Site hosted by Angelfire.com: Build your free website today!
ZSCHOKKE- Ein sanfter Rebell. Die singende Kommissarin/ Rezensionen

Matthias Zschokke ist ein Autor, der immer quer liegt zu den flotten Trends, der auf leisen Sohlen geht und dabei alle ausgetretenen Pfade meidet, auf melancholisch-witzige Art die Trauerarbeit leistet, die die Machtbewussten und Medienvermittlungsagenten durch Betriebsamkeit zu umgehen bemüht sind. Er hat jetzt die Bühnenfigur einer singenden Kommissarin erfunden, um sein Publikum nicht auf den Leim, aber auf gegen den Strich gebürstete Denkwege zu locken, ähnlich wie Ellen, die aus der Dunkelheit auftauchende Schwimmerin in dem Roman "Das lose Glück", die sich vornimmt, die Leute mit Erzählungen zu unterhalten: "Wir sind viel zu verhetzt dazu, denken, alles, was länger als drei Minuten dauert, sei eine Zumutung." Matthias Zschokke läßt sich und gönnt uns die nötige Zeit, um unsere Lebensschieflagen in verständnisvolles Licht zu rücken. Und deshalb liebt er Plapperexistenzen wie jene Kommissarin, die mit dem Aushalten des Lebens beschäftigt ist und den richtigen Nerv für die Schwingungen des losen Glücks zu treffen versucht.
In leichter Abwandlung eines Briefes von Martin Kessel über den seiner Meinung nach auf den Bühnen zu selten gespielten und meistens in lieblosen Aufführungen hingerichteten Dramatiker Frank Wedekind möchte ich mich hier nicht darüber auslassen, wie Zschokke aufgeführt werden müsste, um heute Wirkung zu erzielen: präzis, grotesk aufgrund persönlicher Selbstwiderlegung und nicht aus Allotria, mit steinerner Mimik, die alles verschweigt und viel mehr weiß und fühlt, als sie verrät, mit ausgeprägtem Sinn für die Fragwürdigkeit alles Gesagten. Ich will das alles lieber nicht ausführen, weil es nahezu hoffnungslos wäre angesichts der gegenwärtigen Situation. Aber eines möchte ich doch nicht ungesagt sein lassen: Wer die Skalen der Leidenschaft nicht beherrscht, die des Gefühls wie die des Bewusstseins, und wer nicht imstande ist, die Leidenschaft bis auf den Nullpunkt hinabzudrücken, um sich selbst zu konzentrieren, und sie gleichzeitig bis ins Exzentrische zu verfolgen, um sich selbst zu verlachen, der sollte nicht Zschokke spielen und ihn auch nicht inszenieren.
KLAUS VÖLKER (im Magazin zum 38. Berliner Theatertreffen)




An die Stücke, Dramaturgen!

Forum für neue Autoren beim Theatertreffen: Der Stückemarkt endete mit «Die singende Kommissarin» von Matthias Zschokke

Von Ulrike Borowczyk

Manchmal straft sich der Medienoverkill selbst! Da hat sich ein Rundfunksender zu Silvester etwas ganz Besonderes ausgedacht: Die vor 20 Jahren populäre singende Kommissarin mit ihren swingenden Vopos soll von ihrer Polizeiwache aus durch die Neujahrsnacht führen und die Zuhörer mit spektakulären Ereignissen unterhalten. Doch während der ölige Moderator nach taufrischem Mord und Totschlag giert, kramt sie nach einer Zeitung mit einem Artikel über einen Eispalast in Russland, aus dem sie vorlesen möchte. Vom Dienst gebe es schließlich gar nichts Spannendes zu berichten, auch sie selbst habe schon lange nichts Aufregendes mehr erlebt. Die Meldung über einen abgerissenen Kopf mitten auf dem Ernst-Reuter-Platz tut sie ab wie eine lästige Fliege. Unfreiwillig fließendes Blut ist halt ihr eintöniges Geschäft.

Matthias Zschokkes fintenreiche Seelenentblößung «Die singende Kommissarin» bildete den Abschluss des diesjährigen Stückemarkts und war gleichzeitig der Regielegende Peter Zadek zu seinem 75. Geburtstag gewidmet. Die mit ihrem Geplapper gegen zahlreiche Untiefen des Lebens kämpfende, reichlich desillusionierte Hauptkommissarin wurde mit wunderbar lakonischer Diktion von Christine Schorn gelesen. Ihr zur Seite standen Udo Samel als überkorrekter Abschnittsgeschäftsführer und Peter Simonischek als gewiefter Radiomoderator. Zwischendurch mimten die beiden Herren noch mit einigem Gebrumm die swingenden Vopos. Für Lacher im Festspielhauses war also gesorgt.

Zschokke sei zwar ein schon durchgesetzter Autor, aber er sei ein bisschen aus dem Blickfeld der Theatermacher geraten, meinte Klaus Völker. Als Leiter des Stückemarkts versuche er, neben Neuentdeckungen Dramatiker in ihrer Entwicklung zu begleiten. Erklärtes Ziel sei es, das Interesse der verantwortlichen Theaterleute zu wecken.

Wie schon in den Jahren zuvor setzt Völker dabei gegen den Trend des Trashigen und Plakativen, der immer noch weit verbreitet ist, auf Stücke mit ganz eigener sprachlicher Kraft und Bildermacht auf hohem Niveau. Seine diesjährige Auswahl spiegelt dabei durchweg den ganz normalen bis tristen Alltag, unter dessen glatter, praktikabler Benutzeroberfläche sich tragische Abgründe auftun, die, fast en passant erzählt, eigentlich auch schon wieder zum täglichen Einerlei gehören.

Auffällig ist vor allem das große Personal der Stücke. Damit steuert Völker einer anderen Tendenz entgegen: neue Stücke auf die Studiobühnen zu verdammen. Mit gerade mal drei Protagonisten fällt Matthias Zschokkes «Singende Kommissarin» hier fast aus dem Rahmen. Dafür ist seine Konzentration auf das gesprochene Wort immens. [...]

Berliner Morgenpost, 21.05.2001





Die Kommissarin singt


  Frank Dietschreit

 
Romane schreiben, hat der spanische Autor Javier Marías einmal gesagt, ermögliche dem Romancier, einen guten Teil seiner Zeit in der Fiktion zu verbringen und im Königreich dessen, was gewesen sein könnte und nie gewesen ist, zu leben. Dass dies auch der Lieblingsort des seit zwei Jahrzehnten in Berlin lebenden Schweizer Autors Matthias Zschokke ist, haben die - viel zu wenigen - Kenner seines Werkes schon lange geahnt. Doch selten wurde so deutlich, dass der Romancier Zschokke auch in seinen Theaterstücken - wie sein Kollege Marías - nicht die Wirklichkeit, sondern eher die Nichtwirklichkeit wiedergibt und sich auf das Territorium einer Realtität vorwagt, die noch möglich wäre und sich jederzeit erfüllen könnte.

Zum Beispiel in "Die singende Kommissarin", Zschokkes neuem Stück, das zum Abschluss des Stückemarkts auf dem Berliner Theatertreffen präsentiert wurde. Zschokke, seit Jahren mit Romanen wie "Max" und "Das lose Glück", Filmen wie "Edvige Schmitt" und "Erhöhte Waldbrandgefahr" sowie Theaterstücken wie "Brut" und "Die Alphabeten" immer wieder für fantasievoll verspielte, sich gegen jeden Trend stemmende Überraschungen gut, hat diesmal einen ebenso vertrackten wie bizarren Bühnenmonolog aufs Papier gezaubert.

Ein Krimi? Ein Melodram? Eine Einsamkeisstudie in der Großstadt? Vor 20 Jahren waren die "Singende Kommissarin und ihre swingenden Vopos" Kult. Doch heute sitzt sie, die früher einmal mit Liedern wie "Dobermännchen", "Bauaufsicht" und "Metzger im Urlaub" die Herzen eroberte, ziemlich vergessen und verlassen in ihrer Polizeiwache Abschnitt 32. Es ist Silvester in Berlin und die Radio-Redaktion von "Ohr vor Ort" hat das schäbige Dienstzimmer mit Mikrofonen bestückt. So kann man überall in der Stadt mit anhören, was sich in einer nicht enden wollenden Nacht bei der am Dienst-Telefon hockenden, singenden Kommissarin ereignet.

Oder besser nicht ereignet: Denn außer einem herrenlosen Kopf im Wasserbecken des Ernst-Reuter-Platzes findet sich kaum irgendetwas nennenswert Kriminelles. Also kommt die Kommissarin, die Radio-Hörer wollen schließlich unterhalten werden, ins Erzählen. Ins Grübeln. Ins Träumen. Und natürlich ins Summen und Singen. Christine Schorn, die ihre darstellerischen Fähigkeiten am Deutschen Theater schon lange nicht mehr voll ausreizen durfte, plappert und plaudert in ihrer unnachahmlichen Art drauf los. Stellt sich, mit ihrem fluntschigen Mund und ihrer zeternden Stimme dümmer als sie ist, macht lange, sprechende Pausen, lotet die erst so leicht und amüsant erscheinende, später so abgrundtief verzweifelt und melancholisch daherkommende Lebensbeichte einer in ihrer Fantasiewelt herumirrenden Frau facettenreich aus.

