Eine Merkwürdigkeit in einem Urner Talkessel ist das Hotel "Maderanertal". Für Leute, die der Berg ruft.
Von Matthias Zschokke
IIn Bristen ist Schluss. Ob im Auto oder im Zug angereist, hier muss man in ein Landrovertaxi umsteigen. Das bringt einen im Geländegang ans Ziel: zum Hotel "Maderanertal", einer Merkwürdigkeit, die seit 1864 in einem Urner Talkessel auf einer Felsnase steht. Ein viel zu grosses Haus mit Nebengebäuden inmitten von unberührter Natur, eine Art Gebirgskaserne. Unten ist eine Gaststube. Ohne Anmeldeformalitäten bekommt man am Tresen eine Zimmernummer genannt, geht über die ausgetretenen Holzstufen nach oben, öffnet seine Tür - und wird von der Aussicht erschlagen: fette, grün leuchtende Wiesen, Berghänge links und rechts, geradeaus das weite Tal, unten ein reissender Bach.
Die Zimmer sind klein. In jedem steht eine Kommode mit Waschschüssel und Krug. Auf dem Flur befindet sich ein WC nebst Handwaschbecken. Viel mehr hat das Haus nicht zu bieten; das Wenige befindet sich in marodem Zustand. (Früher soll hier die grösste und schönste Bibliothek des Kantons Uri zu finden gewesen sein. Reichlich vorhandenes Personal habe auf schwerem Tafelsilber serviert. Engländer, denen die Zimmer im Haupthaus zu klein gewesen seien, hätten für sich umgehend eine luxuriösere Dépendance erbauen lassen - eines der Häuser nebenan, in dem zurzeit nur die Zimmer einer Etage benutzt werden.)
WWenn die Sonne untergeht, gibts Nachtessen. In der Gaststube sitzen bereits andere, die der Berg gerufen hat. Hier eine Familie mit Hund, dort eine Wandergruppe mit geröteten Wangen, da ein paar ergraute Städter, aufgedunsen im Kampf gegen das rundum grassierende Spiessertum. Alle tragen an den Füssen verlottertes Zeug, so genannte Hüttenfinken. Im Umgang herrscht uneingeschränkte Gebirgssolidarität. Man zwinkert einander verschwörerisch zu; die Erwartungen an die befreiende Wirkung des Ozons scheinen hoch zu sein.
Ich freue mich erst einmal auf Älplermakkaronen, Gamspfeffer, Pilze, Murmeltierbraten oder was Berg und Tal sonst so zu bieten haben. Es gibt Schnitzel mit Pommes frites in altem Öl und hinterher das, was in ausländischen Autobahnraststätten als Schweizer Käse verkauft wird. Niemand scheint sich davon die Laune verderben lassen zu wollen. Im Gegenteil, man prostet einander über die Tische zu, macht zünftige Witze und spricht den Flaschen kräftig zu, die den Weg aus dem Supermarkt hier herauf gefunden haben.
Der Blutdruck steigt. Jasskarten werden hervorgeholt. Plötzlich hat einer der Grauköpfe ein Blechinstrument in der Hand, ein urtümliches Gebirgs- oder Landsknechtshorn, hebt es an die Lippen und stösst aus voller Lunge hinein. Sofort folgt ein zweiter, zückt eine Klarinette, die er unter der Eckbank versteckt hatte, und tut es ihm nach. Sämtliche musikalischen Krücken (wie: laut, leise, schnell, langsam) von Anfang an weit von sich werfend, werden bald auch die Fesseln des Takts gesprengt. Schnell sind die letzten Hemmungen gefallen, und das ungezwungenste Bergvagabundentum beginnt alle Anwesenden in seinen kollektiven Würgegriff zu nehmen.
Ich ziehe mich zurück, froh, Handwaschbecken und Klo für mich allein zu haben. Durchs geöffnete Zimmerfenster dringt das Rauschen der Wasserfälle, die von allen Seiten ins Tal stürzen. Die Luft, die hereinströmt, ist betörend und zieht den Fritierölmief aus Haaren und Kleidern. Im hundert Jahre alten Bett sinke ich in tiefen Schlaf. Um halb drei werde ich daraus emporgerissen. Direkt unter mir haut jemand in die Tasten eines Klaviers. Die entfesselten Grauköpfe sind mit ihren Freundinnen offenbar aus der Gaststube eine Etage höher ins Säli umgezogen, über welchem ich schlafe. Empört schiesse ich aus dem Bett und trete auf den Flur, um wie ein Bergschrat zwischen sie zu fahren und ihrem Freiheitsdusel einen Dämpfer aufzusetzen - als ich auf halber Treppe eine Frauenstimme ein so urschreihaftes "Yeeeäääaaah!" ausstossen höre, dass ich entsetzt auf dem Absatz kehrtmache und ins Bett zurückkrieche.
IIrgendwann sind auch die Stadtmusikanten endlich erschöpft und poltern die Treppe hinauf in ihre Betten. Ab jetzt herrscht Stille. Am nächsten Morgen trifft man sich wieder in der Gaststube zum Frühstück. Alle schauen verlegen und reiben sich ihre roten Augen. Die UHT-Milch, die es zum Kaffee gibt, und das nicht weniger lang haltbare Brot verbreiten die unheimliche Atmosphäre von Untotem. Ich verlasse das Haus - und habe es schon nach fünfzehn Metern vergessen. Rundum braust und tost Wasser, der Boden ist weich wie Moos, die Wege verlieren sich im Gras, das Wandern wird zum Streunen, kleinen Bergseen entlang, über glitzernde Alpweiden, steinige Kuppen, und dazu eine Luft . . . Am Abend fahre ich runter nach Luzern. Hier steht am See das Hotel "Palace". Mit etwas Glück kann man da ein Zimmer zum Last-Minute-Preis bekommen - und sich darin erholen, wie es die Gentlemen von 1864 vielleicht für sich erträumt haben.
Hotel "Maderanertal", Tel. (041) 883 11 22: DZ m. F.: 90 Fr., Winterpause bis Anfang Juni, evtl. nächstes Jahr schon ab Pfingsten (im Mai) geöffnet.
Hotel "Palace", Luzern, Tel. (041) 416 16 16: das führende Haus der Innerschweiz, fünf Sterne: DZ m. F. 495-1240 Fr., teilweise Last-Minute-Angebote, zurzeit Pauschalangebot (bis zum 31. 3. 02: mind.
2 Nächte, DZ 330 Fr. pro Nacht m. F.
Mittwoch, 21. November 2001
Tages-Anzeiger/Zürich
Seelenruhe finden im Kurgebiet von Baden
Im Badener Hotel "Verenahof" wirkt der Zauber von verblichenem Luxus, während draussen das mineralreichste Wasser der Schweiz dampft.
Von Matthias Zschokke
Endlich mal wieder ein Bahnhof, der fertig umgebaut ist. Wie friedlich. Auf dem Vorplatz wartet ein Kleinbus, der Badegäste für 1.20 Franken ins Kurgebiet bringt. Wer zu den Glücklichen gehört, die ohne Gepäck zu reisen verstehen, sollte die zehn Minuten zu Fuss gehen. Man überquert zuerst den Hauptplatz, der wie eine Terrasse hoch über der Limmat liegt. Dann geht es unübersichtliche Betonstufen hinunter - man wähnt sich auf der notbeleuchteten Feuertreppe eines ausgestorbenen Parkhauses -, dann weiter zwischen grün wucherndem Gestrüpp steil bergab - bis ans Ufer der Limmat, das von einer Promenade gesäumt wird, die mit ihrer Romantik jeden, egal zu welcher Jahres-, Tages- oder Nachtzeit, in ihren Bann zieht.
