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Die beflügelnde Wirkung des Totalbankrotts



Er schimpft und schwärmt, hadert mit Hamlet, sich selbst und dem Betrieb: „Lieber Niels“ – 1500 elegant-maliziöse Mails des Schweizer Wahlberliners Matthias Zschokke

„Lieber Niels“ ist ein Pakt zwischen Voyeur und Exhibitionist. Über zwei kleine Hürden muss man also vor der Lektüre springen, denn man mag ja nicht in der Mailbox eines anderen herumschnüffeln, und wenn man der Versuchung doch nicht widersteht, dann leugnet man es wenigstens. Und man mag den Exhibitionisten nicht, der einem unverblümt seine Intimereien präsentiert. Wenn man solche Bedenken überwunden hat und mit dem Autor paktiert, dann ist dies der Beginn einer äußerst vergnüglichen und stets diskreten Komplizenschaft.

Insbesondere weil Matthias Zschokke ein umgekehrter Exhibitionist ist: Er zieht sich nicht aus, sondern an. In den rund 1500 E-Mails, die der 1954 geborene Schweizer Autor und Wahlberliner zwischen 2002 und 2009 an seinen besten Freund, den Publizisten und Autor Niels Höpfner gesendet hatte, kleidet er das, was er empfindet und denkt in eine Sprache, die leicht und präzis ist, dabei lebendig und von großer Anschaulichkeit. Und zwar egal, ob es sich um DSL-Internetzugang, Don Karlos, Hausschuhe aus Schangnau, Peter Hamm, The Wrestler, die Ostsee, das Rosamunde-Pilcher-Land, Mayröcker, Alterserscheinungen oder Mietzinserhöhungen handelt.

Zschokke beschreibt seine Alltage mit einer Aufmerksamkeit fürs Detail, die den Ereignissen auf der Straße, Zuhause, auf Reisen, im Kulturbetrieb, in den Zeitungen, am TV eine Gleichwertigkeit verleihen, die dem Leben mit all seinen Facetten Respekt zollt. Das Schwergewicht liegt dennoch auf Seiten der „Hochkultur“, der Vorder- und Hinterbühne des Kulturbetriebs in Deutschland und der Schweiz, woraus der Hauptanteil des immensen Personals stammt, das hier auftaucht, Literaten, Schauspieler, Regisseure, Kritiker, Kulturattachés, Verleger, Professoren. Lektüren, Theater-, Konzert- und Kinobesuche führen zu empörten Verrissen und zu Lobeshymnen, ebenso die Urlaubsreisen, Lesereisen und längeren Auslandsaufenthalte, die ihm während dieser Jahre als Writer in Residence gestiftet wurden, in Budapest, Amman und New York.

Eine ganz persönliche Kulturgeschichte und -auseinandersetzung des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts also, und eine zeitgenössische Illustration zu Pierre Bourdieus „Die Regeln der Kunst“: Das Feld der deutschsprachigen kulturellen Produktion wird kommentiert aus der Position eines teils arrivierten Schriftstellers, Dramatikers und Filmemachers, der zwar Preise erhält, finanziell aber stets dem Totalbankrott nahe ist. Der um Lebensunterhalt und Lebensqualität und seine künstlerischen Projekte kämpft und bangt.

Es ist aber nicht etwa eine gehässige Abrechnung mit dem Betrieb, der ihn zu stiefmütterlich behandeln würde, dafür ist Zschokke viel zu wenig verbittert, viel zu lebenshungrig, viel zu humorvoll, viel zu klug. Es ist die Geschichte eines „armen Poeten“, der nicht anders kann und dies sehr überzeugend. Es ist ein Plädoyer für die reine Kunst im Zeitalter ihrer kommerziellen Verwertbarkeit, ihre Verteidigung gegen bloßes, trickreiches Handwerk, „Klassenprimus-Prosa“, intellektuelles „Wortgeklingel“, textvergessenes und videobesessenes Theater. Das klingt manchmal düster, manchmal boshaft, manchmal verzweifelt, niemals kalt, oft komisch und umso beglückender, wenn Zschokke Euphorie und Begeisterung befallen.

Über Thomas Mann regt er sich wunderbar auf, über die „Reich-Ranicki-Kultur“, Castorf, über das „Geschwurbel“ in Shakespeares Hamlet: „ ,Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedanken Blässe angekränkelt.‘ Wie bitte?“ Oder über eine Aufführung von Jonathan Meese: „Insgesamt hatte ich den Eindruck, Meeses Dramaturgie hatte es darauf abgesehen, seinen Tanten einen Schreck fürs Leben einzujagen. In der Aufregung hatte er aber nicht daran gedacht, dass seine Tanten in Oldenburg leben und dem Ereignis gar nicht beiwohnen konnten. So saßen da lauter Berliner, die sich zu Recht nicht gemeint fühlten, und warteten darauf, dass sich die Angelegenheit mit seinen Tanten erledigen würde. Irgendwie tat sie das aber nicht. Immer wieder zog er brüllend schreckliche Grimassen und tauchte hinter einer Ecke hervor.“ Bei allem Geschimpfe und aller Schärfe gegenüber Kollegen und Kolleginnen – er bleibt dabei immer nah an der Sache dran. Keine Häme, keine Missgunst, und um seinen Neid weiß Zschokke selbst.