Udo Samel (als leisetreterischer Polizist mit maskenhaftem Doppelleben) und Peter Simonischek (als aus dem Off mahnender Moderator) müssen sich mit kleinen Gast-Rollen begnügen, ordnen sich ganz der grandiosen Christine Schorn unter. Die drei spürbar animierten Schauspieler lesen Zschokkes Text so packend, dass man sich sehnlichst eine Inszenierung, zum Beispiel in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, wünscht. [...]

Der Tagesspiegel, Berlin, 22.o5.2oo1



[...] Nur Matthias Zschokke ("Die singende Kommissarin") führt den Blick auf die anderen ad absurdum. Ein Radiosender ist in der Silversternacht zu Gast auf einem Polizeirevier, dessen Kommissarin vor zwanzig Jahren als "singende Kommissarin mit ihren swingenden Vopos" mal sehr berühmt war. Der Radiomoderator verspricht sich Einblicke in spektakuläre Kriminalfälle mit Gesangseinlage plus Silvesterfeuerwerk. Doch was er bekommt, ist der Blick auf die profane Poesie des Lebens. Naturgemäß muss das den Moderator enttäuschen. Die Zuschauer von Christine Schorns kongenialer Darbietung dieses Fast-Monologs aber waren hoch zufrieden.

Esther Slevogt, "taz". Berlin, 29.o5.2oo1



Renaissance-Theater Berlin
Glänzende Idee eines Berliner Radiosenders: Für seine Silvestersendung gräbt er "Die singende Komissarin" aus. Mit ihrer Band war Sie vor zwanzig Jahren Kult. Um zu erfahren, was aus ihr geworden ist, holt man Sie nicht wie sonst üblich zum Plausch ins Studio. Nein, der besondere Kick heißt Reality-Radio.

Matthias Zschokke
Kommissarin  
Uraufführung
 
Die singende
 
Die Besetzung
Judy Winter Gerd Wameling  
Kommissarin Herr Schwarzkopf  
Kay Neumann Detlef Pilz Rainer Rubbert
Regie Bühnenbild Musik
Vorstellungen
15. Januar - 3. Februar 2002

"Ohr vor Ort" live aus der Polizeiwache 27 in der Bismarckstraße (also in unmittelbarer Nähe des Renaissance-Theaters). Dort hat der Sender seine Mikros aufgebaut. Frau Bergfeld, ehemals singende Kommissarin, im bürgerlichen Beruf inzwischen Hauptkommissarin, hat am Abend des 31. Dezember Bereitschaftsdienst. Erfahrungsgemäß passiert ja in der Nacht der Nächte so einiges, schöne oder weniger schöne Dinge. Erzählen Sie halt irgendwas, eine gruselige Schote aus dem Dienst, irgendeinen Mord mit abgebissenem Fimmel oder so, das wollen die Leute hören ... Das ist die Marschroute, die der Moderator vorgibt.
Und nachdem eines ihrer alten Lieder, das "Bleiche Fräulein", eingespielt wurde, ist das Mikro wieder offen: Bitteschön, Frau Bergfeld ...

Frau Bergfeld weiß nicht, was sie sagen soll. Zu erzählen hat sie auch nix, behauptet sie. Aber sie redet. Und dann fängt sie doch an zu erzählen. Sie greift auch mal zum Mikrofon wie früher, als sie noch auftrat, und singt. Ein Kollege schaut bei ihr rein, wegen der Gleitzeiterfassungsbögen ... Einen seltsamen Zwischenfall gibt es, dem sie - ist das Routine? - kaum Beachtung schenkt. Das Ganze wird immer merkwürdiger, nimmt alptraumhafte Züge an ... Hat sie vergessen, daß sie auf Sendung ist? Und zwar als Kommissarin im Dienst! Kollege Schwarzkopf hatte ihr dazu noch gratuliert: Wichtig, die Medien! Positive Öffentlichkeitsarbeit, wichtig! Imagepflege, sehr gut!

 

Genau. Und weil das heute jeder weiß, ist die Sehnsucht nach dem sogenannten wirklichen Leben so groß. Die Banalität des Alltags als Entertainment.

Ein Guru von Microsoft prophezeite, daß sich bald jeder von einer Digitalkamera begleiten läßt. Zur Erinnerung, als Tagebuch, als Werbespot, als Bewerbung, zur Veröffentlichung im Internet. Die Geschichte von "Big Brother" hat allerdings gezeigt: Wer nervt oder langweilt, fliegt raus. Auf unser Lebensdrehbuch gemünzt bedeutet das: Was an uns nervt oder langweilt, fliegt raus. Dem amerikanischen Kulturhistoriker Neal Gabler zufolge sind wir dank der elektronischen Medien Performance-Künstler und Publikum zugleich, in einer nicht endenden Show, die fünf Milliarden Menschen umfaßt. Darin spielt jeder eine Rolle, seine Rolle. Aber welche? Nehmen wir eine naheliegende Rolle: "Ich". Wie bin ich? Was bin ich? Im Grunde eine alte Frage. Heute ist es das originelle und witzige "Ich" im Kampf gegen das nervige und langweilige "Ich".

Für welche Rolle entscheidet sich die singende Kommissarin, die diensthabende Kommissarin? Was der Moderator erwartet, ist klar. Was die Leute erwarten, scheint auch klar zu sein. Sie aber macht ihre eigene Show. Eine, mit der keiner gerechnet hat. Bitte schön, Frau Bergfeld ...




 

Exil mit Stil

 
Neues Stück, neues Glück: Matthias Zschokke und seine "Singende Kommissarin"
 
Frank Dietschreit
 
Vor zwanzig Jahren waren "Die singende Kommissarin und ihre swingenden Vopos" Kult. Doch heute sitzt die "singende Kommissarin", die im bürgerlichen Leben Frau Bergfeld heißt und früher mit Liedern wie "Dobermännchen", "Bauaufsicht" und "Metzger im Urlaub" die Herzen ihrer Fans eroberte, vergessen und verlassen in ihrer Polizeiwache, Abschnitt 32. Es ist Silvester in Berlin, und die Radio-Redaktion von "Ohr vor Ort" hat das schäbige Dienstzimmer der Kommissarin mit Mikrofonen bestückt. So kann man überall in der Stadt mit anhören, was sich in einer nicht enden wollenden Nacht bei der am Dienst-Telefon hockenden Polizistin ereignet. Oder besser nicht ereignet. Denn außer einem herrenlosen Kopf im Wasserbecken des Ernst-Reuter-Platzes findet sich kaum etwas nennenswert Kriminelles und Berichtenswertes. Also kommt die Kommissarin ins Erzählen. Ins Grübeln. Ins Träumen. Spricht, ganz unsentimental und lakonisch, von ihren Sehnsüchten und Ängsten, ihrer Einsamkeit und ihrer Hassliebe zu Berlin.

Da dürfte es der "singenden Kommissarin" so ähnlich gehen wie ihrem Schöpfer Matthias Zschokke. Seit über zwanzig Jahren lebt der 1954 in Bern geborene Schweizer Autor nun schon in Berlin. Hierher gekommen ist er 1980, nachdem er ein paar Jahre erfolglos bei Peter Zadek in Bochum das Bühnenleben ausprobiert hatte: "Ich war einfach ein schlechter Schauspieler", so die schlichte Selbsterkenntnis, die Zschokke wie alles, was er sagt, mit leicht ironischem Unterton und schweizerischem Singsang aus dem Mund purzelt.

Er ist ein bisschen nervös. Nicht nur, weil "Die singende Kommissarin" in ein paar Tagen im Renaissance-Theater uraufgeführt wird und er "keine Ahnung" hat, wie Kay Neumanns Inszenierung aussehen wird. Nervös ist er auch, weil er einfach zu viele Jahre "wie ein Exilant gelebt hat, nicht integriert, nicht angekommen war in Berlin". Interviews hat er meistens "rigoros abgelehnt". Das Resultat der freiwilligen Verweigerung des öffentlichen Palavers: Obwohl er nach Romanen wie "Max" und "Das lose Glück", Filmen wie "Edvige Scimitt" und "Erhöhte Waldbrandgefahr" und Theaterstücken wie "Brut" und "Die Alphabeten" immer wieder von den Feuilletons gestreichelt wurde, gehört er in Berlin nicht dazu. Einem größeren Publikum ist Zschokke, der sich immer wieder gegen jeden Trend stemmt und jetzt einen ebenso vertrackten wie bizarren Bühnen-Text aufs Papier gezaubert hat, eher unbekannt geblieben. Ob das an seiner doppelbödigen Sprache, seinen komplexen Themen oder einfach nur an seinem stillen Wesen liegt? "An allen drei Dingen", lächelt Zschokke verschmitzt und fügt hinzu: "Außerdem finde ich es lächerlich, etwas zum Mauerfall oder zum 11. September zu sagen."

Matthias Zschokke findet "Literatur nur interessant, wenn es Literatur pur ist. Sie muss nichts bezwecken, sondern kann ganz für sich stehen. Ich mag es einfach, wenn ein Satz stimmt und ich den richtigen Ton treffe." Bei seiner literarischen Schatzsuche trifft er dann immer wieder auf dieselben Menschen: zerfranste, vereinzelte, glücklose Existenzen und Plappermäuler, Menschen wie die "singende Kommissarin", die ihrem Erfinder "sehr nah steht".