Das Wasser rauscht betäubend laut, die alten Bäume lassen ihre Äste in einem grandiosen Bogen ins Wasser hängen, und ein kleiner Brunnen steht da, mit weinenden Kindern aus Stein. Ihre Verzweiflung ist so tief, dass man erstaunt davor stehen bleibt und den Spruch darunter liest: "Jed' Menschleins Weh, in Traen' zerronnen, die Erde schluckt's und weint's in Bronnen."
Das ist ThermalBaden: tragisch, ernst, heiter, gesegnet. Am schönsten im Spätherbst, bei Nieselregen, in der Dämmerung. Aber selbst an einem Sommernachmittag fügen sich der kleine Kurpark, die Hotels und die Villen aus der Belle Epoque so harmonisch zu einem Ganzen, dass einem nichts anderes zu denken übrig bleibt als "Und siehe da, es war sehr gut". Egal, in welcher Stimmung man ankommt, von weit her oder von nebenan, das Bäderquartier nimmt jeden auf und verleiht ihm Seelenruhe. Wahrscheinlich funktioniert es selbst für Bürger aus Ennetbaden, die hier durch zur Arbeit oder auf den Zug gehen: Der Spaziergang zieht all ihre Sorgen an sich, löst sie auf und weint sie in Bronnen.
Am sichersten wirkt der Zauber, wenn man im Hotel "Verenahof" absteigt (das einzige mit direktem Zugang zum Bad). Durch sein bescheidenes Portal taucht man ein in verblichenen Luxus. Wände und Teppiche sehen aus, als hätten sie Wasserflecken - eine Täuschung, hervorgerufen durch das Streulicht, das aus den Lichthöfen mit ihren beschlagenen Glasdächern dringt. Aus dem Keller steigt feuchtwarme, schweflige Luft. Der Lift ist alt und knarrt. Nirgends trumpft der Luxus auf, er ist nur überall da. Die Zimmer hinter den Doppeltüren sind gross, die Betten und die Wäsche einladend wie in einem Lungensanatorium - man überlässt sich dem Hotel nach kürzester Zeit wie den Vertrauen erweckenden, warmen Händen eines Landarztes.
Draussen dampft das mineralreichste Wasser der Schweiz. Was für eine nüchterne Anlage! Nicht ein Ausrutscher ins Tropische, nicht eine Verführung ins Erotische, nicht eine schwüle Anzüglichkeit. Nichts als Vernunft und Selbstverständnis. So gibt es beispielsweise genug gute, starke Massagedüsen, um alle glücklich zu machen. Trotzdem klingelt jede Minute ein Glöckchen, und die Badenden gleiten diszipliniert eine Düse weiter, um ihre dem Nächsten zu überlassen. Wie oft habe ich Bäder besucht, in denen um die Düsen Gezänk entstand, weil es zu wenig davon gab; oder schlechte Laune breitete sich aus, weil innerhalb des Beckens bevorzugte Wannen konstruiert waren, die nie freigegeben wurden.
In Baden gibt es keine Privilegien. Überall ist es gleich erholsam, entspannend und angenehm. Ein zutiefst demokratisches Bad, in dem selbst der Schwächste, ohne Angst unterzugehen, loslassen kann. Auch das Essen macht Freude. Zwei Restaurants, die zu Fuss schön und bequem zu erreichen sind, möchte ich empfehlen. Ob im "Trudelhaus" oder im "Rebstock" - das erste familiärer, näher am Badener-, das zweite näher am Zeitgeist -, gekocht wird in beiden auf hohem Niveau zu reellen Preisen und ohne Allüren. Es ist ein reines Vergnügen, hier zu speisen und dazu Goldwändler, den lokalen Rotwein, zu trinken.
Nachts herrscht Fahrverbot im Quartier. Leider wird das um sechs Uhr früh aufgehoben. Dann treffen die Angestellten in ihren Autos ein und reissen den Kurgast aus dem Schlaf. Der dreht sich im Bett entweder seufzend auf die andere Seite und denkt, ach ihr Armen, oder er steht auf und geht ins Bad, das um diese Zeit öffnet. In grösster Finsternis allein im heissen Wasser zu liegen und zu träumen, über sich Dampf und den riesigen schwarzen Himmel - ein unvergleichlich schöner Einstieg in einen Tag. Danach wandelt man im weiss gestärkten Frotteemantel durch den katakombenartigen Keller mit seinen Badeverliesen zurück zum Hotellift, der einen nach oben bringt, in seine Suite, oder hinten hinaus über die schmale Strasse in die Dépendance, ins Zimmer 228 mit dem russischen Landhausbalkon. Das Frühstück sollte man im Festsaal einnehmen. Die Beleuchtung dort erinnert so schön an die einer sozialistischen Vorstadtbahnhof-Wartehalle, was dem neobarocken Prunk eine rührende Hinfälligkeit verleiht. Später spaziert man wieder die Limmat entlang, wohlig warm von innen heraus und mit zu viel Zeit, steigt den scheusslichen Hang zwischen weggeworfenen Kondomen und Einwegspritzen hinauf, betritt oben die Terrasse - und fühlt sich gestärkt für die kommenden Wochen.
Hotel "Verenahof", Tel. (056) 203 93 93: DZ m. F. 230-260 Fr., Suiten 300 Fr.; Dépendance: DZ. m. F. 140-190 Fr. (Preise inkl. unbeschränkte Thermalbenützung)
Kindermuseum, Ölrainstrasse 29, geöffnet Mi und Sa 14-17 Uhr, So 10-17 Uhr.
Mittwoch, 12. Dezember 2001
Tages-Anzeiger/ Zürich
Behagliche Ruhe und dem Körper schmeichelnde Wäsche
Ein Tipp für geruhsames Weihnachtsshopping: In Liestal edle Unterwäsche kaufen und im Hotel "Bad Schauenburg" übernachten.
Von Matthias Zschokke
Als Kind war eines meiner Lieblingskleidungsstücke ein Calida-Pyjama.
Jahre später sah ich in einem Zürcher Warenhaus einen Scheich (in
weissem, langem Gewand), der sich stapelweise Damenunterwäsche aus Wolle
einpacken liess. Die Verkäuferin, die ich darauf ansprach, sagte, das sei
nichts Aussergewöhnliches; Araber seien ganz vernarrt in Schweizer Wollunterwäsche.
Kurz darauf entdeckte ich zufällig auf einem Foto Yehudi Menuhin beim Üben
auf seiner Geige - in einem Unterleibchen von Zimmerli. Seitdem bin ich nicht
mehr abzubringen vom Glauben, Schweizer Unterwäsche sei etwas Besonderes.
Lange Zeit galt die von Hanro als der Rolls-Royce auf dem Seiden- und Wollsektor. Sie ist dementsprechend teuer. Nur in Liestal, wo sie hergestellt wird, kann man sie in einem Fabrikladen zum halben Preis bekommen. Leider hat ihre Qualität in letzter Zeit nachgelassen. Eine verwerfliche, mammonistische Firmenpolitik hat dazu geführt, dass der Name nach Österreich verkauft und die Produktion europaweit verstreut wurde.
