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Mittwoch, 7. November 2001
Tages-Anzeiger/ Zürich

Schweiz

In Hüttenfinken zum Nachtessen

Eine Merkwürdigkeit in einem Urner Talkessel ist das Hotel "Maderanertal". Für Leute, die der Berg ruft.

Von Matthias Zschokke

IIn Bristen ist Schluss. Ob im Auto oder im Zug angereist, hier muss man in ein Landrovertaxi umsteigen. Das bringt einen im Geländegang ans Ziel: zum Hotel "Maderanertal", einer Merkwürdigkeit, die seit 1864 in einem Urner Talkessel auf einer Felsnase steht. Ein viel zu grosses Haus mit Nebengebäuden inmitten von unberührter Natur, eine Art Gebirgskaserne. Unten ist eine Gaststube. Ohne Anmeldeformalitäten bekommt man am Tresen eine Zimmernummer genannt, geht über die ausgetretenen Holzstufen nach oben, öffnet seine Tür - und wird von der Aussicht erschlagen: fette, grün leuchtende Wiesen, Berghänge links und rechts, geradeaus das weite Tal, unten ein reissender Bach.

Die Zimmer sind klein. In jedem steht eine Kommode mit Waschschüssel und Krug. Auf dem Flur befindet sich ein WC nebst Handwaschbecken. Viel mehr hat das Haus nicht zu bieten; das Wenige befindet sich in marodem Zustand. (Früher soll hier die grösste und schönste Bibliothek des Kantons Uri zu finden gewesen sein. Reichlich vorhandenes Personal habe auf schwerem Tafelsilber serviert. Engländer, denen die Zimmer im Haupthaus zu klein gewesen seien, hätten für sich umgehend eine luxuriösere Dépendance erbauen lassen - eines der Häuser nebenan, in dem zurzeit nur die Zimmer einer Etage benutzt werden.)

WWenn die Sonne untergeht, gibts Nachtessen. In der Gaststube sitzen bereits andere, die der Berg gerufen hat. Hier eine Familie mit Hund, dort eine Wandergruppe mit geröteten Wangen, da ein paar ergraute Städter, aufgedunsen im Kampf gegen das rundum grassierende Spiessertum. Alle tragen an den Füssen verlottertes Zeug, so genannte Hüttenfinken. Im Umgang herrscht uneingeschränkte Gebirgssolidarität. Man zwinkert einander verschwörerisch zu; die Erwartungen an die befreiende Wirkung des Ozons scheinen hoch zu sein.

Ich freue mich erst einmal auf Älplermakkaronen, Gamspfeffer, Pilze, Murmeltierbraten oder was Berg und Tal sonst so zu bieten haben. Es gibt Schnitzel mit Pommes frites in altem Öl und hinterher das, was in ausländischen Autobahnraststätten als Schweizer Käse verkauft wird. Niemand scheint sich davon die Laune verderben lassen zu wollen. Im Gegenteil, man prostet einander über die Tische zu, macht zünftige Witze und spricht den Flaschen kräftig zu, die den Weg aus dem Supermarkt hier herauf gefunden haben.

Der Blutdruck steigt. Jasskarten werden hervorgeholt. Plötzlich hat einer der Grauköpfe ein Blechinstrument in der Hand, ein urtümliches Gebirgs- oder Landsknechtshorn, hebt es an die Lippen und stösst aus voller Lunge hinein. Sofort folgt ein zweiter, zückt eine Klarinette, die er unter der Eckbank versteckt hatte, und tut es ihm nach. Sämtliche musikalischen Krücken (wie: laut, leise, schnell, langsam) von Anfang an weit von sich werfend, werden bald auch die Fesseln des Takts gesprengt. Schnell sind die letzten Hemmungen gefallen, und das ungezwungenste Bergvagabundentum beginnt alle Anwesenden in seinen kollektiven Würgegriff zu nehmen.

Ich ziehe mich zurück, froh, Handwaschbecken und Klo für mich allein zu haben. Durchs geöffnete Zimmerfenster dringt das Rauschen der Wasserfälle, die von allen Seiten ins Tal stürzen. Die Luft, die hereinströmt, ist betörend und zieht den Fritierölmief aus Haaren und Kleidern. Im hundert Jahre alten Bett sinke ich in tiefen Schlaf. Um halb drei werde ich daraus emporgerissen. Direkt unter mir haut jemand in die Tasten eines Klaviers. Die entfesselten Grauköpfe sind mit ihren Freundinnen offenbar aus der Gaststube eine Etage höher ins Säli umgezogen, über welchem ich schlafe. Empört schiesse ich aus dem Bett und trete auf den Flur, um wie ein Bergschrat zwischen sie zu fahren und ihrem Freiheitsdusel einen Dämpfer aufzusetzen - als ich auf halber Treppe eine Frauenstimme ein so urschreihaftes "Yeeeäääaaah!" ausstossen höre, dass ich entsetzt auf dem Absatz kehrtmache und ins Bett zurückkrieche.

IIrgendwann sind auch die Stadtmusikanten endlich erschöpft und poltern die Treppe hinauf in ihre Betten. Ab jetzt herrscht Stille. Am nächsten Morgen trifft man sich wieder in der Gaststube zum Frühstück. Alle schauen verlegen und reiben sich ihre roten Augen. Die UHT-Milch, die es zum Kaffee gibt, und das nicht weniger lang haltbare Brot verbreiten die unheimliche Atmosphäre von Untotem. Ich verlasse das Haus - und habe es schon nach fünfzehn Metern vergessen. Rundum braust und tost Wasser, der Boden ist weich wie Moos, die Wege verlieren sich im Gras, das Wandern wird zum Streunen, kleinen Bergseen entlang, über glitzernde Alpweiden, steinige Kuppen, und dazu eine Luft . . . Am Abend fahre ich runter nach Luzern. Hier steht am See das Hotel "Palace". Mit etwas Glück kann man da ein Zimmer zum Last-Minute-Preis bekommen - und sich darin erholen, wie es die Gentlemen von 1864 vielleicht für sich erträumt haben.

Hotel "Maderanertal", Tel. (041) 883 11 22: DZ m. F.: 90 Fr., Winterpause bis Anfang Juni, evtl. nächstes Jahr schon ab Pfingsten (im Mai) geöffnet. Hotel "Palace", Luzern, Tel. (041) 416 16 16: das führende Haus der Innerschweiz, fünf Sterne: DZ m. F. 495-1240 Fr., teilweise Last-Minute-Angebote, zurzeit Pauschalangebot (bis zum 31. 3. 02: mind. 2 Nächte, DZ 330 Fr. pro Nacht m. F.


Mittwoch, 21. November 2001
Tages-Anzeiger/Zürich

Seelenruhe finden im Kurgebiet von Baden

Im Badener Hotel "Verenahof" wirkt der Zauber von verblichenem Luxus, während draussen das mineralreichste Wasser der Schweiz dampft.

Von Matthias Zschokke

Endlich mal wieder ein Bahnhof, der fertig umgebaut ist. Wie friedlich. Auf dem Vorplatz wartet ein Kleinbus, der Badegäste für 1.20 Franken ins Kurgebiet bringt. Wer zu den Glücklichen gehört, die ohne Gepäck zu reisen verstehen, sollte die zehn Minuten zu Fuss gehen. Man überquert zuerst den Hauptplatz, der wie eine Terrasse hoch über der Limmat liegt. Dann geht es unübersichtliche Betonstufen hinunter - man wähnt sich auf der notbeleuchteten Feuertreppe eines ausgestorbenen Parkhauses -, dann weiter zwischen grün wucherndem Gestrüpp steil bergab - bis ans Ufer der Limmat, das von einer Promenade gesäumt wird, die mit ihrer Romantik jeden, egal zu welcher Jahres-, Tages- oder Nachtzeit, in ihren Bann zieht.

Das Wasser rauscht betäubend laut, die alten Bäume lassen ihre Äste in einem grandiosen Bogen ins Wasser hängen, und ein kleiner Brunnen steht da, mit weinenden Kindern aus Stein. Ihre Verzweiflung ist so tief, dass man erstaunt davor stehen bleibt und den Spruch darunter liest: "Jed' Menschleins Weh, in Traen' zerronnen, die Erde schluckt's und weint's in Bronnen."

Das ist ThermalBaden: tragisch, ernst, heiter, gesegnet. Am schönsten im Spätherbst, bei Nieselregen, in der Dämmerung. Aber selbst an einem Sommernachmittag fügen sich der kleine Kurpark, die Hotels und die Villen aus der Belle Epoque so harmonisch zu einem Ganzen, dass einem nichts anderes zu denken übrig bleibt als "Und siehe da, es war sehr gut". Egal, in welcher Stimmung man ankommt, von weit her oder von nebenan, das Bäderquartier nimmt jeden auf und verleiht ihm Seelenruhe. Wahrscheinlich funktioniert es selbst für Bürger aus Ennetbaden, die hier durch zur Arbeit oder auf den Zug gehen: Der Spaziergang zieht all ihre Sorgen an sich, löst sie auf und weint sie in Bronnen.

Am sichersten wirkt der Zauber, wenn man im Hotel "Verenahof" absteigt (das einzige mit direktem Zugang zum Bad). Durch sein bescheidenes Portal taucht man ein in verblichenen Luxus. Wände und Teppiche sehen aus, als hätten sie Wasserflecken - eine Täuschung, hervorgerufen durch das Streulicht, das aus den Lichthöfen mit ihren beschlagenen Glasdächern dringt. Aus dem Keller steigt feuchtwarme, schweflige Luft. Der Lift ist alt und knarrt. Nirgends trumpft der Luxus auf, er ist nur überall da. Die Zimmer hinter den Doppeltüren sind gross, die Betten und die Wäsche einladend wie in einem Lungensanatorium - man überlässt sich dem Hotel nach kürzester Zeit wie den Vertrauen erweckenden, warmen Händen eines Landarztes.

Draussen dampft das mineralreichste Wasser der Schweiz. Was für eine nüchterne Anlage! Nicht ein Ausrutscher ins Tropische, nicht eine Verführung ins Erotische, nicht eine schwüle Anzüglichkeit. Nichts als Vernunft und Selbstverständnis. So gibt es beispielsweise genug gute, starke Massagedüsen, um alle glücklich zu machen. Trotzdem klingelt jede Minute ein Glöckchen, und die Badenden gleiten diszipliniert eine Düse weiter, um ihre dem Nächsten zu überlassen. Wie oft habe ich Bäder besucht, in denen um die Düsen Gezänk entstand, weil es zu wenig davon gab; oder schlechte Laune breitete sich aus, weil innerhalb des Beckens bevorzugte Wannen konstruiert waren, die nie freigegeben wurden.

In Baden gibt es keine Privilegien. Überall ist es gleich erholsam, entspannend und angenehm. Ein zutiefst demokratisches Bad, in dem selbst der Schwächste, ohne Angst unterzugehen, loslassen kann. Auch das Essen macht Freude. Zwei Restaurants, die zu Fuss schön und bequem zu erreichen sind, möchte ich empfehlen. Ob im "Trudelhaus" oder im "Rebstock" - das erste familiärer, näher am Badener-, das zweite näher am Zeitgeist -, gekocht wird in beiden auf hohem Niveau zu reellen Preisen und ohne Allüren. Es ist ein reines Vergnügen, hier zu speisen und dazu Goldwändler, den lokalen Rotwein, zu trinken.

Nachts herrscht Fahrverbot im Quartier. Leider wird das um sechs Uhr früh aufgehoben. Dann treffen die Angestellten in ihren Autos ein und reissen den Kurgast aus dem Schlaf. Der dreht sich im Bett entweder seufzend auf die andere Seite und denkt, ach ihr Armen, oder er steht auf und geht ins Bad, das um diese Zeit öffnet. In grösster Finsternis allein im heissen Wasser zu liegen und zu träumen, über sich Dampf und den riesigen schwarzen Himmel - ein unvergleichlich schöner Einstieg in einen Tag. Danach wandelt man im weiss gestärkten Frotteemantel durch den katakombenartigen Keller mit seinen Badeverliesen zurück zum Hotellift, der einen nach oben bringt, in seine Suite, oder hinten hinaus über die schmale Strasse in die Dépendance, ins Zimmer 228 mit dem russischen Landhausbalkon. Das Frühstück sollte man im Festsaal einnehmen. Die Beleuchtung dort erinnert so schön an die einer sozialistischen Vorstadtbahnhof-Wartehalle, was dem neobarocken Prunk eine rührende Hinfälligkeit verleiht. Später spaziert man wieder die Limmat entlang, wohlig warm von innen heraus und mit zu viel Zeit, steigt den scheusslichen Hang zwischen weggeworfenen Kondomen und Einwegspritzen hinauf, betritt oben die Terrasse - und fühlt sich gestärkt für die kommenden Wochen.