Bei der Lesung auf dem Theatertreffen-"Stückemarkt" im vergangenen Mai war Christine Schorn eine wunderbar flunschige, nölende "singende Kommissarin". Mit zeternder Stimme stellte sie sich dümmer als sie ist, machte lange, sprechende Pausen, lotete die erst so leicht und amüsant erscheinende, später so abgrundtief verzweifelt und melancholisch daher kommende Lebensbeichte einer nur noch in ihrer Fantasiewelt herum irrenden Frau facettenreich aus. Eigentlich schwer vorstellbar, dass die so erfolgreiche "Marlene"-Darstellerin Judy Winter, die jetzt im Renaissance-Theater die "Singende Kommissarin" spielen wird, von der großen Diva zur kleinen Plaudertasche werden kann. Auch Matthias Zschokke weiß nicht, ob das gelingt. Er weiß nur, dass Judy Winter die Rolle unbedingt spielen wollte. Wenn sie seinem Ideal nahe kommt, das er "Buster-Keaton-Komik" nennt ("mit todernstem Gesicht witzig sein"), wäre es gut. Und wenn nicht? Dann auch. "Denn das Renaissance-Theater riskiert wenigstens etwas."

Das stimmt natürlich nur halb. Denn Zschokkes Stück ist eine wahre Bühnen-Wundertüte und Judy Winter sowieso ein Publikumsmagnet. Außerdem hat das Renaissance-Theater, seit Horst-H. Filohn es im August 1995 übernahm, eine kleine Erfolgsstory geschrieben. Die Auslastung ist, nicht zuletzt weil einige der alten Schaubühnen-Stars wie Udo Samel, Gerd Wameling und Peter Simonischek mit ihrem "Kunst"-Stücken hier aufspielen, kontinuierlich von 45 auf 86 Prozent gestiegen. Der Zuschuss des Landes Berlin ist in den vergangenen Jahren aber gesunken. Er lag in der Spielzeit 1999 / 2000 nur noch bei 28 Euro pro Besucher. Beim Schloßpark-Theater, dem demnächst wegen künstlerischer Belanglosigkeit die staatlichen Zuschüsse gestrichen werden sollen, legt der Senat immerhin 47 Euro auf jeden Besucher-Sitz.

Doch das manchmal belächelte Renaissance-Theater schlägt sich nicht schlecht in der Berliner Theaterlandschaft. Neben "Marlene" gibt es immer mal wieder die erfolgreichen Inszenierungen von "Das Atelier" und "Drei mal Leben", "Kunst" und "Kopenhagen" zu sehen, und für den März ist eine mit Mario Adorf und Ilse Ritter hochkarätig besetzte Inszenierung von Yasmina Rezas "Der Mann des Zufalls" angekündigt. Ob "Die singende Kommissarin" bis dahin durchhält? Für Zschokke wäre es ein Geschenk des Himmels. Dann könnte er bis zum Ende des Jahres ziemlich sorgenfrei das tun, was er am liebsten macht: am Schreibtisch sitzen und seinen redseligen Zauberwesen und traurigen Komödianten Gestalt geben, die manchmal so wirken, als würden sie Becketts Endspielen entstammen.

"Der Tagesspiegel", Berlin, 15.1.2oo2




Papageien sind im Grunde nur Spatzen


Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Matthias Zschokke



Irene Bazinger


Als Matthias Zschokke vor über zwanzig Jahren die Schweiz verließ, wollte er in hochdeutscher Umgebung seine Schauspielkarriere vorantreiben. So landete er in Bochum und bei Peter Zadek. Doch den Schweizer Akzent hat er bis heute behalten und über seinen damaligen Berufswunsch sagt er: "Das war nix!" 1980 zog er nach Berlin (West), wo er seitdem als Dramatiker, Prosaschriftsteller und Filmemacher lebt. Aber trotz der langen Zeit, die der 1954 in Bern geborene Zschokke nun schon hier verbringt, stellt er fest: "Ich komme in Berlin nicht vor". Und das liegt nicht nur an der ablehnenden Haltung der literarischen Institutionen oder der Ignoranz der Theater: "Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache ist ein Full-time-Job. Für derlei Kontaktpflege und Selbstvermarktung bin ich gänzlich unbegabt."

Er sagt es nicht bitter, eher verwundert und befremdet. Matthias Zschokke will einfach gute Sachen schreiben, dabei macht er keine Kompromisse und schaut nicht nach rechts oder links. Er hält sich an einen festen Tagesablauf mit geregelten Arbeitszeiten, die er in einer ehemaligen Fabriketage im Wedding zubringt. Ablenken kann ihn dort nicht einmal das Telefon. Wenn ihm nichts einfällt, sitzt Zschokke da und wartet. Für die sechs Prosawerke (zuletzt "Der dicke Dichter", 1995; "Das lose Glück", 1999), die drei Filme ("Edvige Scimitt", 1985; "Der wilde Mann", 1988; "Erhöhte Waldbrandgefahr", 1996) und die sieben Theaterstücke, die ihm bereits eingefallen sind, wurde er mit zahlreichen Literatur- und Filmpreisen geehrt.

Als sein drittes in Berlin gespieltes Stück bringt das Renaissance Theater in der Regie von Kay Neumann am Donnerstag "Die singende Kommissarin" zur Uraufführung. Die zwei einsamen Großstadtpflanzen, die sich da auf der Polizeiwache 32 zur Silvesterbereitschaft eingefunden haben, sind mit Judy Winter und Gerd Wameling hochkarätig besetzt. Bereits 1994 inszenierte Thomas Langhoff in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Zschokkes "Die Alphabeten", eine versponnene Satire auf den Literaturbetrieb. Und 1986 fand im Theater zum Westlichen Stadthirschen die Uraufführung seines dramatischen Erstlings statt: "Elefanten können nicht in die Luft springen, weil sie zu dick sind - oder wollen sie nicht".

Matthias Zschokke war damals ein gefragter Mann. Ein Hoffnungsträger für die Bühnen. Ein aussichtsreicher Nachwuchsautor, der mit Witz, Sprachkunst und verrücktem Hyperrealismus für frischen Wind in den an Verkalkung leidenden Stadttheatern sorgen sollte. Da war sein Debütroman "Max" (1982) bereits mit dem Robert-Walser-Preis der Stadt Biel ausgezeichnet und seine Prosa quer durch die Feuilletons mit der des eigenwilligen Schweizers verglichen worden. Aber irgendwie war Zschokke, selbst auch so ein eigenwilliger, zurückhaltender und ein bißchen eitler Schweizer, zu früh dran. Anstatt daß ihn ein Theater als Hausautor fest an sich gebunden, ihm Möglichkeiten zur kontinuierlichen Entwicklung und praxisnaher Reife geboten hätte, drehten sich alle weg und klagten weiter darüber, daß es keine neue deutschsprachige Dramatik von Qualität gäbe.

Inzwischen haben sich die Verhältnisse merklich geändert, wird sie an zahlreichen Theatern von München über Hannover und Berlin bis Hamburg schon im Nachwuchsbereich gefördert. Den gerade aktuellen Jungautoren werden die Stücke aus dem Drucker gerissen, noch ehe die Tinte getrocknet ist. Doch wehe, das zweite Werk hält nicht ganz, was das erste versprochen hat. Obwohl er sich über das gestiegene Interesse an zeitgenössischer Literatur freut, hält Zschokke dieses marktorientierte "wahnsinnige Auf und ab" für "schade und dumm". Denn gerade bei Anfängern sei "ein bißchen Rückhalt durch ein Theater" so wichtig wie das regelmäßige Gießen von frisch eingetopften Pflanzen.

"Ich habe kein Interesse daran, die Dinge zu beschönigen" - damit meint Matthias Zschokke seine Arbeit wie sein Leben. Auch seine Figuren machen sich nichts vor, betrachten mit rabenschwarzem Beckettschen Humor die Trivialität ihrer Welt und versuchen, diese mit Würde und Gefaßtheit auszuhalten. "Ich muß nicht nach Australien auswandern, um etwas erlebt zu haben, ich muß mich bloß voll und ganz auf meine Existenz einlassen", sagt Zschokke, der die weit verbreitete "Suche nach dem Thrill, den Druck, sich alles bunter und spannender zu reden" angesichts der Wonnen der Alltagsbanalität absolut überflüssig findet.

So eine unverblümte, illusionslose, ganz und gar im Hier und Jetzt ernüchterte Figur ist auch "Die singende Kommissarin". Als bemitleidenswerte Kreatur zeichnet Zschokke diese Bella Block von der Spree allerdings nicht, obwohl sie allein in ihrem schäbigen Büro hockt, schlecht gelaunt eine Taube erschießt und sich an die Wasserlachen in einem Zug-WC erinnert, an das vollgesogene Toilettenpapier auf dem Boden und den grauen Schotter, den sie durch das dunkle Fallrohr jagen sah: "Ich wäre wahnsinnig gern befreundet mit ihr, sie ist eine starke Person, die so viel Kraft hat, daß sie alles Unwesentliche und allen Schnickschnack weglassen kann. Sie hält ihr Leben ohne Lügen aus".

