„Kaum einer redet dümmer über Literatur als derjenige, der sie geschrieben hat“, sagt Sokrates in seiner Rede vor dem Gericht, und er fährt fort: „Die berühmtesten Dichter dünken mich beinahe die armseligsten. Überdies glauben sie, ihrer Dichtergabe wegen auch in allen übrigen Dingen die weisesten Menschen zu sein, wo sie es nicht sind“. Um ihm auf keinen Fall recht zu geben, wäre es klüger, sowohl zu meinem Werk als auch zu den besagten übrigen Dingen zu schweigen. Das grassierende Geschwätz über alles und jedes hat in den letzten Jahren sowieso Ausmasse angenommen, die jeden nicht gesprochenen Satz als eine wahre Wohltat erscheinen lassen. Dazu kommt:
Worüber soll einer sprechen, dessen Stück aufgeführt wird? Es wird auf der Bühne alles zu sehen sein. Seine Gedanken werden nackt und bloß im Scheinwerferlicht stehen. Da hilft kein Drum-herum-Reden, kein Sich-Erklären, kein Ablenken. Zwar kannte ich einen Schauspieler, der unablässig jedem, der es wissen oder auch nicht wissen wollte, sämtliche seiner Schritte, Gesten und Stimmodulationen vorführte und erklärte, die er demnächst auf der Bühne einsetzen werde. In der Premiere saßen dann lauter Zuschauer, die seine darstellerischen Aktionen und Laute auf die Sekunde genau voraussagen und bis in den hintersten Winkel ihrer Bedeutungen verstehen konnten. Der Schauspieler wurde dafür allgemein geschätzt. Man lobte seinen Fleiß und seine Ernsthaftigkeit – doch langweilte sich jedermann zu Tode, sobald er auftrat, weil ausweglos alles vorauszusehen und zu begreifen war, was er wann, wo und warum tat. Im Leben begreifen wir aber nichts. Und das auszuhalten ist Kunst. Je älter ich werde, desto weniger traue ich meinen Kenntnissen und Erfahrungen. Es ist entsetzlich. Zweifel haben mich mit den Jahren ausgehöhlt. Wo immer ich heute auf etwas zurückgreifen will, greife ich ins Leere. Eine Zeitlang vermochte ich die entstandenen Löcher noch mit behelfsmäßigem Wissen zu stopfen. Doch irgendwann kam ich nicht mehr nach damit. Seither gucke ich nur noch ratlos aus meiner Wäsche und finde alles irgendwie möglich (oder unmöglich, was auf das Selbe hinaus kommt) – und so einer soll nun sich und sein Werk erklären? Das geht nicht.
Zwar halte ich „Der reiche Freund“ für eines der besten, schönsten, lustigsten und traurigsten Stücke meiner Epoche, und ich bin sicher, damit recht zu haben (es ist nicht so, daß ich alle meine Hervorbringungen gleich hoch einschätze) – doch wie soll ich Ihnen das beweisen? Der Text liegt hiermit vor, und ich kann Sie nur bitten, ihn laut für sich zu lesen – entweder überzeugt er Sie oder nicht. Denn das ist das Schlimme: nichts läßt sich beweisen. Selbst wenn „Der reiche Freund“ plötzlich landauf, landab sämtliche Spielpläne dominieren würde, hieße das noch lange nicht, daß es sich dabei um ein wichtiges Stück handle. Denn jeder muß in jedem Moment alles für sich selbst und immer neu entscheiden, und jeder ist eine ganze Welt, und mit jedem stirbt eine.
Das einzige, worüber ich Auskunft geben kann, ist meine tägliche Beschäftigung, das Dichten.
Es ist ein Spiel für eine Person. Man setzt sich dazu an einen Tisch, verteilt darauf Gruben, Hürden und weiche Kissen, die man zu überspringen oder in die man sich fallen zu lassen versucht. Dabei wird man vergnügt, die Zeit vergeht wie im Flug, der Abend naht, und schon darf man wieder nach Hause, wo man mit offenen Armen empfangen wird. Viel mehr gibt es darüber nicht zu sagen.