  • Hotel "Verenahof", Tel. (056) 203 93 93: DZ m. F. 230-260 Fr., Suiten 300 Fr.; Dépendance: DZ. m. F. 140-190 Fr. (Preise inkl. unbeschränkte Thermalbenützung)
  • Restaurants: "Trudelhaus", Obere Halde 36, Tel. (056) 222 07 77 (So/Mo geschlossen). "Rebstock", Untere Halde 21, Tel. (056) 221 12 77 (So/Mo geschlossen)
  • Kindermuseum, Ölrainstrasse 29, geöffnet Mi und Sa 14-17 Uhr, So 10-17 Uhr.

Mittwoch, 12. Dezember 2001
Tages-Anzeiger/ Zürich

Behagliche Ruhe und dem Körper schmeichelnde Wäsche

Ein Tipp für geruhsames Weihnachtsshopping: In Liestal edle Unterwäsche kaufen und im Hotel "Bad Schauenburg" übernachten.

Von Matthias Zschokke

Als Kind war eines meiner Lieblingskleidungsstücke ein Calida-Pyjama. Jahre später sah ich in einem Zürcher Warenhaus einen Scheich (in weissem, langem Gewand), der sich stapelweise Damenunterwäsche aus Wolle einpacken liess. Die Verkäuferin, die ich darauf ansprach, sagte, das sei nichts Aussergewöhnliches; Araber seien ganz vernarrt in Schweizer Wollunterwäsche. Kurz darauf entdeckte ich zufällig auf einem Foto Yehudi Menuhin beim Üben auf seiner Geige - in einem Unterleibchen von Zimmerli. Seitdem bin ich nicht mehr abzubringen vom Glauben, Schweizer Unterwäsche sei etwas Besonderes.

Lange Zeit galt die von Hanro als der Rolls-Royce auf dem Seiden- und Wollsektor. Sie ist dementsprechend teuer. Nur in Liestal, wo sie hergestellt wird, kann man sie in einem Fabrikladen zum halben Preis bekommen. Leider hat ihre Qualität in letzter Zeit nachgelassen. Eine verwerfliche, mammonistische Firmenpolitik hat dazu geführt, dass der Name nach Österreich verkauft und die Produktion europaweit verstreut wurde.

Wenn ein Kunde sich heute über die Nähte beklagt, seufzen die Verkäuferinnen wehmütig, raten ihm dann aber, seine Unterhosen halt nicht wie ein Stier hochzureissen, sie seien schliesslich aus zartestem Gewebe. Und das stimmt auch. Hanro bereitet nach wie vor Lust beim Tragen, vergleichbar nur mit den Calida-Freuden meiner Kindheit. Es lohnt sich immer noch, dafür nach Liestal zu fahren, gerade jetzt, im Winter, um zum Beispiel lange Unterhosen aus Seide/Wolle für den Herrn zu kaufen, oder langärmlige Wollleibchen, die auch auf empfindlichster Haut nicht jucken, oder einen Kaschmirhausdress für die Dame, ein Nachthemd oder einen Morgenmantel aus Seide . . .

Um das Passende zu finden, braucht man Zeit. Es ist unsinnig, schnell hinzurasen, die Regale durchzuwühlen, zuzuschlagen und weiterzufahren. Geben Sie Liestal eine Chance. Bleiben Sie über Nacht, zum Beispiel im Hotel "Bad Schauenburg", einem Idyll, das Sie sonst nie entdecken würden. Schon am Bahnhof werden Sie aufatmen: Das Kofferschliessfach ist nicht so empörend teuer wie in Zürich - man fühlt sich als Gast willkommen, hebt erleichtert seine Augen und erblickt die "Pasticceria l"7angolo dolce", die sich neben den Schliessfächern eingenistet hat. Ein Juwel an Schäbigkeit, wie man es sonst nur südlich von Neapel in Kleinstädten findet. Es tut gut, sie einen Augenblick anzuschauen und die Sehnsucht in sich aufsteigen zu spüren. Dann spaziert man zur Fabrik. Sicher, der Weg wird nie aufgenommen werden in die Liste der hundert romantischsten Europas, aber die Luft ist in Ordnung, der Verkehr gering . . . Nach dem Einkauf geht man mit der Hanro-Tüte in der Hand zurück. Nach zehn Minuten ist man im historischen Kern angelangt. Machen Sie hier Rast in der Confiserie Krattiger, einer Oase der Erholung, in der - ohne das Gehabe grossstädtischer Nobelkonditoreien - auf höchstem Niveau gebacken wird.

Danach nehmen Sie ein Taxi. Zuerst fährt es durch eine traurige Agglomeration, dann aber wirds friedlich. Hügeliges Ackerland, Weiden, Kühe mit Glocken, vereinzelt daliegende Bauernhöfe, jetzt vielleicht sogar Schnee. Etwa nach drei Kilometern taucht zwischen den welligen Wiesen und Wäldchen ein herrschaftliches Gut auf, ein grosser Teich mit Springbrunnen davor, drum herum ein einladend gepflegter, parkartiger Garten: das dreihundert Jahre alte Hotel "Bad Schauenburg". Der Badebetrieb ist längst aufgegeben worden, doch aus sämtlichen Hähnen fliesst nach wie vor eigenes, gesundes Quellwasser. Die Gästezimmer sind solide renoviert und behaglich eingerichtet wie die bei einem reichen Freund auf dem Land.

Das Restaurant des Hauses ist weit herum bekannt, die Atmosphäre in den beiden Salons, in denen gespeist wird, ausgesprochen festlich. Gekocht wird mit hohem Anspruch und zuweilen schwankenden Ergebnissen. Die Preise sind ebenfalls hoch, ohne leider auch den Schwankungen zu folgen. Doch der Ton, der herrscht, ist nie gestelzt; man fühlt sich als Gast ernst genommen, wertgeschätzt und geborgen. In der Nacht ist nichts als das Rauschen des Regens zu hören, ab und zu die Glocke einer grasenden Kuh, und man versinkt in tiefem, traumlosem Schlaf. Nach dem Frühstück, das in einem Wintergarten mitten in der Landwirtschaft eingenommen wird, reist man erholt ab, als hätte man das ausgeklügeltste Wellnesswochenende hinter sich.

Wer die Einsamkeit scheut und lieber im Städtchen selbst übernachten möchte: Das Hotel "Engel" ist auf beeindruckende Art modernisiert worden. Es hat im Spätsommer neu eröffnet und ist schon wegen seiner Duschen einen Besuch wert. Das Vergnügen, hier Gast zu sein, auch im Restaurant, ist um nichts geringer als das draussen in der Natur. Auch wenn es nur die Unterwäsche war, die einen hingelockt hat - Liestal hält, was es verspricht.


Hotel "Bad Schauenburg", Tel. (061) 906 27 27, DZ m. F. 180 Fr., Suiten 220/260 Fr. Hotel "Engel", Tel. (061) 927 80 80, DZ m. F. 230 Fr. Suiten 350 Fr. (nach Weekend-Specials fragen)

Hanro Factory-Shop, Benzburgweg 18, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 9-13 Uhr geöffnet

Confiserie Krattiger, Fischmarkt 16/18, Mo-Fr 6.45-18.30 Uhr, Sa 6.45-17 Uhr, So 8.30-17.30 Uhr geöffnet.


Mittwoch, 16.1.2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich
Dokument

Der grosse, eisige Hauch am See

SCHWEIZER (HOTEL-)GESCHICHTEN

Feurige Sonnenuntergänge, dampfender Nebel: Hinter den Panoramascheiben des Luxushotels "Beau-Rivage" in Neuenburg dehnt sich endlos der See aus.

Von Matthias Zschokke

In Neuenburg lockt das "Beau-Rivage" mit sensationell günstigen Wochenendpreisen auf "eine Insel der Ruhe und Raffinesse", die "in privilegierter Seelage allen Luxus eines Grandhotels bietet". Dieser Verführung konnte ich nicht widerstehen, zumal im Neuenburger Kunstmuseum mein Lieblingsautomat vor sich hin dämmert, "l'écrivain" (der Schriftsteller), ein knallbuntes Männchen, das an einem Pult sitzt und, wenns eingeschaltet wird, mit zittriger Hand anfängt, schöne Sachen auf ein Papier zu schreiben, zum Beispiel "der grosse Hauch".

Die Ankunft im Hotel ist ernüchternd. Obwohl ich ausdrücklich "mit Blick auf den See" und das teurere De-luxe-Arrangement gebucht habe, werde ich seitwärts untergebracht. Zwar sollen die Sonderpreise auch seeseits gelten, aber offenbar nicht für mich.

Unlustig betrete ich mein Zimmer, einen geräumigen Tresorraum mit kleinen Fenstern, ausgestattet in edlem, warmem Kirschbaumholz. Eine der Türen führt in einen begehbaren Kleiderschrank. Wer diesen betritt, blüht auf und wird von Stund an verfolgt vom Traum, seinen Lebensabend mit begehbarem Kleiderschrank zu verbringen.

Besser gelaunt öffne ich die nächste Tür und stehe im Bad, einem Salon in mattem Marmor. Mit Spiegeln bis an den Horizont, die jedem Gast den Eindruck vermitteln, er habe Hintergrund. Trotz eingeschränkter Seesicht fange ich an, mich im Zimmer wohl zu fühlen.

Da folgt der zweite Streich: Das Frühstück ist nicht im Preis inbegriffen. Eine Saumode wie die, Flugpreise ohne Flughafentaxen anzugeben. Wie soll einer fliegen, ohne ein- und aussteigen zu können, wie übernachten ohne Aussicht auf Kaffee?! Wütend nehme ich mir vor, am nächsten Morgen nüchtern in die Altstadt zu wanken, um dort zu frühstücken - ein Vorsatz, den ich nach kurzem Entdeckungsrundgang fallen lasse. Die erreichbaren Cafés sind innenarchitektonisch so niederschmetternd gestaltet, dass sie niemandem auf die Beine helfen können.

Zurück im Hotel, gehe ich in die Veranda-Bar. Rosa glühende Bauernsöhne aus dem Grossen Moos sitzen verträumt neben rosa schimmernden Einheimischen und trinken in Begleitung von rosa duftenden Frauen Aperitif. Rund herum nichts als Glas, von der Decke bis zum Boden. Unmittelbar davor dehnt sich der in der untergehenden Sonne brennende See, der im Herbst manchmal sogar mit richtigen Wellen und weissen Schaumkronen auftrumpft, im Winter neblig dampft und dessen gegenüberliegende Ufer sich nicht selten im Dunst verlieren - ein See, der diesen Namen ohne Einschränkung verdient.

Neuenburg war lange Zeit Fürstentum. Noch vor 150 Jahren gehörte es dem preussischen König. Auf engem Raum zeugen repräsentative Familiensitze früherer Grafen und Prinzen von dieser Vergangenheit, Residenzen wie das Hotel "Du Peyrou" (heute eine erste Adresse zum Speisen) und andere Palais alten Adels, deren Fassaden - obwohl die Expo.02 vor der Tür steht! - noch nicht zu Tode renoviert worden sind. Oder das "Le Cardinal", eine veritable, alteingesessene Brasserie, in der es Meeresfrüchte zu essen gibt wie früher in französischen Filmen mit Jean Gabin.

Das Lokal ruht mit einer solchen Selbstverständlichkeit in sich, dass es nicht einmal nötig hat, als Geheimtipp gehandelt zu werden. Seine Spezialität ist Sauerkraut mit drei Sorten Fisch und Muscheln. Wer jetzt müde abwinkt und sagt, das kenne ich von da oder dort, wo es mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet worden ist, der gesteht damit bloss ein, dass er es nie im "Le Cardinal" in Neuenburg gegessen hat.