Die konzentrierte Ungeschminktheit ist es im besonderen, die Matthias Zschokke an einem Komponisten wie Franz Schubert am meisten beeindruckt, und die "merkwürdig schrille und hohe Kunstform", in der er sie zu gestalten vermochte. Seit Jahren möchte er einen Film zu realisieren, in dem dessen "manchmal fast schmerzhaft schönen Lieder, die einem so unerhört unter die Haut gehen können", das Handlungsgerüst bilden würden. Zschokke wäre einst selbst gern Sänger geworden und hätte sich dann an liebsten auf das vokale Werk des unsentimentalen Wiener Verzweiflungsgenies spezialisiert - Wahlverwandte in der unbefangenen Welterfahrung.

Das Große im Kleinen entdecken wie die Perle in der Auster, so versucht Zschokke die Wirklichkeit zu erkennen und zu beschreiben. Ob der Berliner Spatz in der Hand oder der Papagei am Äquator - letztlich liegt die Qualität des Daseins in der genauen Beobachtung und Wahrnehmung. Dieser Minimalismus, den Zschokke schon bei Catull und Horaz konstatiert, begründet für ihn die interessanteste Literatur: "Erst wenn ich meine Zeit ganz genau beschreibe, entwickelt sich eine über die Gegenwart hinausgehende Kraft." Wie mit einer völlig neutral eingefärbten Lupe bewegt er sich durch die Gegenwart und schaut ihr seine kunstvoll-unspektakuläre Dichtung ab: "Ich will nicht eigen sein, sondern wahr".

"Frankfurter Allgemeine Zeitung", Berliner Seiten, 15.1.2oo2
© by Irene Bazinger


Banalität des Alltäglichen

Judy Winter als «Singende Kommissarin» im Berliner Renaissance-Theater
--Von ddp-Korrespondentin Andrea Marczinski--


Berlin (ddp). Eine attraktive Frau im knappen engen grünen Kleid steht vor dem Vorhang auf der Bühne. Ein Lichtspot strahlt sie an. Sie nimmt das Mikrofon in die Hand und singt. Ihr Spaß daran ist im Gesicht zu lesen. Langsam nähert sie sich dem Vorhang und ist verschwunden. Als er aufgeht, gibt er den Blick frei erneut auf eine Frau. Sie ist verwandelt - und das schon äußerlich: Die blonden Haare sind streng nach hinten gebunden. Die langen Hosen und das Oberteil sind unauffällig. Ein Gürtel schwingt wie die Kordel einer Mönchskutte um die Hüften. Die Frau sieht gelangweilt aus. War der Gesang zuvor nur Illusion? Das Berliner Renaissance-Theater hat als erste Bühne am Donnerstagabend «Die singende Kommissarin» von Matthias Zschokke herausgebracht. Der in Bern geborene Autor und Filmemacher lebt seit mehr als 20 Jahren in Berlin. Zu sehen war von ihm in der Stadt zuletzt am Deutschen Theater «Die Alphabeten» und davor «Elefanten können nicht in die Luft springen, weil sie zu dick sind - oder sie nicht wollen» im Theater zum Westlichen Stadthirschen. «Die singende Kommissarin» war beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens im vergangenen Mai vorgestellt worden. Die Schauspielerin Christine Schorn sprach damals sehr eindrucksvoll den Fast-Monolog. Jetzt ist Judy Winter im Renaissance-Theater die Hauptkommissarin Vera Bergfeld. Sie hat Silvester-Bereitschaft im Berliner Polizeirevier/Abschnitt 32. Das wäre nicht wirklich interessant für die Allgemeinheit, gebe es da nicht ein paar Fans von ihr. 20 Jahre zuvor hatte «Die singende Kommissarin mit ihren swingenden Vopos» Kultstatus und feierte Erfolge. Songs wie «Metzger im Urlaub», «Bauaufsicht» oder «Dobermännchen» ließen sie Herzen erobern. Daran erinnert sich jetzt ein lokaler Radiosender und strahlt seine Live-Sendung «Ohr vor Ort» in der Silvesternacht vom Dienstzimmer der Kommissarin aus. Der Moderator (Stimme von Henning Vosskamp) hofft auf Action, Spannung und Gewalt. Doch nichts passiert. Im schäbigen Dienstzimmer, in dem beim Kaffeekochen die Sicherung rausfällt, klingelt gelegentlich eines der beiden Telefone. Außer einem herrenlosen Kopf im Wasserbecken auf dem Ernst-Reuter-Platz und einem Betrunkenen mit blutiger Nase auf der Türschwelle stört nur einer wirklich - der «Abschnittsgeschäftsführer» Herr Schwarzkopf (Gerd Wameling). Er kommt mit seinen «Gleitzeit-Erfassungsbögen» nicht klar und sucht doch eigentlich den Kontakt zur Kommissarin, die einsam ist wie er. Doch Vera Bergfeld, aufgefordert vom Radiomoderator, beginnt zu erzählen. Es ist wie ein Monolog über das Leben, in dem sich die Realität langsam mit Träumen vermischt. Judy Winter, gerade wieder am Renaissance-Theater in «Marlene» gefeiert, lotet die Facetten der Lebensbeichte der Kommissarin eindrucksvoll aus. Erst zögernd und tastend, sie weiß nicht, was sie im Radio erzählen soll, vergisst Vera Bergfeld später die Zuhörer und reflektiert immer sarkastischer ihre eigene erschreckende Durchschnittlichkeit. Das Leben ödet sie an, sie hasst die Wiederholungen. Sie weiß genau, was beim Vater passieren wird, wenn sie ihn besucht. Sie kennt die Abläufe im Restauraunt, wenn sie mit Gästen essen geht. Selbst der Gang auf die Zugtoilette ist der gleiche bei jeder Reise. Ein Tag ähnelt dem anderen. Und auch die Traumwelt mit einem Freund auf einem Landgut am See und Segelboot ist nicht frei von Enttäuschungen, die sie sich selbst und ihm bereitet. Überzeugend ist auch Gerd Wameling als Schwarzkopf, der seine Annäherungsversuche hinter dem Gestus des Albernen und Überdrehten versteckt und damit im krassen Gegensatz zum kühlen, distanzierten Spiel der Winter steht. Fast hat der Vorgesetzte damit Erfolg, denn am Ende hat sich die Kommissarin schön gemacht für ihn. Mit Sekt in der Hand und einem Lächeln im Gesicht kehrt sie in das Dienstzimmer zurück. Doch Schwarzkopf hat sich aus dem Staub gemacht. Die Inszenierung von Kay Neumann vertraut der Kraft des Textes von Matthias Zschokke. Er ist ein scharfer Beobachter der alltäglichen Dinge und gibt seinen Figuren das ausgewogene Maß an Ernst und Komik. Das Publikum am Premierenabend war begeistert und rief die Darsteller immer wieder auf die Bühne zurück. «Die singende Kommissarin» steht mit Ausnahme des 22., 23. und 28. Januar in diesem Monat täglich auf dem Spielplan.

ZDFtheaterkanal [http://www.theaterkanal.de/], 18.1.2002





PECH FÜR EINEN AUTOR: JUDY WINTER VERSINGT SICH ALS KOMMISSARIN

Karikatur der Karikatur


FRANK DIETSCHREIT
Vor zwanzig Jahren waren "Die singende Kommissarin" und ihre "Swingenden Vopos" Kult. Doch heute sitzt die "singende Kommissarin", die früher mit Liedern wie "Dobermännchen", "Bauaufsicht" und "Metzger im Urlaub" die Herzen der Fans eroberte, verlassen in ihrer Polizeiwache. Es ist Silvester in Berlin und die Radio-Redaktion von "Ohr vor Ort" hat das schäbige Dienstzimmer der Kommissarin mit Mikrofonen bestückt. So kann man überall in der Stadt mit anhören, was sich in einer langen Nacht bei der am Dienst-Telefon hockenden Polizistin ereignet. Oder besser nicht ereignet. Denn außer einem herrenlosen Kopf findet sich kaum etwas nennenswert Kriminelles und Berichtenswertes. Also kommt die Kommissarin ins Erzählen. Spricht von ihren Sehnsüchten und Ängsten, ihrer Einsamkeit und ihrer Hassliebe zu Berlin.

Da dürfte es der "singenden Kommissarin" so ähnlich gehen wie ihrem Schöpfer, Matthias Zschokke. Seit mehr als 20 Jahren lebt der 1954 in Bern geborene schweizer Autor schon in Berlin. Doch lange hat er dort wie ein Exilant gelebt. Interviews hat er meistens rigoros abgelehnt. Das Resultat der freiwilligen Verweigerung des öffentlichen Palavers: Obwohl er nach Romanen wie "Max" und "Das lose Glück", Filmen wie "Edvige Scimitt" und "Erhöhte Waldbrandgefahr" und Theaterstücken wie "Brut" und "Die Alphabeten" immer wieder von den Feuilletons gestreichelt wurde, gehört er nicht zur allgegenwärtigen Berliner Kultur-Schickeria.

Einem größeren Publikum ist Zschokke, der jetzt einen bizarren Bühnen-Text aufs Papier gezaubert hat, eher unbekannt geblieben. Zschokkes Sprache gilt als poetisch, seine Texte als "Literatur pur" und wenig dramatisch.