Wenn ein Kunde sich heute über die Nähte beklagt, seufzen die Verkäuferinnen wehmütig, raten ihm dann aber, seine Unterhosen halt nicht wie ein Stier hochzureissen, sie seien schliesslich aus zartestem Gewebe. Und das stimmt auch. Hanro bereitet nach wie vor Lust beim Tragen, vergleichbar nur mit den Calida-Freuden meiner Kindheit. Es lohnt sich immer noch, dafür nach Liestal zu fahren, gerade jetzt, im Winter, um zum Beispiel lange Unterhosen aus Seide/Wolle für den Herrn zu kaufen, oder langärmlige Wollleibchen, die auch auf empfindlichster Haut nicht jucken, oder einen Kaschmirhausdress für die Dame, ein Nachthemd oder einen Morgenmantel aus Seide . . .
Um das Passende zu finden, braucht man Zeit. Es ist unsinnig, schnell hinzurasen, die Regale durchzuwühlen, zuzuschlagen und weiterzufahren. Geben Sie Liestal eine Chance. Bleiben Sie über Nacht, zum Beispiel im Hotel "Bad Schauenburg", einem Idyll, das Sie sonst nie entdecken würden. Schon am Bahnhof werden Sie aufatmen: Das Kofferschliessfach ist nicht so empörend teuer wie in Zürich - man fühlt sich als Gast willkommen, hebt erleichtert seine Augen und erblickt die "Pasticceria l"7angolo dolce", die sich neben den Schliessfächern eingenistet hat. Ein Juwel an Schäbigkeit, wie man es sonst nur südlich von Neapel in Kleinstädten findet. Es tut gut, sie einen Augenblick anzuschauen und die Sehnsucht in sich aufsteigen zu spüren. Dann spaziert man zur Fabrik. Sicher, der Weg wird nie aufgenommen werden in die Liste der hundert romantischsten Europas, aber die Luft ist in Ordnung, der Verkehr gering . . . Nach dem Einkauf geht man mit der Hanro-Tüte in der Hand zurück. Nach zehn Minuten ist man im historischen Kern angelangt. Machen Sie hier Rast in der Confiserie Krattiger, einer Oase der Erholung, in der - ohne das Gehabe grossstädtischer Nobelkonditoreien - auf höchstem Niveau gebacken wird.
Danach nehmen Sie ein Taxi. Zuerst fährt es durch eine traurige Agglomeration, dann aber wirds friedlich. Hügeliges Ackerland, Weiden, Kühe mit Glocken, vereinzelt daliegende Bauernhöfe, jetzt vielleicht sogar Schnee. Etwa nach drei Kilometern taucht zwischen den welligen Wiesen und Wäldchen ein herrschaftliches Gut auf, ein grosser Teich mit Springbrunnen davor, drum herum ein einladend gepflegter, parkartiger Garten: das dreihundert Jahre alte Hotel "Bad Schauenburg". Der Badebetrieb ist längst aufgegeben worden, doch aus sämtlichen Hähnen fliesst nach wie vor eigenes, gesundes Quellwasser. Die Gästezimmer sind solide renoviert und behaglich eingerichtet wie die bei einem reichen Freund auf dem Land.
Das Restaurant des Hauses ist weit herum bekannt, die Atmosphäre in den
beiden Salons, in denen gespeist wird, ausgesprochen festlich. Gekocht wird
mit hohem Anspruch und zuweilen schwankenden Ergebnissen. Die Preise sind ebenfalls
hoch, ohne leider auch den Schwankungen zu folgen. Doch der Ton, der herrscht,
ist nie gestelzt; man fühlt sich als Gast ernst genommen, wertgeschätzt
und geborgen. In der Nacht ist nichts als das Rauschen des Regens zu hören,
ab und zu die Glocke einer grasenden Kuh, und man versinkt in tiefem, traumlosem
Schlaf. Nach dem Frühstück, das in einem Wintergarten mitten in der
Landwirtschaft eingenommen wird, reist man erholt ab, als hätte man das
ausgeklügeltste Wellnesswochenende hinter sich.
Wer die Einsamkeit scheut und lieber im Städtchen selbst übernachten möchte: Das Hotel "Engel" ist auf beeindruckende Art modernisiert worden. Es hat im Spätsommer neu eröffnet und ist schon wegen seiner Duschen einen Besuch wert. Das Vergnügen, hier Gast zu sein, auch im Restaurant, ist um nichts geringer als das draussen in der Natur. Auch wenn es nur die Unterwäsche war, die einen hingelockt hat - Liestal hält, was es verspricht.
Hotel "Bad Schauenburg", Tel. (061) 906 27 27, DZ m. F. 180 Fr., Suiten
220/260 Fr. Hotel "Engel", Tel. (061) 927 80 80, DZ m. F. 230 Fr. Suiten 350
Fr. (nach Weekend-Specials fragen)
Feurige Sonnenuntergänge, dampfender Nebel: Hinter den Panoramascheiben des Luxushotels "Beau-Rivage" in Neuenburg dehnt sich endlos der See aus.
Von Matthias Zschokke
In Neuenburg lockt das "Beau-Rivage" mit sensationell
günstigen Wochenendpreisen auf "eine Insel der Ruhe und Raffinesse", die "in privilegierter Seelage allen Luxus eines Grandhotels bietet". Dieser Verführung konnte ich nicht widerstehen, zumal im Neuenburger Kunstmuseum mein Lieblingsautomat vor sich hin
dämmert, "l'écrivain" (der Schriftsteller), ein knallbuntes Männchen, das an einem Pult sitzt und, wenns eingeschaltet wird, mit zittriger Hand anfängt, schöne Sachen auf ein Papier zu schreiben, zum Beispiel "der grosse Hauch".
Die Ankunft im
Hotel ist ernüchternd. Obwohl ich ausdrücklich "mit Blick auf den See" und das teurere De-luxe-Arrangement gebucht habe, werde ich seitwärts untergebracht. Zwar sollen die Sonderpreise auch seeseits gelten, aber offenbar nicht für mich.
Unlustig
betrete ich mein Zimmer, einen geräumigen Tresorraum mit kleinen Fenstern, ausgestattet in edlem, warmem Kirschbaumholz. Eine der Türen führt in einen begehbaren Kleiderschrank. Wer diesen betritt, blüht auf und wird von Stund an verfolgt vom Traum,
seinen Lebensabend mit begehbarem Kleiderschrank zu verbringen.
Besser gelaunt öffne ich die nächste Tür und stehe im Bad, einem Salon in mattem Marmor. Mit Spiegeln bis an den Horizont, die jedem Gast den Eindruck vermitteln, er habe Hintergrund.
Trotz eingeschränkter Seesicht fange ich an, mich im Zimmer wohl zu fühlen.
Da folgt der zweite Streich: Das Frühstück ist nicht im Preis inbegriffen. Eine Saumode wie die, Flugpreise ohne Flughafentaxen anzugeben. Wie soll einer fliegen, ohne ein-
und aussteigen zu können, wie übernachten ohne Aussicht auf Kaffee?! Wütend nehme ich mir vor, am nächsten Morgen nüchtern in die Altstadt zu wanken, um dort zu frühstücken - ein Vorsatz, den ich nach kurzem Entdeckungsrundgang fallen lasse. Die
erreichbaren Cafés sind innenarchitektonisch so niederschmetternd gestaltet, dass sie niemandem auf die Beine helfen können.