Das Frühstück in der einzigartigen Veranda des Hotels - angesichts des Sees im Licht der aufgehenden Sonne, direkt vor den Panoramascheiben, durch die auch bei eisigster Kälte kein Windhauch hereinweht - ist ein Genuss. Die Stühle sind bequem, die Tische gross, die Tücher aus steifem, schwerem Leinen.

Ich bin kein Freund von Nasskaltem am frühen Morgen, probiere aber, weil es so verlockend aussieht, einen Löffel Birchermüsli, und selbst das lohnt sich. Während ich dasitze und übers Wasser schaue, spüre ich mit Erleichterung, dass mich weder der Frühstücksaufpreis noch die beschnittene Seesicht im Zimmer länger quälen: Ausstattung und Lage des "Beau-Rivage" machen beides zu vernachlässigbaren Details.

Wer auf Details empfindlich reagiert, dem sei als Alternative das "Alpes et Lac" genannt, oben, direkt gegenüber vom Bahnhof. Die Sicht aus den Zimmern ist - auch wenn man das Wasser nicht direkt an den Füssen hat - ähnlich majestätisch wie die aus den Luxussuiten unten. Und wer See pur haben will, der muss sowieso auf den "accès aux utopies" (Zugang zu den Utopien) hinaustreten, eine begehbare Plastik in Form eines Riesensprungbretts, das von der Uferpromenade etwa fünfzehn Meter in die freie Luft hinausragt. An seiner äussersten Kante steht ein Bänkchen. Da sitzt man dann, schwankend zwischen Himmel und Wasser, und spürt den grossen, eisigen Hauch.

Hotel "Beau-Rivage", Tel. (032) 723 15 15, EZ 290-570 Fr.; DZ 360-570 Fr., an Wochenenden DZ 220/270 Fr. (ohne Frühstück) Hotel "Alpes et Lac", Tel. (032) 723 19 19, EZ mit Seesicht 110-120 Fr., DZ 160-170 Fr. (ohne Frühstück) Brasserie "Le Cardinal", Seyon 9, Tel. (032) 725 12 86, sonntags geschlossen.


Mittwoch, 13.2.2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich

Weg wird für einmal zum Ziel

In Chur blicken Reisende auf dem Weg in die Ferien höchstens mal kurz auf die Uhr. Man kann hier aber auch verweilen, im Romantik-Hotel «Stern» zum Beispiel.

Von Matthias Zschokke

Wo die Strasse zur Lenzerheide ansteigt, begannen die VW-Käfer jeweils zu schlittern. Auf der Kreuzung stand ein frierender Polizist und regelte den Verkehr. Autos mit Skis auf dem Dach warteten in einer Schlange. Ketten wurden montiert. Hinter dem Polizist stand auf einem Schild «offen» (grün) oder «geschlossen» (rot). Schneeregen fiel aus tief hängenden Wolken. Den Kindern in den Fonds war es übel; sie hatten kalte Füsse und quengelten. Väter schauten drohend in die Rückspiegel und fragten: «Muss ich nach hinten langen?!» Sechzigerjahrestart in die Winterferien.

Chur teilt mit Olten die zweifelhafte Ehre, an einem wichtigen Weg zu liegen, ohne es selbst je zum Ziel gebracht zu haben. Zugreisende heben kurz den Blick, erkennen den vorübergleitenden Schriftzug, seufzen, schauen auf die Uhr, setzen sich anders hin und lesen weiter.

In einem alten Hotelführer fiel mir das Churer «Duc de Rohan» in die Augen. Ich dachte, so kurz vor dem Granit ein solch romantisch klingender Name, dafür lohnt es sich auszusteigen.

Auf den Strassen liegt Matsch. Vor dem Lenzerheide-Anstieg steht eine frierende Polizistin. Autos warten. Auf dem Schild hinter ihr steht «offen» (grün). Düstere Wolken hängen über den Dächern. Schneeregen fällt. Nach wenigen Schritten sind meine Füsse nass und kalt.

Das «Duc de Rohan» ist zurzeit geschlossen und wird saniert. Zum Aufwärmen setze ich mich in ein Tearoom. Es heisst «Merz» und erinnert architektonisch an eine Flughafencafeteria. Ich bestelle eine «Tourtière de Gascogne» - und die Sonne geht auf: Bündner Konditoren, im vorletzten Jahrhundert weltberühmt, scheinen nach wie vor in der obersten Liga mitzubacken.

Ermutigt gehe ich wieder los. Nicht weit vom «Duc» liegt in der Altstadt das «Stern». Es gehört zur Romantik-Gruppe und ist somit garantiert historisch, wofür die zwei dreihundertjährigen Arvenstuben stehen, in denen man essen kann.

Auch die Gästezimmer im total modernisierten Haus sind mit Arvenholz ausgestattet. Von der Arvenstüblischwemme der letzten dreissig Jahre jedoch abgestumpft, zudem mit Ikeakiefern überfressen, lasse ich mich von Nadelholzbrettern kaum noch beeindrucken - es sei denn, sie duften, was die hier nicht tun.

Das Bad überzeugt durch raumsparende Einteilung: Auf dem Klo sitzend, kann man seinen Kopf auf die Papierrolle stützen, die von der linken Wand unters Kinn ragt, und dazu gleichzeitig die Hände über dem Becken waschen, das sich unter dem rechten Ellbogen hervorwölbt. In der Badewanne liegend, erinnere ich mich an einen Schauspieler, den ich einmal einen Abend lang als Marat in einem winzigen Zinkzuber habe verbringen sehen, wo er endlose Monologe aufsagen musste. Der Anblick war Mitleid erregend.

Zum Abendessen mache ich mich auf den Weg ins Restaurant «Basilic». Er ist sonderbar: Zuerst gehts in ein Parkhaus, dann hinten raus, eine Wohnstrasse entlang zu einem Lift (geeignet als Filmdrehort für Gewaltverbrechen), darin nach oben auf eine Art Akropolis mit Aussicht über die ganze Stadt. Eines der modernen Häuser ist das «Basilic», ein kleiner, achteckiger Tempel mit grossen Fenstern und hoher Holzdecke. Die Tische sind grosszügig darin verteilt, die Stühle lederbezogen - wäre da nicht die leichte Klassikbeschallung, die den Eindruck profaniert, würde man sich am Ziel seiner gastronomischen Träume wähnen.

Gekocht wird extravagant; die Weine stammen aus den besten Lagen der bischöflichen Domäne; die Qualität der Gerichte steigert sich von Gang zu Gang - bis zum abschliessenden Käseteller, der als eine kapitale Entgleisung die Säulen der Tempelküche ins Wanken bringt. Bevor sie einstürzen, breche ich auf. Kaum um die Ecke, rutsche ich aus und brettere die verschneite Strasse hinunter. Schneller als erwartet, bin ich auf diese Weise zurück im Hotel.

Die Stille, die mich im Zimmer empfängt, ist klar und rein; die Matratze gibt an den richtigen Stellen nach; die Decke liegt nicht zu schwer auf - lauter gute Gründe, Romantiksterne zu verteilen. Auch das Frühstücksbuffet anderntags verdient solche. Beste ofenwarme Brotsorten stehen bereit, dazu eine Käseauswahl, die dem Tempel über der Stadt alle Ehre gemacht hätte, ja sogar eine Mühle, in der man Getreide frisch mahlen kann (das überraschend gut schmeckt).

Draussen schneeregnet es weiter. Im Kunstmuseum, einer byzantinischen Villa mit prachtvollen Mosaikparkettböden, ist es trocken, warm und luxuriös leer. Ein Herr von Planta hat das Haus vor hundertdreissig Jahren für sich bauen lassen. Heute ist in den oberen Räumen eine kleine, feine Sammlung von Giacomettis, Segantinis etc. untergebracht.

Im Keller, der modernen Version eines altägyptischen Grabs, werden wechselnde Ausstellungen gezeigt. Die strengen, weissen Kammern mit ihren anthrazitfarbenen Durchgängen fügen sich zu einem sakralen Ausstellungsort, der es dem Besucher leicht macht, sich zu sammeln. Auf der Strasse erinnere ich mich an den Satz «Der Weg ist das Ziel» und geniesse es, wie schön er im Dialekt der Einheimischen klingt.

Romantik-Hotel «Stern»: EZ mit Frühstück 110-145 Fr.; DZ 190-250 Fr. (nach Angeboten fragen).

Restaurant «Basilic»: Susenbühlstrasse 43; So/Mo geschlossen.

Conditorei «Merz»: Bahnhofstrasse 22; So geschlossen.

Kunstmuseum: Postplatz; Mo geschlossen.


Mittwoch, 2o.3.2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich

Dort, wo das Lied spielt

Da gibt es nichts zu versäumen: Guggisberg, sein Lied und sein «Sternen».

Von Matthias Zschokke

Guggisberg habe ich immer für eine poetische Erfindung gehalten. Ein Wort, das ins schöne, alte, traurige Volkslied gehört, das wir Schweizer im Ausland anstimmen, wenn wir die Herzen empfindsamer Menschen erreichen wollen: das Vreneli-Lied. (Philipp Hössli* zum Beispiel, ein Naturbub aus Graubünden, verdrehte damit in Berlin vor hundertachtzig Jahren Bettina von Arnim den Kopf.)

Manchmal packt mich das Bedürfnis nach Ursprünglichkeit. Dann fahre ich ans Meer, wo es noch unberührt zu sein verspricht, ins Gebirge, wo es besonders schwer zu erreichen ist, zuhinterst in ein Tal, auf eine abgelegene Alp, ans Ufer eines verwunschenen Flüssleins - um dort auf ganze Horden von anderen zu treffen, die wie ich nach dem Echten suchen. Das heilt mich jeweils für eine Weile von meiner Sehnsucht.

Als ich erfuhr, dass Guggisberg existiert, überfiel sie mich wieder einmal. Ich packte den Koffer und fuhr los. Es ist ein Dorf im Schwarzenburgerland, einer Art Schweiz zwischen den Stühlen, nicht Berg, nicht Tal, nicht See. Der im Lied besungene «Simeliberg» heisst im Original Guggershorn und ist ein nackter Nagelfluhfels, der wie eine Warze aus dem hügeligen Grasland sticht; ein schmaler Grat wie der Kamm auf dem Kopf eines Leguans. Vom Dorf führt ein steiler, halbstündiger Weg hinauf. Oben ist eine Plattform, von der aus man rundherum schauen kann, übers gesamte Mittelland, vom Jura bis zu den Alpen.

Im Dorf selbst steht seit Jahrhunderten ein behäbiges Schindelhaus, das Hotel «Sternen». Der letzte grosse Sturm («Lothar») hat dessen Gästetrakt eingedrückt. Er wurde abgerissen und neu errichtet. Die paar Zimmer, alle mit Balkon und prächtiger Aussicht, sind schön geworden. Sie bieten Platz, Licht, Luft und Ruhe. Auf der Wiese davor, die in die freie Natur übergeht, plätschert ein Brunnen. In der Ferne stehen Berge, hinter denen am Abend die Sonne untergeht. Nachts glitzern aus dem Tal Lichter von Häusern empor. Am linken Fensterrand steht die Dorfkirche, deren Glocken nicht zu laut und nicht zu leise die langsam vergehende Zeit schlagen. Vor den kleinen, geschindelten Bauernhöfen rundherum dampft Mist. In den Ställen stehen Kühe und schauen aus der warmen Dunkelheit hinaus. Der Wind weht. Alte Plakate von vergangenen Saujasseten flattern am Feuerwehrhäuschen («freundlich laden ein: Unteroffiziersverein Gürbetal und die Wirtin, Barbara Trachsel»). Das Wasser auf dem Teich daneben kräuselt sich.

Das Klima ist unwirtlich. Der Jahresbericht des lokalen Turnvereins liest sich wie eine Klage darüber. Eine Veranstaltung fiel aus wegen zu viel Regen, die nächste wegen zu wenig Schnee, die dritte wegen zu viel Trockenheit, die vierte wegen zu starkem Wind. In der Vergangenheit kam es oft zu witterungsbedingten Hungersnöten. Die Einheimischen wanderten in Scharen aus und sangen Übersee ihr Lied in Moll.