Wenn jetzt das mit 550 Sitzen nicht eben kleine Renaissance-Theater "Die singende Kommissarin" uraufführt, ist das kein kleines Risiko und die Erwartungen sind hoch. Zumal bei der Lesung auf dem "Stückemarkt" im vergangenen Mai die Schauspielerin Christine Schorn eine wunderbar flunschige, nölende "singende Kommissarin" war. Mit zeternder Stimme stellte sie sich dümmer als sie ist, machte lange, sprechende Pausen, lotete sie die erst so leicht und amüsant erscheinende, später so abgrundtief verzweifelt und melancholisch daher kommende Lebensbeichte einer nur noch in ihrer Fantasiewelt herum irrenden Frau facettenreich aus.

Welch ein Missverständnis, welch eine Enttäuschung ist dagegen jetzt Judy Winter. Die großartige "Marlene"-Darstellerin ist eine große Diva, aber eben keine kleine Plaudertasche. Winter sucht in dem skurrilen und surrealen, ständig zwischen Traum und Wirklichkeit pendelnden Monolog nach tragikomischem Pathos, wirft sich in Positur, rudert verzweifelt mit den Armen, braust auf, täuscht Aktion und Bedeutung vor, wo keine sind. Winter und ihr Regisseur Kay Neumann haben nicht begriffen, dass das Gerede der Kommissarin nur dann verzweifelt-komisch ist, wenn es mit todernstem Gesicht heruntergeleiert wird. Statt wie in Trance spielt Winter unter Hochspannung. Statt die Leere und Langeweile im Leben ihrer Heldin offen zu legen, kleistert sie sie mit lautem Brimborium und schauspielerischen Tricks zu.

Auch Ex-Schaubühnen-Star Gerd Wameling, der gelegentlich als bürokratischer Sonderling und Wiedergänger eines Traum-Geliebten der Kommissarin ins Dienstzimmer stolpert, trägt viel zu dick auf, mimt die Karikatur einer Karikatur. Ein blutender Mann taucht auf, ein Schuss fällt, doch eigentlich passiert gar nichts. Die redseligen Zauberwesen und traurigen Komödianten wollen keine Gestalt annehmen, Zschokkes Stück bleibt ein unerkannter, toter Text. Schade.
"Märkische Allgemeine", Potsdam, 19.1.2oo2


Exekution einer Taube

Renaissance-Theater Berlin: Matthias Zschokkes «Singende Kommissarin»

Eine Frau, nicht mehr jung, verbringt die Silvesternacht im Dienst, auf der Berliner Polizeiwache Abschnitt 27. Sie ist wie jedes Jahr bereit, sich den aufgeregten Stunden um den Jahreswechsel zu stellen. Diesmal in aller Öffentlichkeit, denn ein Privatsender hat seine Mikrophone in ihrer Amtsstube aufgebaut. Pralles Leben verspricht Matthias Zschokke mit dem Beginn seines Stücks «Die singende Kommissarin» - und führt damit geschickt in die Irre. Früher soll die Beamtin als Sängerin beliebt gewesen sein, und der Sender erhofft sich aus diesem Grund besonderes Hörer-Interesse. Aber es geschieht so gut wie nichts. Ein abgetrennter Kopf wird gemeldet; ein Verletzter purzelt durch die Tür; aus Langeweile erschiesst die Kommissarin eine Taube.

Schon das Behördenzimmer hat seine Geheimnisse. Existiert es überhaupt? Die Kommissarin denkt über ihr Leben nach, baut Geschichten zusammen, eigene und fremde. Mitunter gerät ein Lied dazwischen, dann wieder geht es um Gott und die Welt. Herbstliche Stimmung kennzeichnet den Monolog der Kommissarin, von Regen ist oft die Rede, von traurig stimmender Landschaft, von unbezwingbarer Einsamkeit. Ihre Erinnerungen, an einen Geliebten, an eine befreundete Schauspielerin, an die Clique beim Italiener, scheuen das Licht, die Sonne, die Wärme. Sie beschwören Abschiede, missglückte Nähe, kommen aus einer melancholischen Zukunftslosigkeit. Und schwingen sich doch, wenn die Silvesterraketen knallen, zur Apotheose des Menschen auf, der «ein Wunder» ist, trotz allem.

Hat diese vielschichtige, aber auch angestrengte Erzählung Sinnlichkeit genug für die Bühne? Im Berliner Renaissance-Theater fiel die Antwort bei der Uraufführung des Stücks zwiespältig aus. Judy Winter, in diesem Theater mit «Marlene» geradezu überwältigend erfolgreich, packt die Hauptrolle zu vorsichtig an. Sie zeigt eine kühle, beherrschte Frau, die sich Abstürzen und Höhenflügen verweigert - ein Repertoire wird abgespult in dem vornehm getäfelten Amtszimmer mit grossem Fenster zur Stadt Berlin. Bühnenbildner Detlef Pilz ist auf repräsentative Weite aus, und Regisseur Kay Neumann folgt dieser disziplinierten Sauberkeit und Übersichtlichkeit des Milieus - Judy Winter erhält nicht die Möglichkeit, zur Verzweiflung über nicht gelebtes Leben vorzustossen. Gerd Wameling macht aus dem sachlichen, dann betrunkenen, schliesslich zudringlichen Beamten wieder ein Kabinettstückchen - auch dieser Spass aber bekommt nichts Bedrohliches, Absurdes, Verstörendes.

Christoph Funke
"Neue Zürcher Zeitung", 19.1.2oo2



Aber langweilig sind wir doch alle

 
"Die singende Kommissarin": Judy Winter und Gerd Wameling im Renaissance-Theater
 
Günther Grack
 
Der Vorhang gleißt in rotem Licht. Eine Hand teilt, während die Musik aufrauscht, den Spalt in der Mitte, macht die Bahn frei für den Auftritt der Chansonette, einer Blondine, deren schlanke Figur in knapper grüner Seide steckt. Zu säuselndem Saxophon, pochendem Bass singt sie, ihr Mikro fest im Griff, ein Lied, das Auskunft über das Wetter und zugleich Einblick in die Seele gibt: "Langsame Eintrübung über Nacht ..."

Judy Winter in Topform - darf ihr Publikum im Renaissance-Theater auf eine Fortsetzung ihres "Marlene"-Erfolgs hoffen? Muss nicht schon der Titel des neuen Stücks, "Die singende Kommissarin", dazu verführen? Aber ach, das glitzernde Opening ist eine Täuschung. Der Schweizer Autor Matthias Zschokke will die Bedürfnisse der Spaßgesellschaft nicht erfüllen. Im Gegenteil, er führt das Publikum hinters Licht, um es mit einem nachtschwarzen Psychodrama zu konfrontieren. Ob die Zuschauer das sehen wollen, fragt sich freilich ebenso, wie es sich fragt, ob die Zuhörer das hören wollen, was hier vor unseren Augen und Ohren als Rundfunksendung live produziert wird.

Zschokke lässt sein Stück in einem Berliner Polizeirevier an einem Silvesterabend spielen, genauer: in der Stunde vor Mitternacht. Ein Lokalsender hat für seine Reihe "Ohr vor Ort" die diensthabende Wachleiterin verpflichtet, zu berichten, was sich da tun mag, und verspricht sich und seinen Hörern eine zusätzliche Attraktion davon, dass die Polizistin früher einmal eine Kultfigur war, nämlich als "Die singende Kommissarin mit ihren swingenden Vopos". Nun also soll Frau Bergfeld, wenn der Sender nicht gerade eines ihrer alten Liedchen einspielt, erzählen, was sie auf ihrer Wache erlebt, möglichst "gruselige Schoten": Mikro frei!

Der Moderator der Sendung, von dem man nur die zunächst betont muntere, dann zunehmend verärgerte Stimme zu hören bekommt, hat sich allerdings schwer verrechnet, denn sein Star vor Ort versagt kläglich. Nichts da von Krimi, nur die Tristesse einer privaten Existenz, anhebend mit einem furiosen Lamento darüber, dass "alles falsch" ist, "das Denken, die Richtung des Denkens", "dem Abgrund entgegen". Die Frau ist total frustriert. Sie gesteht, dass es ihr keinen Spaß macht, mit Besuchern von auswärts ins Restaurant zu gehen; sie schildert, wie sie an ihrer Schlaflosigkeit leidet; sie erzählt von Philipp, einem "lieben Freund", der irgendwo fern im Süden auf einem einsamen Landgut lebt und den zu besuchen weniger Freude bereitet als Qual. Und was passiert auf dem Revier? Ein Kollege, Herr Schwarzkopf, "unser Abschnittsgeschäftsführer", platzt mit seinen Dienstplänen durch die Tür, macht eine albern pedantische Figur - später wird er noch einmal erscheinen, sonderbar verwandelt, Frack und Zylinder, eine Maske vor den Augen, ein Doppelgänger jenes fernen Freundes? Wiederum später schrumpft er auf sein Normalmaß: "Ich bin langweilig, sicher. Aber das sind wir doch schließlich alle ..."

