessen, taugen diese auch zur schützenden Selbstdarstellung nicht mehr. Ihre Sehnsucht nach dem «Richtigen» ist auf der Geburtstagsfeier nicht erfüllt, sondern verraten worden. Evas beiläufige Bemerkung zu Levin: «Warum führen Sie sich immer so unmöglich auf und spielen andauernd einen Sänger? Sie sind es doch sowieso?» drückt lapidar und gnadenlos aus: niemand hier entkommt sich selbst.

«Raghadan» ist ein ästhetisches und auch komisches Trauerspiel. Als Antagonist dessen, was auf der Bühne geschieht, fungiert die Tonspur, die in immer wieder anderer Form hörbar wird. Auf ihr die Lieder Schuberts, Schumanns etc. Ohne etwas zu übertönen, durchdringen sie das Stück wie ein selbstironischer Kommentar: allein das in einer künstlerischen Form Verfremdete vermag noch «wirklich» zu sprechen.

Wieder stärker strukturiert und kohärenter gebaut als vorangehende Romane ist «Der Mann mit den zwei Augen» (2012), obschon er das Prinzip der anekdotenhaften Addition weiterhin anwendet. Zschokke erzählt auch hier in einer personalen Perspektive. Wenn er sich ab und zu auktorial einmischt, dann um den Leser nicht vergessen zu lassen, dass es sich bei dem Mann um eine Kunstfigur und bei seiner Geschichte um ein Buch handelt.

Der Mann, dessen Lebensprobleme sich krisenhaft zugespitzt haben, ist ein «Zerrissener». Er hat nicht nur «zwei Augen», sondern auch zwei Leben, die sich in seinen Rückblenden weder zusammenfügen noch separieren lassen: das vergangene mit einer schon zu Beginn des Romans versterbenden Frau und das gegenwärtige als alleinstehender Mann. In zwei ganz unterschiedlichen Umgebungen und Lebenssituationen versucht er sich zurechtzufinden. Ins Zentrum rückt Zschokke nicht nur den Mann, sondern auch die zwei Frauenfiguren, von denen seine existenzielle Befindlichkeit mitbestimmt wird: die namenlose, später «Stanea» genannte ehemalige Lebenspartnerin und die Bardame Rosaura, zu der er in seinem «zweiten Leben» in eine lose, aber doch intensive Beziehung tritt. Ins Figurenkabinett Zschokkes passt der «Mann mit den zwei Augen» bestens: mit seiner stolzen Schüchternheit, seiner verqueren Beflissenheit. Mit seiner leichtfüssigen Komplizierheit auch, die seine Sprachlosigkeit immer wieder in dramatische Sprachposen ausarten lässt. Der «Mann mit den zwei Augen» ist nur ein bisschen älter, faltiger, schütterer und manchmal auch finsterer geworden.

Der Anfang intoniert dramatisch und gleichzeitig komisch das Grundmotiv des Romans: ein Telefonanruf, der zu spät kommt. Der Mann möchte der Frau mitteilen, dass ihre Katze gestorben ist. Die Frau befindet sich in einer Klinik. Ob sie die Nachricht noch richtig auffasst, bleibt unklar. Am Abend desselben Tages bringt sie sich um mit dem Morphin, dass der Mann eigentlich für einen gemeinsamen Tod beiseite geschafft hatte. In Rückblenden lässt dieser nun sein bisheriges Leben Revue passieren. Die geschiedene Frau hatte er durch einen Zufall und ziemlich abrupt kennengelernt. Aufgehört sie zu siezen hat er nie. All die langen Jahre in der grossen Stadt waren sie ein stilles Paar: «Wie der Frieden und das Glück hatten sie beide nicht allzu viele Worte und Geschichten zu ihrer Verfügung». Sie führten das, was man ein unscheinbares Leben nennt, in dem alle Begebenheiten gleich gültig sind: ein kleines Mädchen etwa, das im Hof des Mietshauses tanzt, der Besuch beim Frisör, das plötzlich steife Knie der Frau, ihre Scheinschwangerschaft, eine Ferienreise nach Kos, die Einladung zu einem «Freimaurerlogengründungsjubiläum» in Polen. Immerhin trägt der Mann, wie er sagt, einen altehrwürdigen Namen – den wir aber wie so vieles, was seine Hintergründe betrifft und ihn vielleicht erklären könnte, nicht vernehmen. Versuchsweise nennt ihn der Autor «Philibert». Die Frau nennt der Mann «Stanea» auch nur, damit er den alte Namen der Insel Kos nicht mehr vergisst. Der äusseren Ruhe widersprechen seine heftigen Zweifel an sich und der Welt und der Beziehung von beiden zueinander. Vor den überspannten Reden des «Fuchtlers», wie man ihn nennt, versucht sich die Frau mit Schweigen und Apathie zu schützen. Ihr rätselhafter und banaler Wahrspruch heisst: «Es ist am besten, das Boot nur dann auszuschöpfen, wenn es nötig ist». Einmal hat sie dieses Leben dann doch nicht mehr ausgehalten.