Die Landschaft ist nicht lieblich gewellt, eher struppig zerknittert. Die Wege führen steil hinauf und hinab. Da und dort steht eine Holzbank am Hang, gestiftet von einem Frauenverein oder einem heimwehkranken Australienauswanderer. Man setzt sich drauf, schaut über die verworfenen, mageren Wiesen und Äcker in die Ferne; sitzt da, hört eine Kuh muhen, eine Melkmaschine brummen. Folgt man den Geräuschen, entdeckt man einen Bauern, der im Stall hinter seinen Kühen auf einem Bänklein an der Wand sitzt und vor sich hin schaut. Neben dem Bauern sitzt eine Katze auf dem Boden und leckt sich das Maul; sie wartet auf Milch. Man schaut den beiden durch die oben geöffnete Halbtür zu. Ein Hund beobachtet einen dabei, ohne einen Laut von sich zu geben oder gar aufzustehen. Man spaziert langsam zurück in den «Sternen», setzt sich an einen der uralten, seidenglatt polierten Klostertische. Das fahle Licht der Energiesparlampen stimmt einen trübsinnig (eine Pest, diese Energiesparbirnen). Das Essen wird aufgetragen, grosse Portionen, frisch und ehrlich gekocht, souverän geradeaus: Gemüse schmeckt nach Gemüse, Fleisch nach Fleisch, Kartoffelstock nach Kartoffelstock. Die Bedienung freut sich, dass sie etwas zu tun hat. Wenn man fertig gegessen hat, freut sie sich, dass sie nichts mehr zu tun hat. Nicht dass ich sie zu einem Hansjoggeli oder Vreneli verklären möchte, aber mindestens benimmt sie sich wie jemand, der nicht einsieht, warum er sich im einundzwanzigsten Jahrhundert anders benehmen soll als im siebzehnten.

Um halb neun geht man in sein Zimmer. Da es nichts zu versäumen gibt, legt man sich ins Bett und schläft ein. Am nächsten Morgen erwacht man, der Brunnen plätschert, man kann weiterhin nichts versäumen, schläft also noch einmal ein. Wer will, kann im Postauto nach Thun, Bern oder Freiburg fahren und sich dort Sehenswürdigkeiten anschauen. Man kann aber auch in Guggisberg bleiben, ein wenig umhergehen, sich auf eine Bank setzen, übers Land schauen - und einnicken. Nichts treibt einen, nichts hält einen, da ist bloss dieses Lied in der Luft . . . (Für diejenigen, die es nicht kennen, hier dessen Schluss: «Dört unden i der Tiefi / da steit es Mülirad / Das mahlet nüt als Liebi / die Nacht und auch den Tag / Das Mülirad isch broche / mys Lyd, das het es Änd».)

Hotel Sternen, Tel. 031 736 10 10: DZ inkl. Frühstück 170 Fr., ab 2 Nächten 150 Fr.
* Nachzulesen in «Ist Dir bange vor meiner Liebe?», Bettina von Arnims Briefwechsel mit Philipp Hössli, Insel-Verlag.






Mittwoch, 1o. April 2002
Tages-Anzeiger/ Zürich

Wo einst Tim und Struppi abstiegen

Im Genfer Hotel «Cornavin» rieselt der Staub, aber die Aussicht ist unvergleichlich, und man fühlt sich dort wie auf einer grossen Fahrt.

Von Matthias Zschokke

Es gibt Orte, an denen man sich schnell zu Hause fühlt. Genf gehört nicht zu ihnen: eine zerfetzte, mittelgrosse Provinzstadt, ein winziges Marseille, wenn man den See als Meer nimmt. In den Strassen wimmelt es von Fremden unterschiedlichster Nationalität und Farbe. Armut sticht in die Nase, Kleinkriminalität findet vor aller Augen statt, überwältigender Luxus quillt aus den Ecken, Maseratis gleiten vorüber, Damen mit schwarzen Dienern im Gefolge, kirgisische Kindermädchen, millionenteurer Schmuck liegt in Vitrinen neben speckigen Bistros, ranzigen Cafés und opulenten Brasserien - das Ganze eine einzige städtebauliche Katastrophe, eine Mischung aus Boston, Nizza und Rapperswil.

Direkt neben dem Bahnhof steht das Hotel «Cornavin», ein Begriff für «Tim und Struppi»-Leser (Professor Balduin Bienlein steigt im «Fall Bienlein» hier ab). Es hat neun Stockwerke. Die drei obersten sind verglast. Bekommt man dort ein Zimmer, geniesst man durch die wandhohen Fenster eine imposante Aussicht, entweder über den internationalen Bahnhof mit seinen Gleisen und den ein- und ausfahrenden Zügen oder über den Bahnhofvorplatz, eine grandios verunglückte Gerümpelhalde voller Verkehr, dem man stundenlang zuschauen kann.

Eine Sorte Film, die ich besonders mag, spielt in New Yorks gehobener Geschäftswelt. Manchmal übernimmt Michael Douglas die Hauptrolle. Dann tritt er in der Eröffnungsszene frühmorgens, wie aus dem Ei gepellt, ins Entree seines Penthouses, wo ihn eine farbige Angestellte mit einer Tasse Espresso erwartet. Mit einer unüberbietbar traurigen Geste schlägt er seine Krawatte über die linke Schulter nach hinten, um sie vor Tropfen zu schützen, ergreift das Tässchen, führt es an den Mund, wobei er den linken Handrücken schicksalsergeben darunter hält, schiebt sein Kinn vor, schlürft den Kaffee, stellt das Tässchen zurück und eilt an die Arbeit - ein Auftritt, der sich mir für alle Zeiten eingebrannt hat. Im «Cornavin» kann man solchen Geschäftsleuten morgens im Lift begegnen. Stark parfümiert stehen sie da und recken das Kinn in die Luft, um die wund rasierten Stellen nicht allzu heftig am Hemdkragen zu scheuern. Unmerklich schwanken sie im Rhythmus des Aufzugs hin und her, schlaftrunken, mit abwesenden, geröteten Augen. Im achten Stock betreten sie den verglasten Frühstücksraum, setzen sich an das gedeckte Brett, das der gesamten Fensterfront entlang montiert ist, werfen ihre Krawatten links über die Schulter und schauen vor sich hin, nebeneinander aufgereiht wie Möwen auf einem Brückengeländer oder wie das liebe Vieh vor dem Trog.

Mit in die Ferne gerichtetem Blick - über die Dächer der Stadt, auf die Berge oder direkt vor sich auf die Bergdohlen, die den Glasaufbau umkreisen - beginnen sie ihre Brötchen zu kauen, halten, wenn sie die Tasse an den Mund führen, den linken Handrücken drunter und warten darauf, dass entweder die Landschaft draussen oder sie selbst drin umgehend geschüttelt werden, auf dass künstlicher Schnee aufwirble und sanft vor ihren Augen zu rieseln beginne.

Ausser diesen Geschäftsleuten mit den zurückgeklappten Krawatten warten noch Japaner auf das Wunder mit dem Schnee, Engländer, Amerikaner und Finsterlinge aus dem Reich des Bösen, die schon zu Zeiten von Tim und Struppi hier abgestiegen sind und im «Fall Bienlein» dann und wann fluchend «par les moustaches de Plekszy-Gladz!» zwischen den Zähnen hervorgestossen haben.

Gründe zu fluchen gibt es genug. Da wäre einmal das Frühstück, das nichts taugt. Oder die Zimmermädchen, die zur Erkenntnis gekommen zu sein scheinen, im Leben gäbe es Wichtigeres zu tun als aufzuräumen oder zu putzen. (Wenn in einer Zimmerecke etwas zu Boden fällt, steigt dort eine anmutige Staubwolke auf, ähnlich der aus Schnee, auf die man im Frühstücksraum wartet.)

Oder die Dusche, die einen eher in britischen Nebel hüllt als dass sie einen nass macht. Oder die jungen Frauen an der Réception, die störrisch vor sich hingucken und auf nichts eine Antwort geben. (Um zu testen, ob sie das aus Widerborstigkeit tun, frage ich schliesslich nach dem Bahnhof. «Voilà», sagt eine, deutet mit dem Finger auf die Fassade gegenüber und gibt damit zu erkennen, dass sies nicht prinzipiell böse meint.)

Und doch, beim Schnurrbart des Plekszy-Gladz, dies ist ein Hotel, das ich jedem empfehle. Die Zimmer sind hell, geräumig, geschmackvoll eingerichtet und intelligent ausgestattet. Die Aussicht, die sie bieten, ist unvergleichlich. Und man fühlt sich in ihnen, obwohl mitten im Herzen der westlichen Welt, sehr weit weg, auf grosser Fahrt.

Weshalb man sich aber nach Genf aufmachen soll? Zum Beispiel um eine der schönsten Saunen zu besuchen, die ich kenne, mitten im See, in den man auch im tiefsten Winter nach jedem Gang hineinspringen kann, um sein Fernweh abzukühlen und sich nach Sibirien versetzt zu fühlen. Oder auch nur wegen des mächtigen Springbrunnens im Wasser, der, von nahem betrachtet, überwältigend ist.

Hotel Cornavin: Gare de Cornavin, Tel. 022 716 12 12; DZ. o. F. 270-450 Fr.

Sauna: Bains des pâquis, Tel. 022 732 29 74, tägl. 10-20.30 Uhr, Di nur für Frauen, sonst gemischt; Eintritt 12 Fr.





Mittwoch, 15. Mai 2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich

Schweizer (Hotel-)Geschichten – Grenchen oder die Crux mit der dritten Titte¹

Konfrontationstherapie in Grenchen: Im Hotel «Krebs» übernachten und mit Rentnern auf den Ausflugsberg fahren, wo prächtig die Magerwiesen blühen.

Von Matthias Zschokke

In letzter Zeit überfällt mich beim Besteigen von Schweizer Zügen ein Gefühl der Lähmung. Wo immer ich hinwill, lauert todsicher Grenchen am Weg und wirft sich in Form von -Nord oder -Süd vor die Lokomotive, um sie zum Halten zu zwingen. Nachdem neuerdings auch noch Oensingen mit diesem Unfug angefangen hat, entschloss ich mich zu einer Konfrontationstherapie (auch Flooding genannt): Der Patient wird dem angstauslösenden Reiz so lange ausgesetzt, bis die Angstreaktion auf Grund von Habituation (Gewöhnung) nachlässt. Ein Aufenthalt in Grenchen also.

Das «Krebs» erinnert an jene Hotels, die in den Sechzigerjahren an Italiens Küsten in dritter oder vierter Reihe errichtet worden sind. Der Unterschied ist, dass sich einem hier, wenn man die Strassen hinuntergeht, nicht ein Sandstrand eröffnet, sondern ein Industriegürtel, hinter dem nicht das Mittelmeer liegt, sondern flaches Land.

Samstags und sonntags macht das Haus einen verwaisten Eindruck; das dazugehörige Restaurant ist geschlossen. Der Zimmerschlüssel liegt im Milchkasten, daneben ein freundlicher, handgeschriebener Begrüssungszettel von Frau Blümli. Das Zimmer ist frisch renoviert und hell. Die Balkontür führt auf eine kleine Dachterrasse. Auf dem Tisch steht eine Flasche Valser-Wasser. Im Bad empfangen einen wie früher die appetitlich abgepackten Maja-Seifen. Die Sechzigerjahrewanne ist nicht ausgetauscht worden. Sie lädt tief und zuverlässig ein, sich in sie zu legen. Durch die Fenster scheint die Abendsonne. Links sieht man schneebedeckte Alpen. Rechts erhebt sich ein struppiger Hügel, der Grenchenberg. Geradeaus steht eine Kirche. Luxus? Ein helles, ruhiges, sauberes Zimmer mit Dachterrasse, ein Farbfernseher, ein Föhn, keine störenden Nachbarn, kein anstrengendes Begrüssungszeremoniell, nichts als Ruhe und alle Zeit zum Vergeuden.