Ein vertrackt spröder Text, mit Einsprengseln bizarren Humors und einem finalen Song, der einer unglücklichen Freundin der singenden Kommissarin Lebensmut machen soll. Dass die Uraufführung, inszeniert von Kay Neumann in der Ausstattung von Detlef Pilz, zu einem Erfolg für den Autor und seinen Komponisten Rainer Rubbert geworden ist, verdankt sich der Treue des Publikums zu seinen Lieblingen Judy Winter und Gerd Wameling. Charmant, wie dieser Herr Schwarzkopf sich zu seiner "bescheuerten Visage" und ihrem "Lächelkrampf" bekennt. Imponierend, wie selbstlos sich Judy Winter in die arme Frau Bergfeld einfühlt, rau belfernd in der Klage, tonlos in der Verzweiflung. Ohne die Sympathie, die Judy/Marlene genießt, liefe der Abend Gefahr, dass die Monotonie überhand nimmt. "Bonjour Tristesse"? Na dann Gute Nacht!

"Der Tagesspiegel", Berlin, 19.1.2oo2


Verzweifelter Hund in Grünanlage

Matthias Zschokkes Stück "Die singende Kommissarin" uraufgeführt

Andreas Schäfer

Vor einigen Jahren veröffentlichte der Schweizer Schriftsteller und Filmemacher Matthias Zschokke einen Roman mit dem schönen Titel "Der dicke Dichter". Angeblich handelte es sich um einen Berlin-Roman, aber das Wohltuende an dem Buch war, dass so gut wie nichts passierte, also auch keine Berlinäktschn. Der dicke Dichter wohnte in einer West-Berliner Altbauwohnung zwischen stilvollen Möbeln und schaute sich selbst beim Nichtschreiben und Winterdepressieren zu. Manchmal ging er spazieren und beobachtete die Vögel im Park. Manchmal bekam er Besuch aus der Schweiz, mit dem er dann in einem Restaurant zu Abend speiste. Der dicke Dichter liebte es, von Kellnern zuvorkommend behandelt zu werden. Da machte es auch nichts, dass er und sein Besuch aus der Schweiz sich nicht viel zu sagen hatten. Wie das Buch ausging, hat der Theaterbesucher vergessen. Wahrscheinlich starb der dicke Dichter auf seinem Sofa, oder er verwandelte sich in eine seiner Fantasiefiguren, denen wie einem Ballon gemächlich die Luft entwich. Mit Sicherheit war es ein ruhiges, unaufdringliches Ende.

Wahrscheinlich kann auch Matthias Zschokke wie die meisten Romanciers nicht von seinen Romanen leben. Hin und wieder muss wiederverwertet werden. So entstand das Stück "Die singende Kommissarin". Für dieses Stück hat der Autor fast wörtlich Passagen aus dem Roman genommen, sie dieses Mal aber einer älteren Dame in den Mund gelegt, einer Polizeibeamtin, die früher als Sängerin mit den "swingenden Vopos" aufgetreten ist und Kult war. Jetzt ist sie 55 und sitzt in ihrer Polizeiwache an der Bismarckstraße und ist einsam. Philosophisch verbittert, aber mit Liebe zum Detail, sinniert sie über die falschen Rituale, die einem am Leben halten (Aufstehen, Kaffee-kochen, Frühstücken) und beschreibt den Zerfall, den die Zeit zwangsläufig mit sich bringt. "Die Körper schmerzen mehr als das Jahr zuvor. Nachbars Hund hinkt stärker. Er braucht entsetzlich lang zum Scheißen, steht mit gekrümmtem Rücken zitternd in der Grünanlage und guckt verzweifelt, nichts kommt raus, der Nachbar wartet, ich nicke ihm zu, ein Bekannter kauft Schrauben. Na ja, das ist nicht sehr fröhlich."

Fröhlich ist das wahrlich nicht, aber sehr rührend. Verzweifelter Hund in Grünanlage, mit seiner Verstopfung kämpfend. Da ist die West-Berliner Wintermelancholie wunderbar schauerlich eingefangen. Allein das Wort Grünanlage!

Leider soll das Ganze ein Theaterstück sein, weshalb diesem schwebenden Monolog einer vom Leben Enttäuschten ein pseudodramatisierender Rahmen übergestülpt wird. Es ist nämlich Silvester, und einer dieser zahllosen Ereignisradiosender hat sich in die Stube der Polizistin geschaltet, um für die Hörer mal richtig live bei der Berliner Polizei dabei zu sein. Bloß passiert eben nix. "Erzählen sie halt irgendwas, eine gruselige Schote aus dem Dienst, irgendeinen Mord mit abgebissenem Pimmel oder so, das wollen die Leute hören.", bettelt der Moderator mit öliger Stimme. Aber Frau Bergfeld horcht nur in ihre eigene Stille und hat keine Hammerdramen zu erzählen, obwohl sogar ein abgerissener Kopf im Wasserbecken auf dem Ernst-Reuter-Platz gemeldet wird. Daß die Welt banal ist, die Medien dumm sind und der Bär keineswegs in der Bismarckstraße steppt, kann wohl nicht die Botschaft dieser Konstruktion sein, obwohl es die einzige ist, die einem einfällt.

Dann passiert doch noch etwas. Herr Schwarzkopf, der Abschnittsabteilungsleiter, kommt herein und wedelt mit falsch ausgefüllten Formularen herum. Auch so ein Einsamer, der sich hinter seinen Ritualen versteckt. Als es zwölf wird und im Hintergrund die Raketen knallen, kommt es zwischen den beiden Polizeigrottenolmen sogar fast zu einer zärtlichen Begegnung. Aber dann geht der eine raus, um Sekt zu holen, und als er wiederkommt, ist der andere nicht mehr da. Schade, aber konsequent.

In der solide realistischen, quasi unsichtbaren Uraufführungsregie von Kay Neumann, die jetzt am West-Berliner Renaissance-Theater zu erleben ist, geben sich Judy Winter als Kommissarin und Gerd Wameling als Herr Schwarzkopf alle Mühe, die Leere des Lebens, die der Text entfaltet, ganz schnell und lückenlos auszufüllen. Gerd Wameling durch armrudernden Verwandlungsslapstick (vom Korinthenkacker über den dämonischen Liebhaber zum betrunkenen Angstbekenner), Judy Winter durch expansives Einfühlungstheater. Sie ist tief verbittert, als sie von ihrem Ex-Nichtgeliebten erzählt, kindlich erfreut, als sie mit einer Freundin telefoniert oder todtraurig, als sie mit ihrem Vater am Telefon schweigt. Zschokkes Stück surrt wie eine buddhistische Mücke durch den Raum, während Judy Winter immer gleich die Gefühlselefanten über die hässlich vertäfelte Bühne von Detlef Pilz galoppieren lässt. Die Gefühlselefanten der Winter sind beeindruckend, nur etwas laut. Mehr Stille wäre kraftvoller gewesen. Erst recht an Silvester.

"Berliner Zeitung", 19.1.2oo2



Schlöndorffs Rätsel

Andreas Kurtz

Nach dem großen Erfolg von "Marlene" war es wohl nur eine Frage der Zeit, wann im Renaissance-Theater das nächste Stück mit Judy Winter aufgeführt wird. Am Donnerstagabend hatte nun "Die singende Kommissarin" von Matthias Zschokke mit ihr in der Titelrolle Premiere. Die Fans der Hauptdarstellerin waren ganz offensichtlich zufrieden - immerhin gab es mehr als freundlichen Applaus und "Bravo!"-Rufe. Filmregisseur Volker Schlöndorff wich der Frage, wie er das Stück fand, allerdings wie so oft routiniert aus: "Das Stück ist wie Berlin." Und die Nachfrage nach seiner Meinung von Berlin beschied Schlöndorff so: "Berlin ist wie das Stück."

Schauspielerin Mareike Carriere durchschritt gleich nach dem Schlussapplaus im Mantel das Foyer des Renaissance-Theaters, was man aber nicht als Flucht fehlinterpretieren sollte: "Ich liebe Judy Winter. Sie ist für mich immer wieder eine Offenbarung. Sie kann spielen, was sie will - es gelingt immer fantastisch." Und der Mantel erklärte sich ganz einfach: Mareike Carriere wollte schnell zu einer kleinen, privaten Premierenfeier des Winter-Clans in einem Restaurant. Auch Judy Winter zog es dorthin. Sie drehte auf der eigentlichen Premierenfeier im Theater nur eine rasche Pflichtrunde.

Satiriker Lothar Kusche - in der Zeitschrift "Weltbühne" schrieb und im Nachfolgeblatt "Ossietzky" schreibt er unter dem Pseudonym Felix Mantel Kritiken - wunderte sich doch sehr über das Gesehene. "Ich muss mir dringend ein Programmheft besorgen, vielleicht wird darin ja erklärt, warum man dieses Stück aufführen muss." Und weil Kusche so gerne lästert, setzt er gleich noch eins drauf: "Eben kam Otto Sander noch mal mit angeklebtem Bart. Wahrscheinlich, damit es nicht so auffällt, dass er schon wieder ans Büfett geht."

Judy Winter musste für die "Kommissarin" eine enorme Gedächtnisleistung erbringen, wurde ihr Solo doch nur kurz durch Auftritte von Kollege Gerd Wameling unterbrochen. Eine Zuschauerin der Premiere wusste diese Leistung am meisten zu schätzen: Desiree Nick. "Ich habe das noch vor mir." Am 24. April soll "Nichts Schöneres" von Oliver Bukowski am Renaissance-Theater Premiere haben. Die Nick hat schon angefangen, ihren Text zu lernen. Und ist sich durchaus bewusst, welchen Nachteil Stücke haben, die im Wesentlichen aus einem Monolog bestehen: "Die Schuld an einer verpatzten Vorstellung kann man leider keinem Kollegen in die Schuhe schieben."