Zurück im Hotel, gehe ich in die Veranda-Bar. Rosa glühende Bauernsöhne aus dem Grossen Moos sitzen verträumt neben rosa
schimmernden Einheimischen und trinken in Begleitung von rosa duftenden Frauen Aperitif. Rund herum nichts als Glas, von der Decke bis zum Boden. Unmittelbar davor dehnt sich der in der untergehenden Sonne brennende See, der im Herbst manchmal sogar mit
richtigen Wellen und weissen Schaumkronen auftrumpft, im Winter neblig dampft und dessen gegenüberliegende Ufer sich nicht selten im Dunst verlieren - ein See, der diesen Namen ohne Einschränkung verdient.
Neuenburg war lange Zeit Fürstentum. Noch
vor 150 Jahren gehörte es dem preussischen König. Auf engem Raum zeugen repräsentative Familiensitze früherer Grafen und Prinzen von dieser Vergangenheit, Residenzen wie das Hotel "Du Peyrou" (heute eine erste Adresse zum Speisen) und andere Palais alten
Adels, deren Fassaden - obwohl die Expo.02 vor der Tür steht! - noch nicht zu Tode renoviert worden sind. Oder das "Le Cardinal", eine veritable, alteingesessene Brasserie, in der es Meeresfrüchte zu essen gibt wie früher in französischen Filmen mit Jean
Gabin.
Das Lokal ruht mit einer solchen Selbstverständlichkeit in sich, dass es nicht einmal nötig hat, als Geheimtipp gehandelt zu werden. Seine Spezialität ist Sauerkraut mit drei Sorten Fisch und Muscheln. Wer jetzt müde abwinkt und sagt, das
kenne ich von da oder dort, wo es mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet worden ist, der gesteht damit bloss ein, dass er es nie im "Le Cardinal" in Neuenburg gegessen hat.
Das Frühstück in der einzigartigen Veranda des Hotels - angesichts des
Sees im Licht der aufgehenden Sonne, direkt vor den Panoramascheiben, durch die auch bei eisigster Kälte kein Windhauch hereinweht - ist ein Genuss. Die Stühle sind bequem, die Tische gross, die Tücher aus steifem, schwerem Leinen.
Ich bin kein
Freund von Nasskaltem am frühen Morgen, probiere aber, weil es so verlockend aussieht, einen Löffel Birchermüsli, und selbst das lohnt sich. Während ich dasitze und übers Wasser schaue, spüre ich mit Erleichterung, dass mich weder der Frühstücksaufpreis
noch die beschnittene Seesicht im Zimmer länger quälen: Ausstattung und Lage des "Beau-Rivage" machen beides zu vernachlässigbaren Details.
Wer auf Details empfindlich reagiert, dem sei als Alternative das "Alpes et Lac" genannt, oben, direkt
gegenüber vom Bahnhof. Die Sicht aus den Zimmern ist - auch wenn man das Wasser nicht direkt an den Füssen hat - ähnlich majestätisch wie die aus den Luxussuiten unten. Und wer See pur haben will, der muss sowieso auf den "accès aux utopies" (Zugang zu
den Utopien) hinaustreten, eine begehbare Plastik in Form eines Riesensprungbretts, das von der Uferpromenade etwa fünfzehn Meter in die freie Luft hinausragt. An seiner äussersten Kante steht ein Bänkchen. Da sitzt man dann, schwankend zwischen Himmel
und Wasser, und spürt den grossen, eisigen Hauch.
Hotel "Beau-Rivage", Tel. (032) 723 15 15, EZ 290-570 Fr.; DZ 360-570 Fr., an Wochenenden DZ 220/270 Fr. (ohne Frühstück) Hotel "Alpes et Lac", Tel. (032) 723 19 19, EZ mit Seesicht 110-120 Fr.,
DZ 160-170 Fr. (ohne Frühstück) Brasserie "Le Cardinal", Seyon 9, Tel. (032) 725 12 86, sonntags geschlossen.
Mittwoch, 13.2.2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich
Weg wird für einmal zum Ziel
In Chur blicken Reisende auf dem Weg in die Ferien höchstens mal kurz auf die Uhr. Man kann hier aber auch verweilen, im Romantik-Hotel «Stern» zum Beispiel.
Von Matthias Zschokke
Wo die Strasse zur Lenzerheide ansteigt, begannen die VW-Käfer jeweils zu schlittern. Auf der Kreuzung stand ein frierender Polizist und regelte den Verkehr. Autos mit Skis auf dem Dach warteten in einer Schlange. Ketten wurden montiert. Hinter dem Polizist stand auf einem Schild «offen» (grün) oder «geschlossen» (rot). Schneeregen fiel aus tief hängenden Wolken. Den Kindern in den Fonds war es übel; sie hatten kalte Füsse und quengelten. Väter schauten drohend in die Rückspiegel und fragten: «Muss ich nach hinten langen?!» Sechzigerjahrestart in die Winterferien.
Chur teilt mit Olten die zweifelhafte Ehre, an einem wichtigen Weg zu liegen, ohne es selbst je zum Ziel gebracht zu haben. Zugreisende heben kurz den Blick, erkennen den vorübergleitenden Schriftzug, seufzen, schauen auf die Uhr, setzen sich anders hin und lesen weiter.
In einem alten Hotelführer fiel mir das Churer «Duc de Rohan» in die Augen. Ich dachte, so kurz vor dem Granit ein solch romantisch klingender Name, dafür lohnt es sich auszusteigen.
Auf den Strassen liegt Matsch. Vor dem Lenzerheide-Anstieg steht eine frierende Polizistin. Autos warten. Auf dem Schild hinter ihr steht «offen» (grün). Düstere Wolken hängen über den Dächern. Schneeregen fällt. Nach wenigen Schritten sind meine Füsse nass und kalt.
Das «Duc de Rohan» ist zurzeit geschlossen und wird saniert. Zum Aufwärmen setze ich mich in ein Tearoom. Es heisst «Merz» und erinnert architektonisch an eine Flughafencafeteria. Ich bestelle eine «Tourtière de Gascogne» - und die Sonne geht auf: Bündner Konditoren, im vorletzten Jahrhundert weltberühmt, scheinen nach wie vor in der obersten Liga mitzubacken.
Ermutigt gehe ich wieder los. Nicht weit vom «Duc» liegt in der Altstadt das «Stern». Es gehört zur Romantik-Gruppe und ist somit garantiert historisch, wofür die zwei dreihundertjährigen Arvenstuben stehen, in denen man essen kann.
Auch die Gästezimmer im total modernisierten Haus sind mit Arvenholz ausgestattet. Von der Arvenstüblischwemme der letzten dreissig Jahre jedoch abgestumpft, zudem mit Ikeakiefern überfressen, lasse ich mich von Nadelholzbrettern kaum noch beeindrucken - es sei denn, sie duften, was die hier nicht tun.
Das Bad überzeugt durch raumsparende Einteilung: Auf dem Klo sitzend, kann man seinen Kopf auf die Papierrolle stützen, die von der linken Wand unters Kinn ragt, und dazu gleichzeitig die Hände über dem Becken waschen, das sich unter dem rechten Ellbogen hervorwölbt. In der Badewanne liegend, erinnere ich mich an einen Schauspieler, den ich einmal einen Abend lang als Marat in einem winzigen Zinkzuber habe verbringen sehen, wo er endlose Monologe aufsagen musste. Der Anblick war Mitleid erregend.