Auf dem Bildschirm dreht ein roter Ferrari eintönig seine Runden, während woanders der weisse Russe Vitali Klitschko mechanisch auf das verquollene Gesicht eines Schwarzen einboxt. Draussen, neben dem Hoteleingang, liegt eine Buchhandlung im Sterben (Totalausverkauf). Ein paar Schritte weiter stirbt ein Designermöbelhaus (Liquidation; Le Corbusier zum Selbstkostenpreis).

Da das für seine gute Küche bekannte «Krebs» geschlossen hat, gehe ich in eine Pizzeria und esse Fleisch, das in einer roten Sauce schwimmt, deren Geschmack ich als Kind mochte. Dann gehe ich Strassen auf und ab, schliesslich ins Kino. Ein grosser Saal mit tiefen, weit auseinander stehenden Sesseln. In den hinteren Reihen sitzen ein paar Einheimische. Es wird ein frauenfreier Spionagefilm aus Amerika gezeigt. Robert Redford spielt die Hauptrolle, deutsch synchronisiert. Ein ziemliches Durcheinander; etliche Meter von dem belichteten Material scheinen verloren gegangen zu sein. Plötzlich taucht als Überraschung dann doch noch eine Geliebte auf, die aber besser auch von einem Mann gespielt worden wäre.

«Ihr Vorschlag ist so überflüssig wie eine dritte Titte», wird Robert Redford einmal von seinem Gegenspieler zurechtgewiesen. Er kontert mit viel sagendem Lächeln: «Kommt darauf an, was Sie mit den andern beiden anstellen.» Ich kann mich im Kino nie des Eindrucks erwehren, persönlich gemeint zu sein. Hier zum Beispiel wird ganz eindeutig mein Abstecher nach Grenchen verhandelt. Die Vermutung, Robert Redford wüsste mehr damit anzufangen als ich, setzt sich in mir fest.

Der einzige Gast, der ausser mir im Hotel übernachtet, ist ein Sohn, der seinen Vater im Altenheim besucht. Er sitzt beim Frühstück drei Tische von mir entfernt. Wir erschrecken einander mit dem entsetzlichen Geräusch, das die zugeschweissten Deckel verursachen, wenn sie von der Floralp-Butterportionenpackung heruntergerissen werden. Dann und wann fällt draussen auf der Strasse eine Autotür sonntäglich ins Schloss.

Um neun fährt der Bus auf den Grenchenberg. Rentner in fröhlichfarbenen Windjacken sitzen drin und warten. In den Händen halten sie ineinander geschobene Teleskop-Skistöcke aus Leichtmetall. An der Endstation steigen wir alle aus. Der Berg ist nicht hoch, aber oben leer gefegt vom Wind. Eine endlose Magerwiese breitet sich aus, übersät mit gelben, weissen und lila Frühlingsblumen; eine Pracht. Auf der einen Seite bricht die Ebene jäh ab. Es geht senkrecht eine Felswand hinunter. Am Rand wird einem schwindlig; man wähnt sich im Gebirge.

Zurück im Städtchen gehe ich in die Konditorei Rüegsegger mit der kantonal anerkannt besten Solothurner Torte (die man nicht zu kennen braucht; wesentlicher sind die «Meitschibei»). Im Hotelzimmer fährt immer noch der rote Ferrari vorneweg und Klitschko haut auf das inzwischen zermatschte Gesicht. Im Pfarreizentrum Selzach findet die Schweizer Meisterschaft im Armdrücken statt, samstags links, sonntags rechts. Auf rechts habe ich keine Lust.

Da das Hotelrestaurant immer noch geschlossen hat, nehme ich den Zug und fahre ins fünfzehn Minuten entfernte Biel. Das Bahnhofsbuffet dort ist liebenswert verstaubt und unbeholfen. Es macht Freude, darin auf der Galerie zu sitzen, zu essen und an ein Hotelbett zu denken.

Ob das Flooding erfolgreich war und ich den nächsten Halt in Grenchen besser ertragen werde? Möglicherweise fällt mir immerhin die dritte Titte ein und lenkt mich ab.

Hotel «Krebs», Bettlachstrasse 29, Tel. 032 652 29 52. DZ m. F. 130-160 Fr., EZ m. F. 75-110 Fr.






Mittwoch, 12. Juni 2002
Tages-Anzeiger/ Zürich

Der Alpenkranz für dich allein

Das «Bella Tola» im Walliser Dorf St-Luc ist eines der ältesten Gebirgs-Grand-hotels. Dort überfällt einen, wie selten, fieberhafte Lust, die Koffer zu leeren.

Von Matthias Zschokke

Das Val d’Anniviers im Wallis ist längst kein Geheimtipp mehr. Früher lebten hier Bergbauern, von deren Kultur noch Reste zu besichtigen sind - schwarze Holzschober auf Pfählen mit Kupferkesseln davor, Hörner, Schädel und Felle von erjagtem Bergvieh an getäfelten Wänden, da und dort eine künstlich angelegte Bewässerungsrinne nebst Mühlrad.

Ein Dorf, am Südhang des Tals gelegen, sechzehnhundertfünfzig Meter über dem Meer, heisst St-Luc. Vor bald hundertfünfzig Jahren wurde hier eines der ersten Gebirgs-Grandhotels erbaut. Das Wort «Grand» ist nicht ganz passend, aber das Hotel macht Freude. Seine Dielen knarren, winzige Balkönchen hängen windschief vor der vanillefarbenen Fassade, himmelblaue Fensterläden baumeln verwittert in den Scharnieren. Alles wirkt hinfällig, funktioniert jedoch im Detail mustergültig. Die Bettwäsche ist rein und steif wie in allerersten Häusern, die Matratzen stimmen, die Heizung arbeitet vorbildlich, das Bad bietet, was immer man sich von einem Bad nur wünschen kann. Und überall stehen alte Möbel herum. Es kommt selten vor, dass ich meine Koffer leere; hier überfiel mich geradezu fieberhafte Lust, alles auszupacken und in Schubladen zu räumen.

Unten im Haus befinden sich antik eingerichtete Gesellschaftsräume und ein kleiner Festsaal mit schönem Parkett und Deckengemälden. Zur Teezeit brennt im Salon ein Kaminfeuer - ein rundherum sympathisches Haus, angenehm geführt von einem Ehepaar, das den Gast in Ruhe zu lassen versteht und trotzdem immer da ist, wenn er etwas braucht.

Puristen mögen vom Einrichtungsstil vielleicht etwas zu stark an die geliftete Romantik von Laura Ashley erinnert werden, aber das ist Geschmackssache. Ebenso wie die Schalen voller mit ätherischen Ölen getränkter Hobelspäne und getrockneter Blüten, welche den Raumduft dominieren. Ich halte diese Mode für eine Verirrung, ähnlich der, Streudosen voller Geschmacksverstärker auf Restauranttische zu stellen. Zumal die Luft, die hier oben durch die Fenster hereinströmt, dermassen gut riecht, dass es eine Sünde ist, sie mit Parfüm zuzudecken. Wobei das mit der Luft in den Schweizer Bergen so eine Sache ist: Immer wieder wird man als argloser Tourist dazu gezwungen, diese zu schätzen und zu loben - was für eine Luft! atmen Sie! das bekommen Sie bei sich zu Hause bestimmt nicht so schnell wieder geboten! -, sodass viele für den Rest ihres Lebens die Nase voll haben und allergisch auf würzige Gebirgsluft reagieren.

St-Luc ist im Winter ein Ziel für Skifahrer, im Sommer und Herbst eins für Wanderer. Wer weder das eine noch das andere ist und sich davor fürchtet, während der Saison als Spielverderber und Miesepeter unangenehm aufzufallen, dem sei der Frühsommer empfohlen.

Da hat man das Hotel ganz für sich allein, kann sich vor seinem Zimmer ungeniert auf den wackeligen Balkon in die Sonne setzen und lesen, das ausgestorbene Dorf zu seinen Füssen - rundherum nichts als Stille. Die Wanderwege sind verschlammt, die Pisten kahl. Man braucht sich weder um die einen noch um die anderen zu kümmern, kann gleichmütig hinter dem Postauto hertrotten, die trockene Strasse hinauf zum nächsten Dörfchen, wo ebenfalls alles wie ausgestorben wirkt. Dort setzt man sich auf die Bank vor dem geschlossenen Skiverleih, wartet in der Sonne, bis das Postauto zurückfährt. Unten setzt man sich wieder auf den Balkon in die Stille, nicht einmal Vogelgezwitscher stört, nur das Schmelzwasser rieselt. Gehüllt in den grossen, weissen, hoteleigenen Frotteebademantel sitzt man warm da und liest.

Abends geht man ins einzige Restaurant, das geöffnet hat, ein Berggasthof, in dem trübsinnige Musik aus Deckenlautsprechern läuft, Radio Swiss Pop. Hier wird einem gemischter Salat vorgesetzt, den es sonst nur noch ganz selten gibt, diese bunten Schnipsel mit Maiskörnern oben drüber, vollgesaugt mit der bleichen, dicken Tunke, von der ich nie herausgefunden habe, wo es sie zu kaufen gibt. Danach folgt ein fabelhaftes Käsefondue, berieselt von dieser traurigsten aller traurigen Hintergrundmusiken.

Was für eine grandios würgende Trostlosigkeit, wenn draussen vor dem Fenster, auf Augenhöhe fast, dann auch noch die weissen Berggipfel vis-à-vis sich langsam blau verfärben, kurz rosa aufglühen, verglimmen und in petroliger Schwärze versinken, während kein Laut zu hören ist, nur diese Musik und das Schlurfen des kummervollen Wirts, der an den Tisch tritt und nach weiteren Wünschen fragt, lauernd, weil er fürchtet, sie nicht erfüllen zu können, weswegen man keine mehr wagt anzumelden, zumal einem sowieso längst jegliches Wünschen vergangen ist. Das alles hat Grösse, die Wucht der Ausweglosigkeit. Vielleicht sind die Berge schuld daran, die so unverrückbar mächtig dastehen, die Sicht verstellen und jeden dazu zwingen, sie anzustarren.

Reisen neben der Saison ist zu empfehlen. Was für ein königliches Gefühl, allein in einem Grandhotel zu frühstücken, von der Katze des Hauses umschmeichelt; allein in einem Postauto zu sitzen, privat chauffiert; allein in einer Gaststube Swiss Pop zu hören und sich Fondue auftragen zu lassen; einen ganzen Alpenkranz für sich allein zu haben, ihn mit niemandem teilen zu müssen; und alles so grossartig still um einen herum, dass man den chinesischen Fluch zu begreifen beginnt: Möge dein Leben interessant sein.

Grandhotel «Bella Tola», St-Luc, Tel. 027 475 14 44, Fax 027 475 29 98. Ausgezeichnet als «Das historische Hotel des Jahres 2001». Zimmer mit Frühstück zwischen 95 Fr. und 180 Fr. pro Person (saisonbedingt und je nach Aussicht).





Mittwoch, 18. September 2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich

Mitspielen auf der Klaviatur des Luxus

Von Matthias Zschokke

Das Zürcher „Baur au Lac“, in einem alten Garten am See gelegen, ist neben dem Pariser „Ritz“ und dem Londoner „Dorchester“ gerade wieder von einer amerikanischen Jury zum Europäischen Hotel des Jahres gewählt worden.

Um auf der Klaviatur des Luxus spielen zu können, muss man dessen Regeln beherrschen. Das beginnt bei der Ankunft. Wer sich nicht auskennt, fährt im Taxi vor und verscherzt sich damit den perfekten Empfang. Der Portier schaut durch die staubigen Scheiben ins Innere des zweifelhaften Gefährts und hebt fragend die Augenbrauen. Er weiss nicht, handelt es sich bei der Person im Fond um einen Gast, dem er den Schlag öffnen soll, oder bloss um einen neugierigen Touristen, der sich zeigen lassen will, wo „die Reichen“ absteigen. Der Taxifahrer deutet heftig nickend abwechslungsweise mit dem Daumen auf seinen Kunden und mit dem Zeigefinger aufs Eingangsportal. Der Portier setzt sich also in Bewegung, doch zu spät, denn der verunsicherte Gast hat seine Tür inzwischen selbst geöffnet und ist ausgestiegen. Der Portier wendet sich ab, wedelt unauffällig mit der linken Hand, worauf zwei Kofferträger aus dem Hintergrund schiessen und sich ums Gepäck kümmern. Der Gast klaubt Geld hervor für den Fahrer, will gleichzeitig den Trägern etwas in die Hand drücken, die sind aber bereits verschwunden. Er reicht die Münze dem Portier, der behält sie irritiert in der Hand und versetzt mit der anderen dem Drehportal einen leichten Stoss, worauf dieses den Ankömmling mit Schwung vor die Rezeption schaufelt, hinter welcher dunkel gekleidete Herren stehen, die das heillose Gestolper wenig amüsiert verfolgt haben und dem dafür Verantwortlichen nun das Anmeldeformular entsprechend kühl vorlegen, um sich so schnell wie möglich von ihm ab- und wieder wichtigeren Dingen zuwenden zu können.