Im Premierengetümmel: Kerstin Kießler (Bremens Vertreterin beim Bund), Schauspielerin Ursula Heyer (schenkte der Katzenfreundin Judy Winter ein Bild mit einer Katze in einem Bauernbett).

"Berliner Zeitung", 19.1.2oo2



Silvester der einsamen Herzen

THEATER / Am Renaissance-Theater in Berlin ist «Die singende Kommissarin» von Matthias Zschokke uraufgeführt worden. Sehenswert, obwohl nicht restlos geglückt.

• CHRISTIAN HUNZIKER

Matthias Zschokke, 1954 in Bern geboren und seit über zwanzig Jahren in Berlin wohnhaft, teilt das Schicksal nicht weniger Schriftsteller: Die Kritiker loben ihn, die Gremien verleihen ihm mit schöner Regelmässigkeit renommierte Preise (so im Jahr 2000 den Grossen Literaturpreis der Stadt Bern), doch der Erfolg beim breiten Publikum hält sich in Grenzen.
Länger als sieben Jahre musste Zschokke warten, bis nach der Uraufführung seiner «Alphabeten» am Stadttheater Bern wieder ein Stück von ihm den Weg auf die Bühne gefunden hat. Letzte Woche wurde «Die singende Kommissarin» am Berliner Renaissance-Theater unter der Regie von Kay Neumann uraufgeführt.

Schauplatz des Stücks ist ein schäbiges Büro des Berliner Polizeiabschnitts 27, in dem Vera Bergfeld, vor vielen Jahren als «singende Kommissarin» mit ihren Hits wie «Bleiches Fräulein» und «Dobermännchen» ein Liebling der Kulturszene, als Dienst habende Wachleiterin den Silvesterabend verbringt. Das Besondere daran: Ein Privatradio ist zugeschaltet in der Erwartung, die Hörer live an aufregenden Ereignissen teilhaben zu lassen (vielleicht an «einem Mord mit abgebissenem Pimmel», wie der Moderator hofft). Doch die Kommissarin hat keine Gruselstories zu bieten, sondern lediglich banale Begebenheiten: Wie sie sich einmal pro Woche mit Bekannten im italienischen Restaurant bei saurem Soave trifft; wie sie Besuch aus der Provinz in schicke Restaurants von Berlin-Mitte ausführt und sich dabei unwohl fühlt; wie sie mit dem Zug zu ihrem alten Vater fährt, der seine Tage vor einem überlauten Fernsehgerät verbringt.

Problematische Besetzung

Judy Winter spielt diese einsame, vom Leben gebeutelte und oft vergeblich um Haltung ringende Kommissarin. Eine problematische Besetzung: Die Winter ist ein Star, der am Renaissance-Theater in einer völlig anders gelagerten Rolle, nämlich als Marlene Dietrich in Pam Gems' Stück «Marlene», triumphierte. Für die Lakonik Zschokkes aber fehlt ihr der richtige Tonfall. Wo präzises Understatement gefragt wäre, behilft sich Judy Winter mit bemühter Ruppigkeit, wo behutsames Ausloten nötig wäre, geht sie mit unsensibler Schnelligkeit über die verzweifelte Komik und die latente Tragik des Textes hinweg.

Wesentlich besser entfalten sich die leisen Pointen und die präzisen Alltagsbeobachtungen Zschokkes bei Gerd Wameling, der einen pedantischen, mit der Überprüfung von Gleitzeiterfassungsbögen befassten Beamten spielt. Wameling, früher einer der Protagonisten der Berliner Schaubühne, zeichnet auf anrührende Weise das Psychogramm eines verklemmten, um ein bisschen Zuneigung bettelnden Einsamen. In einer Szene schlüpft er zudem in die Rolle eines ehemaligen Freundes der Kommissarin. Die erinnert sich, wie sie den angebeteten Mann einmal auf seinem Landsitz besuchte. Sie stopfte enthusiastisch die eigentlich verhassten Stachelbeeren in sich hinein, sie lobte den sauren, selbst gekelterten Wein, sie zeigte sich begeistert von einer grauenhaften Fahrt mit dem Segelboot - alles, um dem Freund zu gefallen, und alles vergebens.

Allein diese Szene, ein Kabinettstückchen zeitgenössischer Dramatik, weckt den dringenden Wunsch, «Die singende Kommissarin» trotz der nur halbwegs gelungenen Uraufführung noch auf vielen anderen Bühnen zu sehen.


"Der Bund", Bern, 21.1.2oo2



Blaulichtmilieu



Polizei, Poesie & Po: Judy Winter als „Die singende Kommissarin“ von Matthias Zschokke im Berliner Renaissance-Theater


Der letzte Tag des Jahres ist angebrochen. Frau Bergfeld, Hauptkommissarin im Abschnitt 27 der Berliner Polizeibehörde, hat ihren Dienst angetreten. Der Silvesterabend wird zu einem Rückblick auf ein Leben, das einmal in bunteren Farben geleuchtet hat.

Vor zwanzig Jahren hat die Kommissarin mit den swingenden Vopos die Schlager „Bauaufsicht“ und „Metzger im Urlaub“ intoniert. Sie hat ihre Hand mit den langen roten Fingernägeln in den Lichtkegel gestreckt und dem Publikum den Po in einem eng anliegenden Mini-Rock präsentiert. Bei einem ihrer Auftritte, den wir zu Beginn der Uraufführung von Matthias Zschokkes Stück „Die singende Kommissarin“ im Berliner Renaissance-Theater in einer Rückblende sehen, trägt Frau Bergfeld eine schicke grüne Polizeiuniform, mit einem frechen Dienstkäppchen auf dem Haupt. Nach strenger Liebe lechzende Männer muss diese Mischung aus Polizei und Poesie einmal betört haben.

Doch Frau Bergfeld hat das Singen aufgegeben – vielleicht aus Angst, in den Gazetten der Hauptstadt als nervende Kreissäge verhöhnt zu werden. Ihr Outfit ist brav und bieder geworden. Die roten Fingernägel und die schnellen lip-licks sind die einzigen Relikte aus ihrer großen Entertainer-Zeit. In der letzten Stunde vorm Jahreswechsel erinnert das Radio in der Sendung „Ohr vor Ort“ an die singende Kommissarin. Das Live-Gespräch mit dem Rundfunkmoderator soll die Zuhörer aufmuntern, doch Frau Bergfeld kommen eher die düsteren Seiten ihrer Existenz in den Sinn. Freimütig erzählt sie von ihrer Einsamkeit und den Zumutungen, die die Arbeit in der braun getäfelten Polizeiwache (Bühnenbild: Detlef Pilz) so mit sich bringt.

Der Moderator wünscht mehr Sex & Crime, die Kommissarin soll von einem „Mord mit abgebissenem Pimmel“ erzählen. Dann schneit Herr Schwarzkopf (Gerd Wameling) herein – ein depressiv verschatteter Bär. Mit der Korrektur von falsch ausgefüllten Gleitzeiterfassungsbögen versucht er, sich die Libido vom Leib zu halten. Wenn die Lust ihn trotzdem überkommt, presst er einfach seine Oberschenkel zusammen und leckt am Sektglas.

Doch auch durch Herrn Schwarzkopfs Erregung lässt sich Zschokkes Titelfigur in ihrem Lebenskampf nicht unterkriegen. Als kurz vor Mitternacht Irmchen aus Neustrelitz anruft, fängt die Kommissarin Irmchens Jahresendzeit- Depression auf – und hält im Schlussbild den Telefonhörer in die Luft, damit die Anruferin in ihrem ostdeutschen Städtchen die Knallerei der Großstadt hören kann.

Die famose Judy Winter, die im Renaissance-Theater schon viele Triumphe gefeiert hat, kann die hohen Erwartungen dieses Mal nicht erfüllen – schon weil der Regisseur Kay Neumann viel zu viel Bedeutung in das Leben der singenden Kommissarin gelegt hat. Dadurch lastet auf dieser Uraufführung eine falsche Schwere. Zschokkes Polizistinnen-Drama verlangt eher nach dem heißen Atem der Komödie als nach der tragischen Stilisierung der Empfindungen. Aber vielleicht ist in dieser eineinhalbstündigen, langsamen Eintrübung eine kühne Subversion verborgen: Die Arbeit bei der Polizei wird als gigantische Trostlosigkeit gezeigt.

KLAUS DERMUTZ


"Süddeutsche Zeitung", München, 22.1.2oo2



Kein Verlass aufs Zwischenhoch

Kein Verlass aufs Zwischenhoch

Judy Winter und Gerd Wameling in Zschokkes-"Singender Kommissarin"

Von Reinhard Wengierek

Berlin - "Langsame Eintrübung über Nacht, Gehwege neblig nass, aufs Zwischenhoch ist kein Verlass ..." röhrt eine Polizistin als metaphernselige Meteorlogin mit rauer Stimme ins Mikrofon. Zusammen mit den Swingenden Vopos war sie einst Kult; als singende Kommissarin. Doch Hitparadenzeit ist längst vorbei. Fräulein Bergfeld, etwas jenseits der besten Jahre einer Frau und mittlerweile Hauptkommissarin, tut, wie immer an Silvester, brav Nachtdienst auf Wache 27 in der Berliner Bismarckstraße.

