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an muss ja nicht unbedingt das Schweizer Söldnerwesen von anno dazumal dafür verantwortlich machen, dass die Schweiz ihre Auslandschweizer, die kreativen zumal, zum Fressen gern hat. Am liebsten würde sie sie heimholen von der Peripherie und in Sicherheit bringen zu Hause. Eine Vorstellung, die manche beengt. Ein Grund, warum zum Beispiel Paul Nizon erst recht in Paris bleibt. Und Matthias Zschokke, wer weiß, in Berlin, wo er seit einem Vierteljahrhundert lebt. Und schreibt. Und schreibt z.B. "So ist es" oder "es gibt nichts zu erzählen; überall ist es gleich, alles wird teurer". Für andere ein Grund aufzuhören. Für Zschokke fängt hier alles erst so richtig an.
Geboren ist er 1954 in Bern und aufgewachsen im Bielerseegebiet, das Robert Walser, der ihm bis heute wichtig ist, auf seinen Spaziergängen durchstreifte. Dass wir es bei Matthias Zschokke mit einem ausgebildeten Schauspieler und mit einem Theaterschriftsteller zu tun haben, verwundert nicht bei einem Autor, der das konventionelle Erzählen, gebündelt in einer Zentralperspektive und zusammengehalten von einem roten Faden, eins nach dem andern, virtuos hintertreibt durch ein vielstimmiges Personen-Masken-Spiel, das den Erzähler bald als Phantasieprodukt seiner Figuren, bald als Phantom des Lesens erscheinen lässt, bald als einen, der spielt, dass er ohne jede Verstellung gerade nicht spielt oder als einen, der seinen Figuren, die allesamt nichts mehr zu verlieren haben, aber eine Welt zu gewinnen, vorspielt, was sie zu leben sich selbst nicht getrauen - eine Art erzählerische Stunt-Funktion also - und nur in erzählter Form sich aneignen können als Leben in zweiter Potenz sozusagen. So erzählt er etwa von einem Mann, der nicht genug bekommen kann von Geschichten, doch sie müssen, sagt er, "ihm erzählt werden, nur so kann er sie aufnehmen und verstehen, würde er sie selber erleben, wären sie ihm unbegreiflich und würden von ihm unverdaut wieder ausgeschieden...in erzählter Form hingegen machen sie sein Leben bunt und fabelhaft". Dabei geht dann freilich auch die scheinbar kugelsichere Glaswand zwischen sogenannter Fiktion und sogenannter Realität in die Brüche. Und auch die Demarkationslinie zwischen Literatur und Leben wird zerfasert in solchem Erzählen. Das fängt schon an in seinem Debütroman Max (1982), in dem schon dieser ihm eigene eigensinnige Ton hörbar wurde, cool und präzis, dieser unverwechselbare seiltänzerisch-schwebende Erzählgestus, dieser schwindelfreie Kunst-Schwindel, der aber gleichzeitig immer geerdet bleibt durch eine scharfsichtige und hellhörige Aufmerksamkeit fürs scheinbar Unscheinbare, Randständige des alltäglichen Lebens.
Es folgen die Romane Prinz Hans (1984), ErSieEs (1986), Die Piraten (199l), Der dicke Dichter (1995), Das lose Glück (1999), acht Theaterstücke, drei Filme in eigener Regie, zwei davon preisgekrönt: Edvige Schmitt, Der wilde Mann, Erhöhte Waldbrandgefahr. Von seinem bislang letzten Film schreibt Zschokke in der 2002 erschienenen Sammlung von Erzählungen und poetologischen Essays Der neue Nachbar, er habe den "unsichtbaren Film" zum Ziel, wie die erzählerischen Texte, so lässt sich extrapolieren, paradoxerweise dem ungeschriebenen Text gelten als Gipfel des geschriebenen, im Sinne einer umgekehrten Penelope-Arbeit gleichsam, die am hellichten Tag unter den Augen der Leser und Leserinnen auftrennt, was sie im nächtlichen Dunkel des erzählerisch Unbewussten gewoben hat: "Das Paar, das ich für wesentlich und unersetzbar halte, wollte ich leben lassen und habe sie dementsprechend versteckt." Und an anderer Stelle, im selben Band - in einem Brief an die Genfer, die als die angesprochenen Leser, wie oft bei Zschokke, im Text selber vorkommen, den sie lesen - wird er noch deutlicher - und das könnte für die folgende Lesung eine Hörhilfe sein: "Wir befinden uns somit in einer umgestülpten Welt..., wo jedes Leben groß ist und strahlt, solange es fernbleibt, dadurch aber, dass es von nahem betrachtet und aufs Papier heruntergerissen wird, prosaisch und schwer verdaulich wird. Es ist folglich ein Irrtum zu glauben, etwas gelange in höhere Sphären, wenn es in Sprache, in Dichtung übertragen werde. Im Gegenteil, es wird dadurch profaniert und dingfest gemacht... auf dem Papier entsteht also die heftige Leere." Soll das heißen: Anti-Literatur? Mitnichten. Denn die literarische Inszenierung dieser heftigen, also keineswegs toten und leeren Leere, bis man das Papier knistern hört, gehört, für mich jedenfalls, immer wieder zu den aufregendsten atemberaubenden, nein, atmenden Übergangs-Passagen und, von Gegenwärtigkeit prall gesättigten Fermate-Momenten, die Zschokkes Prosa rhythmisch skandieren, wenn es ihm gelingt, seinen Text, willentlich, gegen sich selbst arbeiten zu lassen; wenn sich das Leben aus dem erzählten Leben in der schalen ereignislosen Tristesse seines repetitiven Leerlaufs, Attitüde nur noch und Wahnsinn der Normalität, wenn das Leben aus all dem sich zurückzieht und - da arbeitet der Filmemacher Zschokke aufs engste mit dem Schriftsteller zusammen - wenn es sich verlangsamt bis zum Stillstand, sich in einem erzählerischen Zoom-Effekt zu blähen scheint wie beim Blick durch eine allzu starke Lupe, und sich ein Frost legt über die Menschen und die Dinge, die unversehens künstlich werden, Puppen und bloße Kulissen - alle Gefühle, die bis jetzt allenfalls in sie hineinprojiziert werden konnten, sind weggesaugt, alle Sinnkrücken auf den Müll der Kulturgeschichte geworfen -, wenn diese Kunst-Figuren dann plötzlich dastehen, blutleer, bedeutungslos, steif und gefroren mit nichts als Leere drumherum, bevor sie endgültig von der sprachlosen Fläche des Löschpapiers verschluckt werden, endgültig niedergeschrieben, aber wie eine bis zum Zerspringen aufgezogene Feder nur darauf warten, schon im nächsten Abschnitt ins erzählte Leben zurückzuschnellen.
In dem in diesem Jahr erschienenen Roman Maurice mit Huhn schreibt Zschokke - und dies gilt, wenn ich recht sehe, für seine erzählten Menschen sowohl wie für ihn selbst wie für uns Leser: "Denen, die noch leben, erzählen, wie es war, als sie lebten." Und so frag ich mich denn auch, beim Zschokke-Lesen, auf jeder dritten Seite, und bin ihm dafür dankbar: Heute schon gelebt?
CHRISTIAAN L. HART NIBBRIG/ Russischer Germanistentag in St. Petersburg, 23. November 2oo6