Zum Abendessen mache ich mich auf den Weg ins Restaurant «Basilic». Er ist sonderbar: Zuerst gehts in ein Parkhaus, dann hinten raus, eine Wohnstrasse entlang zu einem Lift (geeignet als Filmdrehort für Gewaltverbrechen), darin nach oben auf eine Art Akropolis mit Aussicht über die ganze Stadt. Eines der modernen Häuser ist das «Basilic», ein kleiner, achteckiger Tempel mit grossen Fenstern und hoher Holzdecke. Die Tische sind grosszügig darin verteilt, die Stühle lederbezogen - wäre da nicht die leichte Klassikbeschallung, die den Eindruck profaniert, würde man sich am Ziel seiner gastronomischen Träume wähnen.
Gekocht wird extravagant; die Weine stammen aus den besten Lagen der bischöflichen Domäne; die Qualität der Gerichte steigert sich von Gang zu Gang - bis zum abschliessenden Käseteller, der als eine kapitale Entgleisung die Säulen der Tempelküche ins Wanken bringt. Bevor sie einstürzen, breche ich auf. Kaum um die Ecke, rutsche ich aus und brettere die verschneite Strasse hinunter. Schneller als erwartet, bin ich auf diese Weise zurück im Hotel.
Die Stille, die mich im Zimmer empfängt, ist klar und rein; die Matratze gibt an den richtigen Stellen nach; die Decke liegt nicht zu schwer auf - lauter gute Gründe, Romantiksterne zu verteilen. Auch das Frühstücksbuffet anderntags verdient solche. Beste ofenwarme Brotsorten stehen bereit, dazu eine Käseauswahl, die dem Tempel über der Stadt alle Ehre gemacht hätte, ja sogar eine Mühle, in der man Getreide frisch mahlen kann (das überraschend gut schmeckt).
Draussen schneeregnet es weiter. Im Kunstmuseum, einer byzantinischen Villa mit prachtvollen Mosaikparkettböden, ist es trocken, warm und luxuriös leer. Ein Herr von Planta hat das Haus vor hundertdreissig Jahren für sich bauen lassen. Heute ist in den oberen Räumen eine kleine, feine Sammlung von Giacomettis, Segantinis etc. untergebracht.
Im Keller, der modernen Version eines altägyptischen Grabs, werden wechselnde Ausstellungen gezeigt. Die strengen, weissen Kammern mit ihren anthrazitfarbenen Durchgängen fügen sich zu einem sakralen Ausstellungsort, der es dem Besucher leicht macht, sich zu sammeln. Auf der Strasse erinnere ich mich an den Satz «Der Weg ist das Ziel» und geniesse es, wie schön er im Dialekt der Einheimischen klingt.
Romantik-Hotel «Stern»: EZ mit Frühstück 110-145 Fr.; DZ 190-250 Fr. (nach
Angeboten fragen).
Conditorei «Merz»: Bahnhofstrasse 22; So geschlossen.
Kunstmuseum:
Postplatz; Mo geschlossen.
Mittwoch, 2o.3.2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich
Dort, wo das Lied spielt
Da gibt es nichts zu versäumen: Guggisberg, sein Lied und sein «Sternen».
Von Matthias Zschokke
Guggisberg habe ich immer für eine poetische Erfindung gehalten. Ein Wort, das ins schöne, alte, traurige Volkslied gehört, das wir Schweizer im Ausland anstimmen, wenn wir die Herzen empfindsamer Menschen erreichen wollen: das Vreneli-Lied. (Philipp Hössli* zum Beispiel, ein Naturbub aus Graubünden, verdrehte damit in Berlin vor hundertachtzig Jahren Bettina von Arnim den Kopf.)
Manchmal packt mich das Bedürfnis nach Ursprünglichkeit. Dann fahre ich ans Meer, wo es noch unberührt zu sein verspricht, ins Gebirge, wo es besonders schwer zu erreichen ist, zuhinterst in ein Tal, auf eine abgelegene Alp, ans Ufer eines verwunschenen Flüssleins - um dort auf ganze Horden von anderen zu treffen, die wie ich nach dem Echten suchen. Das heilt mich jeweils für eine Weile von meiner Sehnsucht.
Als ich erfuhr, dass Guggisberg existiert, überfiel sie mich wieder einmal. Ich packte den Koffer und fuhr los. Es ist ein Dorf im Schwarzenburgerland, einer Art Schweiz zwischen den Stühlen, nicht Berg, nicht Tal, nicht See. Der im Lied besungene «Simeliberg» heisst im Original Guggershorn und ist ein nackter Nagelfluhfels, der wie eine Warze aus dem hügeligen Grasland sticht; ein schmaler Grat wie der Kamm auf dem Kopf eines Leguans. Vom Dorf führt ein steiler, halbstündiger Weg hinauf. Oben ist eine Plattform, von der aus man rundherum schauen kann, übers gesamte Mittelland, vom Jura bis zu den Alpen.
Im Dorf selbst steht seit Jahrhunderten ein behäbiges Schindelhaus, das Hotel «Sternen». Der letzte grosse Sturm («Lothar») hat dessen Gästetrakt eingedrückt. Er wurde abgerissen und neu errichtet. Die paar Zimmer, alle mit Balkon und prächtiger Aussicht, sind schön geworden. Sie bieten Platz, Licht, Luft und Ruhe. Auf der Wiese davor, die in die freie Natur übergeht, plätschert ein Brunnen. In der Ferne stehen Berge, hinter denen am Abend die Sonne untergeht. Nachts glitzern aus dem Tal Lichter von Häusern empor. Am linken Fensterrand steht die Dorfkirche, deren Glocken nicht zu laut und nicht zu leise die langsam vergehende Zeit schlagen. Vor den kleinen, geschindelten Bauernhöfen rundherum dampft Mist. In den Ställen stehen Kühe und schauen aus der warmen Dunkelheit hinaus. Der Wind weht. Alte Plakate von vergangenen Saujasseten flattern am Feuerwehrhäuschen («freundlich laden ein: Unteroffiziersverein Gürbetal und die Wirtin, Barbara Trachsel»). Das Wasser auf dem Teich daneben kräuselt sich.
Das Klima ist unwirtlich. Der Jahresbericht des lokalen Turnvereins liest sich wie eine Klage darüber. Eine Veranstaltung fiel aus wegen zu viel Regen, die nächste wegen zu wenig Schnee, die dritte wegen zu viel Trockenheit, die vierte wegen zu starkem Wind. In der Vergangenheit kam es oft zu witterungsbedingten Hungersnöten. Die Einheimischen wanderten in Scharen aus und sangen Übersee ihr Lied in Moll.
Die Landschaft ist nicht lieblich gewellt, eher struppig zerknittert. Die Wege führen steil hinauf und hinab. Da und dort steht eine Holzbank am Hang, gestiftet von einem Frauenverein oder einem heimwehkranken Australienauswanderer. Man setzt sich drauf, schaut über die verworfenen, mageren Wiesen und Äcker in die Ferne; sitzt da, hört eine Kuh muhen, eine Melkmaschine brummen. Folgt man den Geräuschen, entdeckt man einen Bauern, der im Stall hinter seinen Kühen auf einem Bänklein an der Wand sitzt und vor sich hin schaut. Neben dem Bauern sitzt eine Katze auf dem Boden und leckt sich das Maul; sie wartet auf Milch. Man schaut den beiden durch die oben geöffnete Halbtür zu. Ein Hund beobachtet einen dabei, ohne einen Laut von sich zu geben oder gar aufzustehen. Man spaziert langsam zurück in den «Sternen», setzt sich an einen der uralten, seidenglatt polierten Klostertische. Das fahle Licht der Energiesparlampen stimmt einen trübsinnig (eine Pest, diese Energiesparbirnen). Das Essen wird aufgetragen, grosse Portionen, frisch und ehrlich gekocht, souverän geradeaus: Gemüse schmeckt nach Gemüse, Fleisch nach Fleisch, Kartoffelstock nach Kartoffelstock. Die Bedienung freut sich, dass sie etwas zu tun hat. Wenn man fertig gegessen hat, freut sie sich, dass sie nichts mehr zu tun hat. Nicht dass ich sie zu einem Hansjoggeli oder Vreneli verklären möchte, aber mindestens benimmt sie sich wie jemand, der nicht einsieht, warum er sich im einundzwanzigsten Jahrhundert anders benehmen soll als im siebzehnten.