Nach dem Tod der Frau weiss der Mann nicht mehr «wohin mit selber», und zieht mit seinen wenigen Habseligkeiten in eine kleine Stadt, die den Namen «Harenberg» trägt. Hier haust er in einer billigen Pension, besucht regelmässig eine etwas schräge Bar hinter dem Bahnhof, manchmal auch noch dubiosere Etablissements. Die Bardame Rosaura ist wie ein Engel für ihn, wenn er seiner selbst überdrüssig in den Spiegel schaut und ihm das «buddhistische Wiederholungs-Exerzitium» des Bügelns nicht mehr hilft. In der oberen Etage der Bar gibt ihm Rosaura dann auch schon mal etwas «körperliche Wärme» (wenn es ihm nicht gerade der Junge Branko auf seine Art besorgt).

Am Ende des Romans hat der Mann alles verloren: eine Frau, eine Erbschaft, einen Freund, einen Hund, eine Arbeit (als Gerichtsreporter), eine Wohnung. Was ihm bleibt ist eine Anstellung als (an sich überflüssiger) Gehilfe Rosauras. Sich aufzuhängen redet sie ihm aus. Er habe wie wir alle, das sei sein Problem, schlicht kein Problem. Er sei ein Nichts und solle sich bloss hüten, das überall herumzuerzählen. Ihr Wahrspruch ist nach Epikur: «Lebe im Verborgenen». Der Mann glaubt ihr, aber eigentlich auch nur, weil er niemanden findet, der selbst gegen Bezahlung seine Leiche abhängen würde. Dies sei, so der Autor (ähnlich wie im Erstling «Max») immerhin ein «möglicher» Schluss. Andere bleiben denkbar – oder auch gar keiner.

Im «Mann mit den zwei Augen» verbinden sich Satire und Liebesroman. Die Geschichte des Mannes, der «der Einfachheit halber» zu allem und allen immer «ich» sagt, auch wenn er gar nicht gemeint ist, ist jedenfalls für ihn selber ausserordentlich, auch wenn sie anderen zum Verwechseln ähnlich ist. Es ist sein Leben, das ihm abhanden gekommen ist. Und es ist seine Geschichte, der er durch keine andere entkommt. Sein Leben ist einmalig wie jedes Leben, das jemandem abhanden kommt, selbst wenn er gar nie eines hatte, sondern immer nur hinter einem her war. Von den Harenbergern, deren «Fähigkeit, Handeln und Reden unabhängig voneinander zu pflegen, auffallend gut entwickelt» ist – wie bei dem Mann aber auch – wird gerade dies nicht begriffen. Sie holen den Mann herunter auf ihr Niveau. Während die «zwei Augen» ihn auszuzeichnen scheinen, als ob er mehr sehen würde als andere, halten ihn die Harenberger für einen der Ihren und also nichts Besonderes. «Sicher», sagt Rosaura zu ihm in typischer Harenberg-Logik «Sie haben nicht gerade ein markantes Profil, das gebe ich zu, trotzdem, Sie haben zwei Augen, eine Nase, einen Mund – so etwas vergesse ich nicht so rasch.» Der Mann ist ein Gescheiterter, der vom Glück nur träumen soll. Aber gerade das tut er nicht und ist deshalb in Harenberg deplaziert. Für Rosaura heisst Glück «servir et sourir». Das Leben lernt man in der Haushaltungsschule: Bügeln und den kleinen Enten auf dem Fluss zuschauen. Nur keine Akte auf dem hohen Seil, womöglich noch ohne Fangnetz. Die Harenberger leben nicht, sie sperren das Leben ein in Lebensweisheiten, die immer dasselbe besagen: Finde dich ab.

Der Mann ist eine Heldenfigur, kein Antiheld. Lieber macht er sich selber Vorwürde als dem Leben. Er vollbringt zwar wenig bis nichts, aber er versucht angesichts der «Erbärmlichkeit der Existenz» etwas, das nicht einfach ist: die Kunst der «Fassungslosigkeit». Manchmal gelang sie ihm mit seiner verstorbenen Frau und er wurde sich mitten im Glück des Glücks gewahr. Dann aber ging es wieder nur darum, in allen möglichen Schieflagen wenigstens aufrecht zu bleiben. Gerade dann, wenn der Mann an nichts (mehr) glaubte. Seine seiltänzerischen Grübeleien wurden das, was er zu bieten hatte. Sein Reichtum war das, was ihm misslang, ohne Beschönigung. Seine Unnahbarkeit war schliesslich nur ein Schutz vor seiner Schmerzempfindlichkeit und seine Verhaltenheit ein Ausdruck seines sich immer mit der Vernunft messenden Gefühls. Das Leben ist vergänglich, dachte er – also verzichtete er lieber darauf, als es zu verlieren. Und blieb so am Leben. Auch seine Selbstqualifikation als «Empfindungsalbino» verweist auf diese ebenso komische wie tragische Balance seiner Existenz. Ähnlich paradox die Liebe zu «Stanea»: einen «Hauch» nennt er sie – einen Hauch von Nichts. Äusserst pflichtbewusst nahm er stets seine Verantwortung dem Nichts gegenüber wahr. Zu sagen hatte er der Frau seiner Meinung nach nichts – auf eine derart wahrhaftige Weise, dass sein Leben, dass «Der Mann mit den zwei Augen» als Liebesroman bezeichnet werden muss.

(Stand 1.11.2012)