Doch diesmal überrascht sie ihre flittrige Vergangenheit: Ein Lokalsender kam auf die Idee, für seine Serie "Ohr vor Ort" just in der letzten Nacht des Jahres sich der stimmgewaltigen Polizei-Popperin zu entsinnen, installiert über ihrem Schreibtisch ein Mikro um live dabei zu sein in den doch so aufregenden letzten Stunden des Dezember. Reality-Radio!

Doch die Realität spielt nicht mit. Nix Aufregendes passiert, bis auf einen ältlichen, verklemmten, auf Flott mimenden Kollegen (Gerd Wameling), einer penibel gebogenen Büroklammer, der die Biedermeier-Maske verrutscht, die der Einsamkeitskoller juckt, die dreist tollpatschig einen Moment lang Trost sucht. - So weiß die Wachhabende nicht recht, was sie daher reden soll ins Aufnahmegerät. Irgendwas, drängt der Moderator. "Eine Gruselschote aus dem Dienst, Mord mit abgebissenem Pimmel oder so, das wollen die Leute hören." Der Bergfeld (Judy Winter) ist das zu blöd. Und doch kommt sie unheimlich unaufhaltsam in Fahrt - als hätte sie vergessen, auf Sendung zu sein.

Das im Renaissance-Theater uraufgeführte Opus von Matthias Zschokke ist eigentlich kein Theaterstück, sondern ein Monolog über das Vereinsamen, Verglühen, Vereisen, das Sich-selbst-abhanden-kommen. Ein lakonisches Lamento über zunehmende Verholzung. Über die Daseinsroutine, diese "unwürdige Hampelei" samt der damit einhergehenden Irritation. - "In mir nimmt die Meute zu, die ich verachte", murmelt Bergfeld.

Zschokke, der in Berlin lebende Schweizer (sechs Romane, sechs Theaterstücke, zahlreiche Preise) hat ein beklemmendes Gedicht geschrieben übers Altwerden. Über das Absurde des Lebens. Wie (schwer) man es aushält mit sich. Wie Verzweiflung wuchert. Wie der Wunsch nach Menschenflucht sich einnistet und versucht, Liebe abzuwürgen.

Regisseur Kay Neumann inszeniert wohlweislich ohne beifallheischend boulevardeske Theaterdonnerei (dennoch: einige Längen sollten gestrichen werden). Judy Winter spielt jenseits von Wehleid. Auch jenseits jeglicher Theatralik. Mutiger Minimalismus, vertrauend auf die Poesie der Sprache in präzisem Tonfall. Eine äußerst wache, vom Leben nicht mehr als andere gebeutelte, schon von Berufs wegen nüchterne, patente Frau, die sich immer zu helfen weiß und spürt, wann sie hilflos ist. Mit noch nicht ganz weggesteckten Sehnsüchten. Und einer Prise Konfetti zwischen den Fingern. Keine heimliche Psychopathin, aber mit verheimlichter Angst, womöglich wahnsinnig zu werden am - genau besehen - Irrsinn des Daseins.

Judy Winter, die taffe Lady, lässt Selbstmitleid gar nicht erst aufkommen; doch eine Dosis Wehmut hat sie im Blut. Neben kühlem Humor und halbwegs beherrschter Wut auf das Schicksal - und auf sich selbst. Solch eine Rolle mag der Winter auf den Leib geschrieben sein, aber natürlich machte sie jenseits des Privaten ein Kunststück daraus. Dem Gerd Wameling in seinen traurig komischen, auch grotesken Kurzauftritten nicht nachsteht.

"Die singende Kommissarin", der Titel verspricht schmissiges, pointensprühendes Entertainment. Diese Erwartung wird, was hübsch irritiert und wohl manchen verärgert, nicht erfüllt. Die Bergfeld dreht den Reality-Radioleuten eine Nase und macht ihre eigene Show. Ihren eigenen Trip, ja Strip, ohne das Publikum als Voyeure zu missbrauchen. Diese Bergfeld erzählt von sich - und von uns. Von unseren langsamen, unaufhaltsamen Eintrübungen.


"Die Welt", Berlin, 22.o1.2oo2




Judy Winter ist anderthalb Stunden auf der Bühne. Sie hat meistens die Hände geballt in den Hosentaschen, geht hin und her, vor und zurück, spricht vor sich hin, mal laut, mal leise, gelegentlich singt sie auch. Vielen Freunden des Hauses reicht das. Wer vom Theater mehr verlangt, kommt an diesem Abend nicht auf seine Kosten. Dabei bietet die Stückvorlage sehr viel mehr, das Angebot des vielschichtigen Textes wurde jedoch nicht genutzt, oder gar nicht erkannt.

Kommissarin Vera Bergefeld, Mitte Fünfzig, ziemlich einsam, hat sich wie jedes Jahr vor dem Silvester-Blues in den Bereitschaftsdienst geflüchtet. Sie ist allein, aber nicht für sich. Denn dieses Mal ist das Radio live dabei. „Ohr vor Ort“ heißt die Sendung. Man hat ihr ein Mikro übern Schreibtisch gehängt, das jedes Wort von ihr überträgt, nur das, was sie sagt, ist nicht das, was der penetrant plärrende Moderator aus dem Funkhaus von ihr hören will. Ein paar private Schnuckedönschen und pikante Kriminalfälle, „eine gruselige Schote aus dem Dienst, irgendeinen Mord mit abgebissenem Pimmel oder so, das wollen die Leute hören“ in der heißesten Stunde des Jahres. Aber Kommissarin Vera Bergfeld ist fertig mit sich und der Welt, alles andere als eine Stimmungskanone, auch wenn sie mitsingt bei ihren zwischendurch eingespielten alten Hits mit den „swingenden Vopos“: „Langsame Eintrübung“ zum Beispiel, oder „Bleiches Fräulein“. Die ehemals singende Kommissarin erzählt von allem möglichen, von ihrem Vater, der auf dem Land lebt und immer den Fernseher zu laut einstellt, von Bekannten, die manchmal auf einen Kurztrip nach Berlin kommen, von einem Ex-Freund, der ein öko-hedonistisches Leben auf einem Landgut führt, sie redet von dem Dreck in der Panke, von ihrer Schlaflosigkeit, von russischen Eispalästen, über die sie in der Zeitung gelsen hat und von dem Italiener, wo sie sich am Ende der Woche mit Manfred, einem dicken müden Finanzbeamten und Irmchen, einer tingelnden Provinzschauspielerin trifft. Ein tristes Leben. Menopausal. Banal. Mehr nicht. Küchenphilosophie, Küchenpsychologie. Jedenfalls, wenn man’s 1:1 vom Blatt nimmt, brav die Worte herbetet, wie sie geschrieben stehen. Und kein Gespür hat, keine szenische Phantasie entwickelt für die Bizarrerien und Surrealitäten, den methodischen Irrwitz dieser Geschichte und die abgebrühte Härte, ja den Zynismus ihrer Hauptfigur. Ein Anrufer meldet den Fund eines Menschenkopfes im Bassin auf dem Ernst-Reuter-Platz, ein Verletzter liegt auf der Schwelle der Bürotür, den die Kommissarin wegschiebt, wie eine Tüte Müll. Der Kollege Schwartzkopf, ein grauer Langweiler mit Lächelkrampf, der im Nachbarbüro die Mehrdienstleistungs- und Gleitzeiterfassungsbögen kontrolliert, erscheint plötzlich angesäuselt in Frack und Maske und redet wie der Ex-Freund Philipp, misanthropisch-überheblich und aggressiv. Die Kommissarin erschießt eine Taube auf dem Fenstersims. Dann wieder plärrt der penetrante Moderator aus dem altmodischen Ungetüm von Radioapparat, und die Kommissarin greift zum schnurlosen Mikro und singt wie einst ihre Lieder. Normal ist das nicht – wird aber von Kay Neumann so inszeniert.

Vor vielen Jahren lief auch hierzulande –leider nur in den dritten Programmen und zu später Stunde- eine geniale englische Fernsehserie The Singing Detective- die Titelähnlichkeit mag nicht von ungefähr kommen. Der zwiespältige Titelheld war geschlagen und gezeichnet von einer schmerzhaften Hautkrankheit, die aber nichts anderes war als der Ausdruck seines Weltekels und Selbsthasses, ein verzweifelter, böser Romantiker; im Krankenhaus seinen Ärzten und Angehörigen ausgeliefert, blendete er zurück in sein Leben als singender Kommissar- an die poetische Bitternis dieser Serie, an ihre verschachtelte Erzählstruktur, ihre artifizielle Studio-Atmosphäre mußte ich während der Premiere im Renaissance-Theater immer wieder denken. Mit einem solchen drastischen ästhetischen Zugriff, mit Lakonie und Härte könnte man Matthias Zschokkes doppelbödigem Text szenisch beikommen, komische Situationen und tragische Figuren entwickeln. Einen Hauch davon konnte man in den kurzen Auftritten von Gerd Wameling als Herr Schwartzkopf spüren, ansonsten sah man Judy Winter beim Singen und Reden, aber ohne Gedankenverfertigung. Zschokkes Singende Kommissarin wartet weiter auf ihre wahre Entdeckung.

Petra Castell in der Galerie des Theaters, „Sender Freies Berlin", 2o.1.2oo2