Um halb neun geht man in sein Zimmer. Da es nichts zu versäumen gibt, legt man sich ins Bett und schläft ein. Am nächsten Morgen erwacht man, der Brunnen plätschert, man kann weiterhin nichts versäumen, schläft also noch einmal ein. Wer will, kann im Postauto nach Thun, Bern oder Freiburg fahren und sich dort Sehenswürdigkeiten anschauen. Man kann aber auch in Guggisberg bleiben, ein wenig umhergehen, sich auf eine Bank setzen, übers Land schauen - und einnicken. Nichts treibt einen, nichts hält einen, da ist bloss dieses Lied in der Luft . . . (Für diejenigen, die es nicht kennen, hier dessen Schluss: «Dört unden i der Tiefi / da steit es Mülirad / Das mahlet nüt als Liebi / die Nacht und auch den Tag / Das Mülirad isch broche / mys Lyd, das het es Änd».)
Hotel Sternen, Tel. 031 736 10 10: DZ inkl. Frühstück 170 Fr., ab 2 Nächten 150 Fr.
* Nachzulesen in «Ist Dir bange vor meiner Liebe?», Bettina von Arnims Briefwechsel mit Philipp Hössli, Insel-Verlag.
Mittwoch, 1o. April 2002
Tages-Anzeiger/ Zürich
Wo einst Tim und Struppi abstiegen
Im Genfer Hotel «Cornavin» rieselt der Staub, aber die Aussicht ist unvergleichlich, und man fühlt sich dort wie auf einer grossen Fahrt.
Von Matthias Zschokke
Es gibt Orte, an denen man sich schnell zu Hause fühlt. Genf gehört nicht zu ihnen: eine zerfetzte, mittelgrosse Provinzstadt, ein winziges Marseille, wenn man den See als Meer nimmt. In den Strassen wimmelt es von Fremden unterschiedlichster Nationalität und Farbe. Armut sticht in die Nase, Kleinkriminalität findet vor aller Augen statt, überwältigender Luxus quillt aus den Ecken, Maseratis gleiten vorüber, Damen mit schwarzen Dienern im Gefolge, kirgisische Kindermädchen, millionenteurer Schmuck liegt in Vitrinen neben speckigen Bistros, ranzigen Cafés und opulenten Brasserien - das Ganze eine einzige städtebauliche Katastrophe, eine Mischung aus Boston, Nizza und Rapperswil.
Direkt neben dem Bahnhof steht das Hotel «Cornavin», ein Begriff für «Tim und Struppi»-Leser (Professor Balduin Bienlein steigt im «Fall Bienlein» hier ab). Es hat neun Stockwerke. Die drei obersten sind verglast. Bekommt man dort ein Zimmer, geniesst man durch die wandhohen Fenster eine imposante Aussicht, entweder über den internationalen Bahnhof mit seinen Gleisen und den ein- und ausfahrenden Zügen oder über den Bahnhofvorplatz, eine grandios verunglückte Gerümpelhalde voller Verkehr, dem man stundenlang zuschauen kann.
Eine Sorte Film, die ich besonders mag, spielt in New Yorks gehobener Geschäftswelt. Manchmal übernimmt Michael Douglas die Hauptrolle. Dann tritt er in der Eröffnungsszene frühmorgens, wie aus dem Ei gepellt, ins Entree seines Penthouses, wo ihn eine farbige Angestellte mit einer Tasse Espresso erwartet. Mit einer unüberbietbar traurigen Geste schlägt er seine Krawatte über die linke Schulter nach hinten, um sie vor Tropfen zu schützen, ergreift das Tässchen, führt es an den Mund, wobei er den linken Handrücken schicksalsergeben darunter hält, schiebt sein Kinn vor, schlürft den Kaffee, stellt das Tässchen zurück und eilt an die Arbeit - ein Auftritt, der sich mir für alle Zeiten eingebrannt hat. Im «Cornavin» kann man solchen Geschäftsleuten morgens im Lift begegnen. Stark parfümiert stehen sie da und recken das Kinn in die Luft, um die wund rasierten Stellen nicht allzu heftig am Hemdkragen zu scheuern. Unmerklich schwanken sie im Rhythmus des Aufzugs hin und her, schlaftrunken, mit abwesenden, geröteten Augen. Im achten Stock betreten sie den verglasten Frühstücksraum, setzen sich an das gedeckte Brett, das der gesamten Fensterfront entlang montiert ist, werfen ihre Krawatten links über die Schulter und schauen vor sich hin, nebeneinander aufgereiht wie Möwen auf einem Brückengeländer oder wie das liebe Vieh vor dem Trog.
Mit in die Ferne gerichtetem Blick - über die Dächer der Stadt, auf die Berge oder direkt vor sich auf die Bergdohlen, die den Glasaufbau umkreisen - beginnen sie ihre Brötchen zu kauen, halten, wenn sie die Tasse an den Mund führen, den linken Handrücken drunter und warten darauf, dass entweder die Landschaft draussen oder sie selbst drin umgehend geschüttelt werden, auf dass künstlicher Schnee aufwirble und sanft vor ihren Augen zu rieseln beginne.
Ausser diesen Geschäftsleuten mit den zurückgeklappten Krawatten warten noch Japaner auf das Wunder mit dem Schnee, Engländer, Amerikaner und Finsterlinge aus dem Reich des Bösen, die schon zu Zeiten von Tim und Struppi hier abgestiegen sind und im «Fall Bienlein» dann und wann fluchend «par les moustaches de Plekszy-Gladz!» zwischen den Zähnen hervorgestossen haben.
Gründe zu fluchen gibt es genug. Da wäre einmal das Frühstück, das nichts taugt. Oder die Zimmermädchen, die zur Erkenntnis gekommen zu sein scheinen, im Leben gäbe es Wichtigeres zu tun als aufzuräumen oder zu putzen. (Wenn in einer Zimmerecke etwas zu Boden fällt, steigt dort eine anmutige Staubwolke auf, ähnlich der aus Schnee, auf die man im Frühstücksraum wartet.)
Oder die Dusche, die einen eher in britischen Nebel hüllt als dass sie einen nass macht. Oder die jungen Frauen an der Réception, die störrisch vor sich hingucken und auf nichts eine Antwort geben. (Um zu testen, ob sie das aus Widerborstigkeit tun, frage ich schliesslich nach dem Bahnhof. «Voilà», sagt eine, deutet mit dem Finger auf die Fassade gegenüber und gibt damit zu erkennen, dass sies nicht prinzipiell böse meint.)