Damit ihnen das nicht passiert, lassen sich Kenner im hoteleigenen Wagen vom Flughafen oder von der Bahn abholen. Das ist zwar teurer, aber sie machen auf diese Weise vom ersten Moment an unmissverständlich klar, dass sie dazu gehören.

Während ich mich eintrage, fällt mein Blick auf ein Blumenarrangement in der schattigen Hotelhalle. Es ist von solch majestätischer Pracht und Wucht, dass ich unwillkürlich vom „ich“ ins „wir“ verfalle.

Ein junger Herr begleitet uns aufs Zimmer. Unterwegs erklärt er in kurzen Zügen das Haus: Fitnesscenter auf dem Dach; eine kurze Visite empfehle sich; die Aussicht sei atemberaubend; zum Abendessen in Krawatte und Jackett erwarte uns das Gartenrestaurant „Le Pavillon“; falls wir es vorzögen, mit geöffnetem Hemdkragen zu speisen, fänden wir auf der Rückseite des Hauses das „rive gauche“, dessen Küche der des „Pavillon“ in nichts nachstehe.

Der junge Herr öffnet die gepanzerte Tür zu unserem Zimmer, in dem es kühl, schummrig und totenstill ist. Durch die zugezogenen Vorhänge schimmert schwach das Tageslicht. Auffallend ist die fast klinische Klarheit, die der Raum ausstrahlt, beinahe so etwas wie Leere. Nichts lenkt ab. Keine Flasche Mineralwasser zur Begrüssung, kein Obstteller, kein Billet, auf welchem der Gast blumig Willkommen geheissen wird. Alles ist ganz blank, wie neu, bereit, zum ersten Mal benutzt zu werden.

Der junge Herr legt den Zimmerschlüssel auf den Tisch und zieht sich zurück. Allein gelassen öffnen wir die Balkontür. Den hereindringenden Strassenlärm und die Abgasschwaden kennen wir von preiswerteren Unterkünften, schliessen daher die Tür rasch wieder und suchen die Hotelhalle auf.

Leider ist deren hohe, durchsichtige Kuppel ersetzt worden durch einen flachen Milchglasplafond, der einen leicht gedeckelten Eindruck entstehen lässt. Die Sessel hingegen bereiten uneingeschränktes Vergnügen; weder versinkt man darin, noch sitzt man steif wie eine Blockflötenlehrerin – man ruht und entspannt. Zum Aperitif bitten wir den Garçon um eine Zeitung, worauf er uns freundlich erklärt, wo wir den Kiosk finden und uns selbst eine kaufen können. Fünfsterngäste scheinen abgefingerte, zerlesene Zeitungen zu verabscheuen und es vorzuziehen, sich zwischendurch etwas die Beine zu vertreten und ihr persönliches Exemplar selbst zu besorgen.

Der Garten, ein Park eher, erstreckt sich vom Hotel bis zum See, von dem er nur durch eine Strasse getrennt ist. Rechts wird er vom Schanzengraben, einem verträumten Kanal, begrenzt. An Sommersonntagen werden auf dem Rasen unter den Bäumen weiss gedeckte Tische und weisse Sonnenschirme verteilt, und es gibt einen in der Stadt berühmten Brunch – eine makellose Inszenierung von Unbeschwertheit, Schönheit und gehobener Lebensart.

Am Kanal liegt auch „Le Pavillon“, ein länglich luftiger Bau mit Rotunde, rundum verglast mit Fenstern, die sich herunterkurbeln lassen. Das Dach wird bei Sonnenschein mit Wasser berieselt und dadurch darunter ein optimales Klima erzeugt. Das ganze Ambiente erinnert an das alter Seebäder – ohne Frage eine der attraktivsten Adressen in der sommerlichen Stadt.

Da es tropisch heiss ist, ziehen wir vor, auf Jackett und Krawatte zu verzichten und im „rive gauche“ essen zu gehen, ein nicht weniger grosszügig möblierter, brasserieartiger Saal, ein wenig versteckt gelegen, so dass er nicht von Laufkundschaft überrannt wird. Die stattlichen Preise tragen das ihre dazu bei, dass Gäste hier kaum in die Verlegenheit geraten, links und rechts von lautfröhlichen Schmausern eingekeilt zu werden.

Ohne von Musik aus Deckenlautsprechern belästigt zu werden, geniessen wir die kühle Stille. Nur das Entree lässt uns hell auflachen: Octopuscarpaccio. Es besteht aus dem Tentakelchen eines Babytintenfischs, welches mit einem Trüffelhobel zu feinen Scheibchen geschabt hübsch über den Teller verstreut ist; begleitet wird es von einer Sauce, deren Namen wir auf der Stelle vergessen, weil wir sie weder entdecken noch schmecken können; dazu gibt es ein Kügelchen Avocadomousse von der Grösse einer Sprüngli-Praline – eine Vorspeisenskizze für achtunddreissig Franken. Die Weine hingegen lassen uns verstummen. Sie sind vorbildlich kalkuliert und von einer Qualität, wie wir sie im Offenausschank so schnell mit Sicherheit nicht wieder finden werden.

Das Badezimmer ist nicht mit, sondern aus Marmor. Was immer wir uns wünschen ist da, und zwar an der richtigen Stelle. Das Wasser in der geräumigen Dusche fällt schwer und weich auf die Haut – wir möchten ewig darunter stehen bleiben. Und die Illumination! Nie haben wir gescheiter und schöner gesetztes Licht gesehen. Wer wissen möchte, wie Bäder konzipiert und ausgeführt sein sollten, der lasse sich im „Baur au Lac“ eines zeigen.

Die Klimaanlage im Zimmer arbeitet lautlos. Trotzdem wachen wir mitten in der Nacht schweissgebadet auf und überlegen, woran das liegen könnte. Wir machen Licht – was für ein schönes Licht! – und stellen verblüfft fest, daß wir unter einer Decke aus 100% Polyacryl liegen. Von ihr befreit legen wir uns erleichtert wieder hin, um nach kurzem das Licht ein zweites Mal anzuknipsen und weiter zu forschen nach dem Grund des unnatürlichen Hitzestaus. Wie staunen wir, als wir entdecken, dass wir auf einem gummierten Matratzenschoner liegen, wie man sie aus der modernen Geriatrie kennt, wo sie im Kampf gegen die Folgen seniler Inkontinenz eingesetzt werden. Vorsichtig, mit Respekt vor der Matratze, die so wertvoll ist, dass sie vor Abnutzung durch Gäste geschützt werden muss, legen wir uns ein drittes Mal hin, voller Freude auf das Frühstück im „Pavillon“.

Es enttäuscht nicht. Die Vögel zwitschern in den Bäumen, auf dem Kanal schwimmen Schwäne, Tisch- und Stuhlhöhen sind ideal aufeinander abgestimmt, die Fenster stehen offen, das Personal ist zuvorkommend, die Sonne scheint – ein Traum.

Ein amerikanischer Gast möchte mitträumen. Leider reichen seine Hosen nur gerade knapp bis unters Knie. Der Maître de service macht ihn darauf aufmerksam, dass solche Beinkleider ungeeignet sind zum Frühstücken. Der Amerikaner bezweifelt das und setzt sich mit seiner Frau an einen der herrschaftlich gedeckten Tische. Nichts geschieht; keine Bedienung weit und breit. Nach zehn Minuten beginnen die beiden, sich winkend bemerkbar zu machen. Wieder erscheint der Maître de service und besteht darauf, die Hose sei ihm ein Dorn im Auge. Der Amerikaner gerät durcheinander und fragt, was an ihnen denn so Unerhörtes dran sei, das seien Shorts. Obwohl ich mich selbst mit nackten Unterschenkeln nicht vor die Tür traue, bin auch ich überrascht von der Heftigkeit, mit der hier gegen kurze Hosen angekämpft wird. Schliesslich zieht das amerikanische Ehepaar konsterniert ab und trinkt seinen Juice irgendwo im Garten, unseren Blicken entzogen, hinter einem Busch. Bestimmt macht es sich Gedanken über die Idee vom Gast, welcher König ist, und über die starren Regeln, welche Könige offensichtlich zu befolgen haben.



Mittwoch, 9. Oktober 2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich



Himmlische Hinfälligkeit in Schaffhausen²

Eindrücke aus der Stadt am tosenden Rheinfall: von kulinarischen Oasen, von einem schlossartigen Hotel und einem Professor aus Zürich, der über Engel nachdenkt.

Von Matthias Zschokke

Für die Crème der europäischen Feinschmecker ist Schaffhausen ein Begriff. Hier, direkt am Rhein, liegt «The Die Le Fischerzunft», in der André Jaeger so legendäre Gerichte kreiert wie das «Feuilleté von der Zimttaube mit Gänselebermousse auf kleinem Ochsenmaulsalat und Vollkornzopf».

Wo ein Gipfel in den Himmel ragt, stehen andere meist nicht fern, siehe Alpen. Mindestens sechs Restaurants greifen in dem winzigen Städtchen zurzeit nach den Sternen. Aus Platzgründen erwähne ich nur die «Beckenburg». Kulinarisch ist sie mit dem erstgenannten Montblanc zwar nicht zu vergleichen, bietet aber all das, wonach sich der von der globalisierten Westendgastronomie zermürbte Zeitgenosse sehnt: Qualität, Ruhe, Platz, Ästhetik, aufmerksame Bedienung. Eine Oase der Entspannung.

Zum Übernachten lädt die «Park Villa» ein. Das alte Privatpalais liegt in einem verwunschenen Garten. Es bietet schlossartige Gemächer (Nr. 23, 19, 17, 29, 27), zum Teil mit Himmelbetten, Erker und Balkon. Daneben gibt es kleinere Zimmer, wohl ehemals die der Kinder des Hauses, und solche unterm Dach, Mädchenkammern ohne Bad. In meinem stand noch das Originalbett, eine echte Antiquität. Selbst in der Diagonalen gelang es mir nicht, mich ganz auszustrecken. Zusammengekringelt versuchte ich mir das Mädchen vorzustellen, das darin lag und entweder besonders zierlich gebaut gewesen sein musste oder halb im Sitzen schlief wie eine Königin oder eines der Modelle auf berühmten Aktbildern. Draussen im Park rauschten alte Bäume, im Zimmer nebenan stöhnte ein Mann im Schlaf, ein Bett ächzte. Gewiss, die Türen sind schallisoliert gepolstert; sie sehen aus wie weisse Kissen. Doch was hilft das gegen die im Schlager verewigte Frage «Wie soll er schlafen, durch die dünne Wand?».

Überall im Haus stehen Vasen voller Blumen. Nicht streng gesteckte, akkurat ausgerichtete Sträusse, eher zufällig geschnittene Stiele, Äste, Blüten, schwer duftend, beiläufig verteilt. Wackelige Statuetten lehnen in Ecken, Spiegel und Bilder hängen an den Wänden, alles nicht ganz rein im Stil, nachlässig gesammelt und drapiert, in ausgebleichten, zerkratzten Technicolorfarben. Der Salon ist mit Diwanen und Teppichen ausstaffiert. Er gleicht der verrumpelten Kopie eines Boudoirs aus d’Annunzios Villa am Gardasee oder dem Versuch eines Hollywood-Architekten, private Opiumorgien im Wiener Fin de Siècle auszustaffieren. Selbst das Vestibül macht einen lasziven Eindruck. Hier bekommt man abends Vanilleglace mit Ingwer und altem Whisky serviert, wobei die Bedienung den Whisky wie etwas Verruchtes in kleinsten Tropfenmengen übers Eis träufelt. Aus dem Hintergrund erklingt dazu gedämpft chinesische Musik, während Wachs von schief stehenden Kerzen auf verbogene Libertyständer hinunter rinnt.