Begeisterung zum Beispiel angesichts von Joaquin Phoenix: „Eine Jahrhundertsensation, dieser Mann; ein Marlon Brando, ein James Dean.“ Nach einem Abend in der Komischen Oper: „Händels Alcina, von einem Engländer fabelhaft dirigiert, mit einer Einspringerin aus England als Alcina, die so wunderschön gesungen hat, dass mir die Tränen in die Augen gestiegen sind. Ich saß da mit Gänsehaut und war glücklich. So traurig, so licht, so überirdisch. Wahrscheinlich habe ich einen zukünftigen Weltstar gehört. Vier Stunden lang, bis zuletzt, jeder Ton einfach da, wo er sein sollte, ganz selbstverständlich, uneitel.“

Zu Genazino: „Neben ihm zu lesen ist zum Verzweifeln. Er ist zur Zeit absolut auf der Höhe seines Könnens. Die Passagen, die er ausgewählt hatte (aus dem neuesten Buch), waren makellos. Die Pointendichte enorm. Er las brillant. Er sprach brillant (klug, druckreif, leicht verständlich, ernst).“ Aber auch Karl Lagerfeld, ein deutscher Schlager, ungarischer Wein, Krakau, Italien, die alten Museumswärterinnen in St. Petersburg oder die deutsche Fußballnationalmannschaft der WM 2006 und EM 2008, deren Gelingen Berlin in ein einziges freudiges Fest verwandelte, bringen Zschokke zum Schwärmen.

Es ist ein Buch, bei dem man keinen Tag überspringen möchte, auch wenn man ahnt, dass alles sich immer im etwa Gleichen fortbewegen wird, aber im Kleinen ist das Leben unberechenbar, es hält Dutzende Minigeschichten bereit, zum Beispiel die traurige des Herrn Möckli, Nachtportier im Hotel Limmathof in Zürich, oder jene vom Flusskrebs, der eines Tages im Hof von Zschokkes Ateliers in Wedding liegt, und für dessen Fleisch sich nicht einmal mehr die Vögel interessieren. Und irgendwie hofft man romantischerweise dennoch auf Großes, dass er das Filmprojekt „Die Unvollendeten“ durchbringen wird, die nötigen Gelder erhält, die Produzenten mitziehen.

Man will wissen, wie es dem Buch „Maurice mit Huhn“ ergeht, welches 2003 plötzlich fertig geschrieben ist – sozusagen zwischen den dokumentierten Tagen entstanden –, ob der Ammann-Verlag sich dafür engagieren wird, wie die Kritiker und Leser darauf reagieren werden, und nimmt gerne an jeder Lesung teil, die Zschokke mit einem lächelnden und einem zugekniffenen Auge zu halten nicht drumrum kommt. Es ist ein Reisebuch mit unzähligen Restaurants-, Hotel- und Ausflugstipps in Klein- und Großstädte und unbedeutende Gegenden, und man wird von diesem heftigen Reisefieber angesteckt. Sogar Zürich entdeckt man neu. Berlin sowieso. Aber auch Krakau, Amman, Budapest, die Ostsee, St. Petersburg oder die Côte d’Azur.

Wenn man nicht schon Zschokkes „Auf Reisen“ (2008) kennt, dann kann auch „Lieber Niels“ als Reiseführer und Inspiration dienen. Und nicht zuletzt bewundert man die Freundschaft dieser zwei Männer, die sich gegenseitig unermüdlich anregen und antreiben, aufmuntern und schelten, herausfordern, beraten und bisweilen heftigst streiten: über Moscheen in Köln, Obama, Handke, Arabien. Ein plastischer Dialog, obwohl die andere Stimme nur als Leerstelle da ist, reflektiert allein in Zschokkes auf den Freund bezogenen Antworten, Fragen und Kommentare. Als „exzentrisch, egoman & extravagant“ führt Niels Höpfner dieses Buch ein. Man möchte es lieber elegant, eigenwillig und ehrlich nennen, mal saignant, mal à point, mal bien cuit, durchzogen von köstlicher Ironie und maliziösem Humor. Ein kunterbunter Schatz, eine Zeitkritik eines in vielerlei Hinsicht unzeitgemäßen, aber stets gegenwärtigen Dichters.

SUSANNE GMÜR, "Süddeutsche Zeitung", München, Nr.94, 23./24./25.4.2o11