Und doch, beim Schnurrbart des Plekszy-Gladz, dies ist ein Hotel, das ich jedem empfehle. Die Zimmer sind hell, geräumig, geschmackvoll eingerichtet und intelligent ausgestattet. Die Aussicht, die sie bieten, ist unvergleichlich. Und man fühlt sich in ihnen, obwohl mitten im Herzen der westlichen Welt, sehr weit weg, auf grosser Fahrt.
Weshalb man sich aber nach Genf aufmachen soll? Zum Beispiel um eine der schönsten Saunen zu besuchen, die ich kenne, mitten im See, in den man auch im tiefsten Winter nach jedem Gang hineinspringen kann, um sein Fernweh abzukühlen und sich nach Sibirien versetzt zu fühlen. Oder auch nur wegen des mächtigen Springbrunnens im Wasser, der, von nahem betrachtet, überwältigend ist.
Hotel Cornavin: Gare de Cornavin, Tel. 022 716 12 12; DZ. o. F. 270-450 Fr.
Sauna: Bains des pâquis, Tel. 022 732 29 74, tägl. 10-20.30 Uhr, Di nur für Frauen, sonst gemischt; Eintritt 12 Fr.
Mittwoch, 15. Mai 2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich
Schweizer (Hotel-)Geschichten – Grenchen oder die Crux mit der dritten Titte¹
Konfrontationstherapie in Grenchen: Im Hotel «Krebs» übernachten und mit Rentnern auf den Ausflugsberg fahren, wo prächtig die Magerwiesen blühen.
Von Matthias Zschokke
In letzter Zeit überfällt mich beim Besteigen von Schweizer Zügen ein Gefühl der Lähmung. Wo immer ich hinwill, lauert todsicher Grenchen am Weg und wirft sich in Form von -Nord oder -Süd vor die Lokomotive, um sie zum Halten zu zwingen. Nachdem neuerdings auch noch Oensingen mit diesem Unfug angefangen hat, entschloss ich mich zu einer Konfrontationstherapie (auch Flooding genannt): Der Patient wird dem angstauslösenden Reiz so lange ausgesetzt, bis die Angstreaktion auf Grund von Habituation (Gewöhnung) nachlässt. Ein Aufenthalt in Grenchen also.
Das «Krebs» erinnert an jene Hotels, die in den Sechzigerjahren an Italiens Küsten in dritter oder vierter Reihe errichtet worden sind. Der Unterschied ist, dass sich einem hier, wenn man die Strassen hinuntergeht, nicht ein Sandstrand eröffnet, sondern ein Industriegürtel, hinter dem nicht das Mittelmeer liegt, sondern flaches Land.
Samstags und sonntags macht das Haus einen verwaisten Eindruck; das dazugehörige Restaurant ist geschlossen. Der Zimmerschlüssel liegt im Milchkasten, daneben ein freundlicher, handgeschriebener Begrüssungszettel von Frau Blümli. Das Zimmer ist frisch renoviert und hell. Die Balkontür führt auf eine kleine Dachterrasse. Auf dem Tisch steht eine Flasche Valser-Wasser. Im Bad empfangen einen wie früher die appetitlich abgepackten Maja-Seifen. Die Sechzigerjahrewanne ist nicht ausgetauscht worden. Sie lädt tief und zuverlässig ein, sich in sie zu legen. Durch die Fenster scheint die Abendsonne. Links sieht man schneebedeckte Alpen. Rechts erhebt sich ein struppiger Hügel, der Grenchenberg. Geradeaus steht eine Kirche. Luxus? Ein helles, ruhiges, sauberes Zimmer mit Dachterrasse, ein Farbfernseher, ein Föhn, keine störenden Nachbarn, kein anstrengendes Begrüssungszeremoniell, nichts als Ruhe und alle Zeit zum Vergeuden.
Auf dem Bildschirm dreht ein roter Ferrari eintönig seine Runden, während woanders der weisse Russe Vitali Klitschko mechanisch auf das verquollene Gesicht eines Schwarzen einboxt. Draussen, neben dem Hoteleingang, liegt eine Buchhandlung im Sterben (Totalausverkauf). Ein paar Schritte weiter stirbt ein Designermöbelhaus (Liquidation; Le Corbusier zum Selbstkostenpreis).
Da das für seine gute Küche bekannte «Krebs» geschlossen hat, gehe ich in eine Pizzeria und esse Fleisch, das in einer roten Sauce schwimmt, deren Geschmack ich als Kind mochte. Dann gehe ich Strassen auf und ab, schliesslich ins Kino. Ein grosser Saal mit tiefen, weit auseinander stehenden Sesseln. In den hinteren Reihen sitzen ein paar Einheimische. Es wird ein frauenfreier Spionagefilm aus Amerika gezeigt. Robert Redford spielt die Hauptrolle, deutsch synchronisiert. Ein ziemliches Durcheinander; etliche Meter von dem belichteten Material scheinen verloren gegangen zu sein. Plötzlich taucht als Überraschung dann doch noch eine Geliebte auf, die aber besser auch von einem Mann gespielt worden wäre.
«Ihr Vorschlag ist so überflüssig wie eine dritte Titte», wird Robert Redford einmal von seinem Gegenspieler zurechtgewiesen. Er kontert mit viel sagendem Lächeln: «Kommt darauf an, was Sie mit den andern beiden anstellen.» Ich kann mich im Kino nie des Eindrucks erwehren, persönlich gemeint zu sein. Hier zum Beispiel wird ganz eindeutig mein Abstecher nach Grenchen verhandelt. Die Vermutung, Robert Redford wüsste mehr damit anzufangen als ich, setzt sich in mir fest.
Der einzige Gast, der ausser mir im Hotel übernachtet, ist ein Sohn, der seinen Vater im Altenheim besucht. Er sitzt beim Frühstück drei Tische von mir entfernt. Wir erschrecken einander mit dem entsetzlichen Geräusch, das die zugeschweissten Deckel verursachen, wenn sie von der Floralp-Butterportionenpackung heruntergerissen werden. Dann und wann fällt draussen auf der Strasse eine Autotür sonntäglich ins Schloss.
Um neun fährt der Bus auf den Grenchenberg. Rentner in fröhlichfarbenen Windjacken sitzen drin und warten. In den Händen halten sie ineinander geschobene Teleskop-Skistöcke aus Leichtmetall. An der Endstation steigen wir alle aus. Der Berg ist nicht hoch, aber oben leer gefegt vom Wind. Eine endlose Magerwiese breitet sich aus, übersät mit gelben, weissen und lila Frühlingsblumen; eine Pracht. Auf der einen Seite bricht die Ebene jäh ab. Es geht senkrecht eine Felswand hinunter. Am Rand wird einem schwindlig; man wähnt sich im Gebirge.
Zurück im Städtchen gehe ich in die Konditorei Rüegsegger mit der kantonal anerkannt besten Solothurner Torte (die man nicht zu kennen braucht; wesentlicher sind die «Meitschibei»). Im Hotelzimmer fährt immer noch der rote Ferrari vorneweg und Klitschko haut auf das inzwischen zermatschte Gesicht. Im Pfarreizentrum Selzach findet die Schweizer Meisterschaft im Armdrücken statt, samstags links, sonntags rechts. Auf rechts habe ich keine Lust.
Da das Hotelrestaurant immer noch geschlossen hat, nehme ich den Zug und fahre ins fünfzehn Minuten entfernte Biel. Das Bahnhofsbuffet dort ist liebenswert verstaubt und unbeholfen. Es macht Freude, darin auf der Galerie zu sitzen, zu essen und an ein Hotelbett zu denken.