Vor der Villa liegt ein Tennisplatz, der seit dem tragischen Untergang des Hauses Usher . . . Falsch. Der Platz befindet sich in einwandfreiem Zustand und kann nichts dafür, dass er hinfällig wirkt, als sei er Edgar Allan Poes Fantasie entsprungen.

Die Zimmer sind rein, die Frotteetücher weiss und schwer. Täglich steht frisches Obst auf den Tischen. Und ein Luxus besonderer Art: Morgens ab sechs liegt vor jeder Tür ein Exemplar der «Schaffhauser Nachrichten», einer der ältesten Schweizer Zeitungen (140. Jahrgang). Sie nennt sich im Untertitel «Schaffhauser Intelligenzblatt». Davon angestachelt, nahm ich mir vor, mich zu bilden. Die «Senioren-Universität» lud nachmittags ins Casino, wo ein Philosophieprofessor aus Zürich einen Vortrag hielt. Das Beste, was darüber gesagt werden kann, ist, dass der Professor in keiner Weise auffällig geworden ist durch ungewöhnliche Äusserungen. Im Gegenteil, der Vorwurf, während seiner «kurzen philosophischen Erinnerung an Engel» auch nur einen bemerkenswerten Gedanken ans Tageslicht befördert zu haben, würde an ihm aufs Entschiedenste abperlen. Die Senioren waren so freundlich, ihn trotzdem ausreden zu lassen.

Selten strömt der Rhein fetter und schöner als in Schaffhausen. Es bereitet wahre Lust, hier sein Ufer entlang abwärts zu spazieren. Das klare Wasser fliesst schnell und immer schneller. Es scheint sich auf etwas Kommendes zu freuen, kriegt vor lauter Aufregung Gänsehaut, beginnt zu rauschen, sich zu kräuseln, sich zu überschlagen, bildet Wirbel und Wellen - um sich, nach einer guten halben Stunde, mit schäumendem Getöse über ein paar Felsen in die Tiefe zu stürzen: der Rheinfall. Am schönsten ist er, wenn man vom Schloss Laufen her kommt. Das steht oberhalb auf einem Fels. Ein Fussweg, der zwischendurch grandiose Ausblicke bietet, schlängelt sich von da hinunter, manchmal beinahe mitten hinein ins dampfende, donnernde Geschehen. Unten angelangt, kann man mit einer Fähre auf die andere Seite übersetzen und von dort mit dem Stadtbus zurückfahren in die «Fischerzunft» zum «Zitronen-Thymian-Süppchen mit Erdbeeren und Bittermandelsorbet».

Hotel «Park Villa», Parkstrasse 18, Tel. 052 625 27 37; Doppelzimmer mit Frühstück 130–308 Fr.
«Die Fischerzunft», Rheinquai 8, Tel. 052 625 32 81.
«Beckenburg», Neustadt 1, Tel. 052 625 28 20.




Mittwoch, 20. November 2002
Tages-Anzeiger/ Zürich

Die Sucht nach dem Besonderen überwinden

Ascona wird von eingefleischten Reiseindividualisten gemieden. Der berühmte Kur- und Sterbeort bietet Schönheit für jedermann, Wucherpreise und das angenehm unprätentiöse Mövenpick-Hotel «Albergo Carcani».

Von Matthias Zschokke

Viele Schweizer haben sich mit Haut und Haar dem Diktat des Individualismus unterworfen. Ich bin selbst einer von ihnen und kenne das Leiden. Bei der Auswahl eines Restaurants, einer Lektüre, eines Films oder einer Hose verfahren wir stur nach dem Motto: wo man hingeht (was man liest, tut, trägt), da geht man nicht hin (das liest, tut, trägt man nicht). Unser Leben ist dementsprechend entbehrungsreich. Wir verpassen die besten Restaurants, die besten Bücher, Filme, Hosen, weil andere sie bereits für sich entdeckt haben. Wir umfahren Venedig, meiden die Pyramiden, wenden uns ab vom Schloss Neuschwanstein, um dafür Livorno, Ouagadougou und Schloss Thun aufzusuchen.

Manchmal, auf verregneten Ausfallstrassen in Rostock, wo es mich hinverschlagen hat, um nicht wie alle anderen auf St. Petersburg hereingefallen zu sein, regt sich in letzter Zeit leise der Zweifel: könnte es sein, dass Schönes schön ist, selbst wenn es von hunderttausend anderen auch dafür gehalten wird?

Zum Beispiel der mondäne Kur- und Sterbeort Ascona. Er liegt mitten im krausen, verwirrend hübschen Tessin, das von eingefleischten Reiseindividualisten spätestens seit den Fünfzigerjahren nur noch mit spitzen Fingern angefasst und an seinen äussersten Zipfeln, in hintersten Quertälern, betreten wird. Ascona ist gänzlich frei von jenen, die partout das Besondere suchen. Weltberühmt und satt posiert es auf einer Landzunge im Lago Maggiore, der Sonne serviert, die hier bis in den Winter hinein glühen kann, als sei ewiger Sommer. Alles quillt über, platzt aus den Nähten, ist aufgeheizt und leuchtet. Man versinkt in der strahlenden Fülle, über die sich blumigste Adjektive eimerweise auskippen liessen.

Um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, hier etwas besonders Lauschiges, Individuelles entdecken zu wollen, stieg ich im Mövenpick-Hotel «Albergo Carcani» ab. Es ist direkt an der Uferpromenade gelegen und erhebt keinerlei Anspruch auf Originalität. Die Mehrheit der Zimmer weist Richtung Süden. Viele haben einen Balkon. Alle sind gleich gross und ähnlich geschnitten. Kein Gast wird benachteiligt. Jeder bekommt Sonne und Ruhe, so viel er mag.

Die Zimmer sind durchdacht, sauber, hell und geräumig. Selbst die elastische Trockenleine, die sich der Länge nach über die Badewanne spannen lässt, fehlt erfreulicherweise nicht. Und ein besonderer Vorzug: Die Preise lassen einen ruhig schlafen. Sie erlauben es sogar, den geplanten Aufenthalt kurzfristig um einen Tag zu verlängern.

Anders im benachbarten Caférestaurant «Al Porto», wo der Kaffee so teuer war und so billig schmeckte, dass mir eher Gedanken an eine vorzeitige Abreise durch den Kopf schossen. Auch die Vermicelletorte machte keine Freude. Der Boden bestand aus braunem Schaumgummi, wie ihn Fliesenleger zum Arbeiten unter ihre Knie klemmen. Darauf war eine graue, feuchtkalte Paste verteilt, eine Mischung aus Lehm und Magerquark, die von der Kellnerin tapfer als Maronenpüree deklariert wurde. Die Kreation, gekrönt von einer weissen Spritzschaumhaube, ging als Spezialität des Hauses zu einem noch stolzeren Preis über die Theke als der Kaffee. Missvergnügt sass ich vor dem modrigen Kuchenkeil und starrte grübelnd auf das saure Grauen, das in der Tasse lauerte. Ich wandte mich von beidem ab und spazierte nach Ronco.

Es war, als sei ich in die Spielzeugkiste eines Zarewitsch gefallen. Oder als bewegte ich mich auf einer Opernbühne, und gleich fange das Orchester an zu spielen. Die Landschaft ist kolossal theatralisch. Zuerst führt der Weg auf den Monte Verità, ein Reservat, in dem Anfang des letzten Jahrhunderts Sinnsuche und Sonnenbad exerziert wurden. Mit wachsender Beklemmung versuchte ich, mir das dirigierte Freisein in den dafür errichteten Baracken vorzustellen.

Schaudernd verliess ich das Areal und ging den See entlang weiter, von einem hübschen Aussichtspunkt zum nächsten, die steil, manchmal senkrecht über dem glitzernden Wasserspiegel gelegen sind. Villen kleben am Hang, Palmen, Zypressen. Später gelangt man auf eine schmale, verkehrsarme Autostrasse, die sich durch Kastanien und Pinien schlängelt. Hier und da sind Garagen in den Fels gesprengt. Dunkle Limousinen stehen davor. Und immer mal wieder fällt eine kühne Konstruktion ins Auge, mit deren Hilfe Rollstühle von der Strasse in die Residenzen hinauf oder hinunter befördert werden können.

In Ronco lockt das Restaurant «Della Posta» mit einer spektakulären Terrasse, die über Palmen weg den Blick frei gibt auf das betörende Panorama. Hier ass ich die von der Bedienung empfohlenen Steinpilze. Sie waren ein wenig glibberig, aber sonst in Ordnung. Der Preis war es nicht. Er liess mich vermuten, achtlos ein ganzes Fuder Trüffel vertilgt zu haben. Der Chef in seinem kurzärmeligen Hemd erweckte nicht den Eindruck, Lust zu haben, sich mit mir auf eine Diskussion darüber einzulassen, ob seine Preisvorstellungen möglicherweise etwas unkonventionell seien.

Von der Wucherei gelangweilt, suchte ich abends in Ascona ein Restaurant in der zweiten Reihe auf, das «Antico Ristorante Borromeo». Ein Feuer, das dort im Kamin brannte, knisterte vertrauenerweckend. Doch niemand legte Holz nach. Ab halb neun glimmten nur noch spärlich letzte Reste, und ich spürte, dass es an der Zeit war, aufzubrechen. Wieder erblasste ich angesichts der Rechnung. Offenbar war hier mit bestem Baron de Rothschild gekocht worden, und ich hatte es nicht herausgeschmeckt. Unglücklich darüber, bezahlte ich und nahm mir vor, mich am folgenden Tag noch vorsichtiger durch die verminte Gastrolandschaft zu bewegen. Ohne Erfolg. Im «Della Carrà» regierte wieder ein kurzärmeliger Chef, der für seine Lappalie von einem Stück Fleisch nebst bröseliger Polenta eine solch astronomische Summe verlangte, dass ich nur noch den Hut ziehen konnte vor so viel Kühnheit.

Ich wünsche den verantwortlichen Wirten ein paar beherzte Gäste auf den Hals, die ihnen den Kopf zurechtrücken mögen. Sich von den kochenden Wegelagerern die Laune verderben zu lassen, wäre jedoch verkehrt. Man kann schliesslich im Mövenpick-Hotel bleiben und hier zu reellen Preisen entspannt das bestellen und essen, was man auch in Basel oder Bern bekommt. Später kann man durch die stillen Gässlein gehen, in die Bar «Al Torchio», in der man sozusagen mitten im mannshohen offenen Kamin sitzt - jetzt, im Winter, brennen abends in vielen öffentlichen Räumen die Kamine - und Modecocktails aus früheren Zeiten trinkt, frisch angerührt, nicht zu süss, gross, stark.

Langsam versinkt man in der wohligen Wärme, am Feuer, beginnt zu dämmern, erhebt sich, geht schlafen, tief und fest, wird am nächsten Morgen von den Wellen geweckt, die ans Ufer klatschen, hört Blätter der Platanen auf den Boden fallen, Wasservögel glucksen, später die Strassenstaubsauger dröhnen, dann elektrische Rollstühle surren, öffnet die Fensterläden und sieht den Nebel, der über dem See dampft. Für solch grosses, gelassenes Sterben sind die berühmten Orte berühmt, und das zu Recht.

«Albergo Carcani», Piazza Motta, Tel. 091 785 17 17 (bis 13. Dezember 2002 ferienhalber geschlossen).
DZ m. F. 180 Fr., EZ m. F. 90 Fr.
Bar «Al Torchio», Contrada Maggiore.





Mittwoch, 11. Dezember 2002
Tages-Anzeiger, Zürich


Ein Fleck Erde, der auch Gott am Herzen liegt

Auf dem Hasliberg im Berner Oberland schmeckt die Luft würzig, ist die Aussicht prächtig. Und Übernachten kann man in heimelig gedrungenen Zimmern der «Wirtschaft zur Post».