Mit Spielen läßt sich bekanntlich kaum Geld verdienen. Ein Dichter, der wie ich nicht aus wohlhabendem Haus kommt oder dem Lehrerberuf nachgeht, ist heute wie vor Tausenden von Jahren ein armer Schlucker. Seine Hauptaufgabe besteht daraus, finanzielle Sorgen zu verjagen. Dabei helfen ihm Sätze, die er, wo immer sie auftauchen, pflücken und genießen darf. Lesen ist ein wunderbarer, kräftigender Bestandteil seiner Tätigkeit. Zum Beispiel steht auf dem Rücken eines Buchs von Jean Giono: Ihr dürft dem Wahnsinn des Geldes nicht länger gehorchen. So ein Satz vermag einem echten Spieler gleich ganze Tage über die Runden zu helfen – gerade heute, da der Materialismus sich wie Mehltau wirklich über alles gelegt hat, sind Sätze wie dieser, der so bedingungslos gegen Geld angeschrieben ist, eine wahre Wohltat für ihn. Inspiriert davon gelingen ihm bisweilen sogar eigene Formulierungen, mal bessere, mal weniger gute, die ihn eine Weile weitertragen können, und das ist dann besonders schön.
In meiner Jugend waren Schriftsteller imposante, öffentliche Personen. Sie hießen Frisch oder Dürrenmatt, äußerten zu vielem ihre Meinungen, verdienten stattliche Summen damit, wurden dabei argwöhnisch beobachtet, provozierten hin und wieder sogar kleine Skandale – Dürrenmatt beispielsweise einen im Zusammenhang mit einem Literaturpreis, den er gemeinsam mit seinen Freunden in einem Berner Nobelrestaurant feiern wollte, wo sie wegen fehlender Krawatten hinauskomplimentiert wurden; Frisch fuhr Jaguar. Was sie schrieben war meistens gut und hatte Hand und Fuß – daß es mir den Atem geraubt hätte, verbinde ich nicht unbedingt damit. Das tat andere Literatur, in der Regel solche von Autoren, deren Biographien und Karrieren weniger glanzvoll verlaufen waren und nicht selten allzu brüsk geendet hatten.
So sind meine Lieblingsbücher bis heute auffällig oft von Sonderlingen mit einer fatalen Lust am leeren Ausgang geschrieben worden, von Randständigen, in der Umnachtung Verschwindenden, Aufgebern, Selbstmördern. Auch unter den Zeitgenossen gefallen mir fast nur jene, die fürs Tagesgeschäft nicht taugen. Das ist, je älter ich werde, desto irritierender für mich: Braucht ein Kunstwerk die Aura des Verkannten, um von mir ins Herz geschlossen werden zu können? Will ich Bücher oder Theaterstücke entdecken müssen, ausgraben, zu mir heraufheben, wachküssen, um sie schätzen zu können? Muß ich selbst demnach im Verborgenen blühen, um vor mir bestehen zu können? Ich weiß es nicht. Ganz geheuer ist mir diese Neigung zu den Lebensuntüchtigen jedenfalls nicht. Mein Traum war und ist, zu schreiben wie die einen, Erfolg zu haben aber wie die anderen. Ob mir das erste jemals gelungen ist oder gelingen wird, werde ich nie erfahren. Das zweite hingegen läßt sich leider allzu leicht überprüfen, und nur höchst ungern gestehe ich, weder ein auf dem Markt arriviertes Mitglied der schreibenden, noch ein solches der Film-, noch ein solches der Theaterzunft zu sein. Mich zu trösten mit dem Gedanken, meine notorische Abwesenheit auf sämtlichen Bestsellerlisten sei ein untrügliches Zeichen für die Qualität meiner Ware, gelingt mir nicht. Sie liegt zu nah an Eugenio Montales Wahrheit, nach der die Kunst ihre Tröstungen vor allem denen spendet, die an ihr gescheitert sind. Lieber verzichte ich auf solchen Trost und setze weiterhin auf den Markt. Es wäre wunderschön, meine Sachen dort irgendwann einmal aus den Händen gerissen zu bekommen wie knackige, saftige St. Galler Bratwürste. Vielleicht habe ich ja mit dieser Aufführung Glück.
(Programmheft Theater St. Gallen, „Der reiche Freund“, 17. Mai 2001)