Ob das Flooding erfolgreich war und ich den nächsten Halt in Grenchen besser ertragen werde? Möglicherweise fällt mir immerhin die dritte Titte ein und lenkt mich ab.
Hotel «Krebs», Bettlachstrasse 29, Tel. 032 652 29 52. DZ m. F. 130-160 Fr., EZ m. F. 75-110 Fr.
Mittwoch, 12. Juni 2002
Tages-Anzeiger/ Zürich
Der Alpenkranz für dich allein
Das «Bella Tola» im Walliser Dorf St-Luc ist eines der ältesten Gebirgs-Grand-hotels. Dort überfällt einen, wie selten, fieberhafte Lust, die Koffer zu leeren.
Von Matthias Zschokke
Das Val d’Anniviers im Wallis ist längst kein Geheimtipp mehr. Früher lebten hier Bergbauern, von deren Kultur noch Reste zu besichtigen sind - schwarze Holzschober auf Pfählen mit Kupferkesseln davor, Hörner, Schädel und Felle von erjagtem Bergvieh an getäfelten Wänden, da und dort eine künstlich angelegte Bewässerungsrinne nebst Mühlrad.
Ein Dorf, am Südhang des Tals gelegen, sechzehnhundertfünfzig Meter über dem Meer, heisst St-Luc. Vor bald hundertfünfzig Jahren wurde hier eines der ersten Gebirgs-Grandhotels erbaut. Das Wort «Grand» ist nicht ganz passend, aber das Hotel macht Freude. Seine Dielen knarren, winzige Balkönchen hängen windschief vor der vanillefarbenen Fassade, himmelblaue Fensterläden baumeln verwittert in den Scharnieren. Alles wirkt hinfällig, funktioniert jedoch im Detail mustergültig. Die Bettwäsche ist rein und steif wie in allerersten Häusern, die Matratzen stimmen, die Heizung arbeitet vorbildlich, das Bad bietet, was immer man sich von einem Bad nur wünschen kann. Und überall stehen alte Möbel herum. Es kommt selten vor, dass ich meine Koffer leere; hier überfiel mich geradezu fieberhafte Lust, alles auszupacken und in Schubladen zu räumen.
Unten im Haus befinden sich antik eingerichtete Gesellschaftsräume und ein kleiner Festsaal mit schönem Parkett und Deckengemälden. Zur Teezeit brennt im Salon ein Kaminfeuer - ein rundherum sympathisches Haus, angenehm geführt von einem Ehepaar, das den Gast in Ruhe zu lassen versteht und trotzdem immer da ist, wenn er etwas braucht.
Puristen mögen vom Einrichtungsstil vielleicht etwas zu stark an die geliftete Romantik von Laura Ashley erinnert werden, aber das ist Geschmackssache. Ebenso wie die Schalen voller mit ätherischen Ölen getränkter Hobelspäne und getrockneter Blüten, welche den Raumduft dominieren. Ich halte diese Mode für eine Verirrung, ähnlich der, Streudosen voller Geschmacksverstärker auf Restauranttische zu stellen. Zumal die Luft, die hier oben durch die Fenster hereinströmt, dermassen gut riecht, dass es eine Sünde ist, sie mit Parfüm zuzudecken. Wobei das mit der Luft in den Schweizer Bergen so eine Sache ist: Immer wieder wird man als argloser Tourist dazu gezwungen, diese zu schätzen und zu loben - was für eine Luft! atmen Sie! das bekommen Sie bei sich zu Hause bestimmt nicht so schnell wieder geboten! -, sodass viele für den Rest ihres Lebens die Nase voll haben und allergisch auf würzige Gebirgsluft reagieren.
St-Luc ist im Winter ein Ziel für Skifahrer, im Sommer und Herbst eins für Wanderer. Wer weder das eine noch das andere ist und sich davor fürchtet, während der Saison als Spielverderber und Miesepeter unangenehm aufzufallen, dem sei der Frühsommer empfohlen.
Da hat man das Hotel ganz für sich allein, kann sich vor seinem Zimmer ungeniert auf den wackeligen Balkon in die Sonne setzen und lesen, das ausgestorbene Dorf zu seinen Füssen - rundherum nichts als Stille. Die Wanderwege sind verschlammt, die Pisten kahl. Man braucht sich weder um die einen noch um die anderen zu kümmern, kann gleichmütig hinter dem Postauto hertrotten, die trockene Strasse hinauf zum nächsten Dörfchen, wo ebenfalls alles wie ausgestorben wirkt. Dort setzt man sich auf die Bank vor dem geschlossenen Skiverleih, wartet in der Sonne, bis das Postauto zurückfährt. Unten setzt man sich wieder auf den Balkon in die Stille, nicht einmal Vogelgezwitscher stört, nur das Schmelzwasser rieselt. Gehüllt in den grossen, weissen, hoteleigenen Frotteebademantel sitzt man warm da und liest.
Abends geht man ins einzige Restaurant, das geöffnet hat, ein Berggasthof, in dem trübsinnige Musik aus Deckenlautsprechern läuft, Radio Swiss Pop. Hier wird einem gemischter Salat vorgesetzt, den es sonst nur noch ganz selten gibt, diese bunten Schnipsel mit Maiskörnern oben drüber, vollgesaugt mit der bleichen, dicken Tunke, von der ich nie herausgefunden habe, wo es sie zu kaufen gibt. Danach folgt ein fabelhaftes Käsefondue, berieselt von dieser traurigsten aller traurigen Hintergrundmusiken.
Was für eine grandios würgende Trostlosigkeit, wenn draussen vor dem Fenster, auf Augenhöhe fast, dann auch noch die weissen Berggipfel vis-à-vis sich langsam blau verfärben, kurz rosa aufglühen, verglimmen und in petroliger Schwärze versinken, während kein Laut zu hören ist, nur diese Musik und das Schlurfen des kummervollen Wirts, der an den Tisch tritt und nach weiteren Wünschen fragt, lauernd, weil er fürchtet, sie nicht erfüllen zu können, weswegen man keine mehr wagt anzumelden, zumal einem sowieso längst jegliches Wünschen vergangen ist. Das alles hat Grösse, die Wucht der Ausweglosigkeit. Vielleicht sind die Berge schuld daran, die so unverrückbar mächtig dastehen, die Sicht verstellen und jeden dazu zwingen, sie anzustarren.
Reisen neben der Saison ist zu empfehlen. Was für ein königliches Gefühl, allein in einem Grandhotel zu frühstücken, von der Katze des Hauses umschmeichelt; allein in einem Postauto zu sitzen, privat chauffiert; allein in einer Gaststube Swiss Pop zu hören und sich Fondue auftragen zu lassen; einen ganzen Alpenkranz für sich allein zu haben, ihn mit niemandem teilen zu müssen; und alles so grossartig still um einen herum, dass man den chinesischen Fluch zu begreifen beginnt: Möge dein Leben interessant sein.
Grandhotel «Bella Tola», St-Luc, Tel. 027 475 14 44, Fax 027 475 29 98. Ausgezeichnet als «Das historische Hotel des Jahres 2001». Zimmer mit Frühstück zwischen 95 Fr. und 180 Fr. pro Person (saisonbedingt und je nach Aussicht).
Mittwoch, 18. September 2oo2
Tages-Anzeiger/ Zürich