Von Matthias Zschokke

Der Hasliberg ist eine eigenartige Landschaft, nicht Gipfel, nicht Alp, nicht Hochebene, eher ein in die Länge gezogener Hang, der, je weiter man sich auf ihm fortbewegt, desto breiter wird und zuletzt eine beeindruckende Aussicht bietet auf Schneeberge (einer davon, das Wetterhorn, sieht geradezu gewaltig aus), Gletscher und den Brienzersee. Flache, breite Bauernhäuser stehen in Gruppen oder einzeln zwischen Bächen und Waldstreifen verstreut auf weiten, weich gewellten Wiesen.

In jedem zweiten Stall dampfen Kühe, nicht hochgezüchtete Milchproduzenten, sondern altmodische Tiere mit geraden Rücken und rosigen, kleinen Eutern. Gesprochen wird ein Dialekt, der so entzückend klingt, dass man meint, es mit lauter Schmutzlis zu tun zu haben.

Ohne sich die Nase von früh bis spät an der Eigernordwand blutig stossen zu müssen, steht man doch mitten drin im Berner Oberland und sieht gleichzeitig in die Ferne, in die Höhe und in die Tiefe. Die Luft schmeckt würzig; nachts ist es stockfinster; tagsüber fühlt man sich der Sonne näher als gewöhnlich - und zu allen vier Jahreszeiten bieten sich einem rundum Freizeitmöglichkeiten, die aus dem Fundus der Erinnerung zu stammen scheinen.

Die Einheimischen wissen um die Vorzüge ihres wenig verbauten, paradiesischen Reservats. In der Überzeugung, so ein Fleck Erde müsse Gott besonders am Herzen liegen, fühlen sie sich diesem sichtbar verpflichtet: in sämtliche Giebel der zum Teil Jahrhunderte alten Holzhäuser sind fromme Sprüche geschnitzt. Ein «von Gott bevollmächtigter und gesegneter Evangelist aus dem Emmental» und andere Seelengewinner halten in Heuschobern Vorträge zum Thema «Deine Sünde wird dich finden!» oder «Der Weg ist breit, der in die Verdammnis führt».

Jeder Fremde, der eine Stube betritt, haut sich erst einmal den Schädel ein am Querbalken des niedrigen Türrahmens, auf dem er dann benommen die Inschrift entziffert: «Auf Gott musst all din Absicht lenken / und an sin letztes End gedenken.»

Auf diese Weise lernt man rasch, sich zu ducken und demütig zu schreiten. Und bald schon ertappt man sich dabei, wie man beim Wandern rhythmisch «aus tiefster Not schrei ich zu dir» vor sich hin trällert.

Hotels gibt es sympathisch wenige. Irgendwie scheinen sich die Schmutzlis zusammengetan und erfolgreich gegen den Massentourismus gestemmt zu haben, ohne deswegen verschlossen oder gar abweisend zu wirken. Im Gegenteil, man fühlt sich als Gast gern gesehen und gut aufgehoben.

In einem der Weiler, in Goldern, steht die «Wirtschaft zur Post», ein uraltes, besonders schönes Holzhaus. Dort werden über der Gaststube gedrungene, heimelige Winterzimmer angeboten, mit winzigen Fenstern, vor denen man jederzeit - selbst heutzutage, da es kaum noch welchen gibt - Schnee in rauen Mengen zu sehen glaubt. Es ist, als krieche man in eine alte Truhe: oben, unten, links, rechts - nichts als altes, abgegriffenes, seidig glattes Holz. (Nur - einmal mehr -: Was haben Sparglühbirnen in solch einer Umgebung zu suchen?! Das freudlos fahle Licht, das sie spenden, kann selbst dem gestrengsten Herrgott nicht gefallen!)

Im Winter ist es möglich, mit den Skis direkt vor die Tür zu fahren und sie am nächsten Morgen wieder aufs Postauto zu laden, das nebenan hält und einen zu den Liften bringt. Das Essen, das man aufgetischt bekommt, ist währschaft, das Frühstück ebenso - ein Gasthof, in dem ich mir das Vergnügen, Ferien zu machen, von Anfang bis Ende als ein quiekendes vorstelle.

Ausser solchen Familienbetrieben findet sich eine Besonderheit, die nur in Klammern, beiseite, erwähnt werden soll, weil sie keine Werbung braucht. (Das «hasli-zentrum», ein Ferienhaus der Schweizerischen Nationalbank, das seit diesem Winter auch von Nichtbankern genutzt werden kann. Die Anlage ist intelligent und reizvoll gebaut. Nicht zu gross, bietet sie mönchisch klar eingerichtete Zimmer, jedes mit eigenem Südbalkon, und dazu sogar ein attraktives Hallenbad. Wer hier bucht, sollte das mit Halbpension tun, da man schon nur der Küche wegen lange Anfahrtswege nicht zu scheuen braucht. Eine ansprechende Einrichtung von ausgesuchter Schlichtheit, puristisch, hell, grosszügig - zu einem Preis, der in einem irritierend niedrigen Verhältnis zum Angebot steht und nur deswegen möglich ist, weil sich der Eigentümer, die Nationalbank eben, anständigerweise untersagt, auf Profit zu spekulieren. Dementsprechend oft ist es ausgebucht, weswegen man aber nicht zu verzweifeln braucht - die Alternativen, die sich einem rundherum bieten, sind allgemein erfreulich.)

Wer sich in purer Natur schnell verloren fühlt, kann unten in Meiringen logieren, das über eine Seilbahn mit dem Oberhasli verbunden ist. Das Strassendorf in der Ebene ist zwar nicht besonders aufregend, dafür aber ganz bei sich. Ausserdem steht hier ein altes Parkhotel, das berühmt ist, weil Sherlock Holmes in ihm seine letzte Nacht verbracht hat, bevor er anderntags im Reichenbachfall zu Tode kam. Ein Hotel, wie es ohne weiteres auch auf der Krim stehen könnte, mit reizendem Personal, das jeden Gast behandelt, als sei er der Erste, der auf die Idee gekommen ist, hier abzusteigen.

Die kontinuierlich renovierten Zimmer verströmen einen charmanten Hauch von quasi balkanischer Modernität, und der Platz, den man in der De-Luxe-Kategorie hat, wirkt ausgesprochen befreiend. Bei Nieselregen und Matsch lässt sich hier bestgelaunt auf einen Wetterumschwung warten, tagelang, lesend, badend, sich wieder ins Bett legend, dösend (wobei auch hier die Lichtkonzeption zu rügen ist; man gruselt sich geradezu vor sich selbst, wenn man in der funzeligen Dämmerung unverhofft an einem Spiegel vorübergeht und sich darin als Mörder seiner selbst schemenhaft auftauchen sieht).

Dann und wann sollte man das Gemach trotz allem verlassen, um im Dorf, in dem es nach Holzofen riecht, einen frischen Haslikäse zu kaufen oder in der Metzgerei eine Hasliwurst, dazu eine Flasche Wein, in der Konditorei Brunner vielleicht noch ein paar Pralinen, die der Juniorchef gerade neu kreiert hat - um schnell ins Hotel zurückzukehren und sich von den Strapazen des Einkaufs doppelt wohlig erholen zu können.

«Wirtschaft zur Post», Goldern, Tel. 033 971 35 34. 65 Fr. pro Person (Frühstück inkl.)
«hasli-zentrum», Wasserwendi, Tel. 033 972 43 71. EZ m. F. 80 Fr., DZ m. F. 148 Fr. (mit Halbpension 110 Fr. pro Person); Angebote für Familien
Parkhotel «Du Sauvage», Meiringen, Tel. 033 971 41 41. EZ m. F. 125-300 Fr., DZ m. F. 170-440 Fr. (Hallenbad und Sauna inkl.)




"Bieler Tagblatt" vom 18.05.2002, Ressort Seeland

Randnotiz
¹Halt auf Verlangen

Matthias Zschokke stellt fest, dass alle Bahnreisen nicht nach Rom, sondern nach Grenchen Süd oder Nord führen. Zschokke will sich therapieren lassen und kommt ins «Krebs» in Grenchen.

Lukas Walter

Grenchen hat es geschafft. Eine halbe Seite war die Stadt dem «Tages-Anzeiger» wert. Für einmal standen die Schlagzeilen nicht im Wirtschafts- oder gar Politikteil, sondern im Reiseteil dieser Zeitung. Doch der Titel «Grenchen» oder die «Crux mit der dritten Titte» irritierte.
In Grenchen diskutierte und diskutiert der Gemeinderat über die zu geringen Zughalte. Der Autor des Reiseberichtes hält fest: «Wo immer ich hin will, lauert Grenchen am Weg und wirft sich in Form von Nord oder Süd vor die Lokomotive, um sie zum Halten zu zwingen.»
Als Grenchner freut mich der todesmutige Einsatz der beiden Bahnhöfe, zumal ihr Engagement nicht ohne Beachtung blieb. Mit einer Konfrontationstherapie versucht Matthias Zschokke, der Autor des Berichtes, solange in Grenchen zu bleiben, bis seine Angstreaktion auf Grund der Gewöhnung nachlässt. Nun zurecht die Frage der Leser: «Was ist an Grenchen, was so Angst einflösst?»
Zschokke sucht das Hotel Krebs auf, ein Bau aus den Sechzigerjahren an Italiens Küsten in dritter oder vierter Reihe. Aus dem Text geht hervor, dass es ihm offenbar nicht gefällt. Dass er sich allerdings ausgerechnet die Wirtesonntage ausgesucht hat, um Grenchens «Krebs» zu besuchen, ist auf mangelnde Recherche zurückzuführen.
Richtig erkannte er, dass unser Hausberg gut mit dem öffentlichen Verkehrsmittel erschlossen ist, so dass selbst Rentner dieses Angebot nutzen. Dass sich ein Ausflug lohnt, stellt er beim Blick über die Wandfluh fest, beziehungsweise beim Genuss der Natur. Der Besuch im Kino Rex, mit immerhin der zweitgrössten Leinwand der Schweiz, zeigt, dass Zschokke eine gute Nase hat. Etwas irritierend bleibt der ständige Blick in den Fernseher im Hotelzimmer. Diese Zeit hätte genutzt werden können, um die Industrialisierung der Schweiz in Grenchen im Zeitraffer nachzuvollziehen, zu würdigen oder auf den Spuren des Freiheitskämpfers Mazzini zu wandeln.
Drei Dinge bleiben uns Grenchner nach dem Studium des Artikels unklar: Was ist derart angsteinflössend in Grenchen? Warum sollte jemand in dieser Stadt eine Solothurner Torte kaufen? Was soll die Geschichte mit der «dritten Titte»?



"Schaffhauser Nachrichten", Mittwoch 16. Oktober 2002, Region

²Sache... Sächeli



lll Ein Dichter macht sich auf, fremdes Terrain zu betreten. So jedenfalls der Schweizer Schrifsteller Matthias Zschokke. Er lebt seit längerem in Berlin und macht derzeit Streifzüge durch die Schweiz. Natürlich ist er auch in der Munotstadt gelandet, hat sich an verschiedenen Tischen niedergelassen und die kulinarische Lage beurteilt. «Für die Crème der europäischen Feinschmecker ist Schaffhausen ein Begriff», meint der Dichter im Reisebund des «Tagesanzeigers» und kommt dann auf die «Fischerzunft» zu sprechen. Aber: «Wo ein Gipfel in den Himmel ragt, stehen andere meist nicht fern.» Ergo hat er auch andernorts gut getafelt und verrät uns wo: nämlich in der «Beckenburg», die er in den höchsten Tönen lobt, wenngleich sie nicht mit dem «Montblanc» Fischerzunft zu vergleichen sei. Übernachtet hat Herr Zschokke in der «Parkvilla», deren Salon er mit einem Boudoir von d'Annunzios Villa am Gardasee vergleicht. Dann war der Dichter, wie einst auch Dichterfürst Goethe, natürlich an Rhein und Rheinfall. «Selten strömt der Fluss fetter und schöner als in Schaffhausen», bilanziert der Reisende, dem die Gegend ganz offensichtlich gefallen hat.