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Aus dem Leben des Fuchtlers

Aus dem Leben des Fuchtlers

Matthias Zschokke






In der Etage unter ihm waren zwei neue Mieter eingezogen. Er rasierte sich, zog ein frisches Hemd an, saubere Hosen, stieg die Treppe hinunter und klingelte an der fremden Wohnungstür. Den Mann, der öffnete, begrüßte er mit einem aufmunternden:

„Herzlich willkommen! Erschrecken Sie nicht. Ich bin Ihr zukünftiger Nachbar im Stock über Ihnen. Da dies ein neuer Abschnitt ist in Ihrem Leben und Sie in diesem bestimmt alles besser machen wollen als in sämtlichen vorangegangenen alten Abschnitten, so wie wir alle jederzeit alles besser machen wollen als bisher... Ach, wer ist das denn, der hier noch hinzutritt? Ihr Lebenspartner? Schön, gleich auch Ihre Bekanntschaft machen und Sie herzlich willkommen heißen zu dürfen in Ihrem neuen Wohnumfeld. Eben setzte ich dazu an, Ihrem Mitbewohner darzulegen, dass wohl davon auszugehen sei, dass er, wie wir alle, bestimmt jeden Tag alles besser machen wolle in seinem Leben als am Tag zuvor. Zu den Dingen, die sich in unser aller Leben verbessern lassen, gehören unbedingt die nachbarschaftlichen Beziehungen. Davon bin ich aus tiefster Seele überzeugt. Nicht, dass ich Ihnen mit dieser Auffassung zu nahe treten will, im Gegenteil, ich will Sie von sämtlichen meiner Auffassungen vielmehr gleich von Anfang an gewissermaßen befreien: Mein Ziel ist, mich künftig so wenig bemerkbar zu machen, wie nur möglich. Abends werde ich das Licht in meiner Wohnung von Stund an nur noch in Notfällen anknipsen und ansonsten im Dunkeln sitzen bleiben. Dadurch will ich versuchen den Eindruck zu erwecken, ich sei gar nicht da, um Ihnen nicht das unangenehme Gefühl zu vermitteln, über Ihnen hocke einer und belauere Sie. Zudem werde ich mir schwere Vorhänge und Teppiche anschaffen, damit Sie nicht belästigt werden von allfälligem Streulicht oder von Trittgeräuschen, die meine Anwesenheit verraten könnten. Sie sollen sich ganz und gar unbehelligt fühlen. Ich wollte mich Ihnen bloß am Tag Ihres Einzugs gleich in meiner vollen Körpergröße präsentieren, damit Sie, wenn wir uns in Zukunft zufällig im schummrigen Treppenhaus begegnen sollten, was unweigerlich dann und wann geschehen wird, nicht in die unangenehme Situation geraten, mich nicht zu erkennen und also als Gelichter einzustufen, das man dementsprechend schlecht behandelt, was Ihnen hinterher bestimmt leid tun würde. Denn ein Nachbar mag zwar nie ein enger Freund werden, doch braucht man sich die ersten Monate oder gar Jahre deswegen noch lange nicht gleich an ihm aufzureiben, wenn man sich einigermaßen vernünftig anstellt und es richtig einfädelt. Genau das will ich mit meiner Ouvertüre bewirken: Dass wir einander von Anfang an als ganz und gar harmlos einstufen. Für unsere erste Begegnung habe ich mich deshalb frisch rasiert und schmuck angezogen. Im Alltag vergesse ich das gelegentlich und erwecke dann einen eher ungepflegten Eindruck. Auch kann es geschehen, dass ich manchmal abgestanden rieche. Lassen Sie sich davon nicht beirren bitte. Nehmen Sie an, ich hätte viel zu tun — oder noch besser: Nehmen Sie an, ich würde wohl dann und wann ausspannen und mir an solchen Tagen erlauben, Eleganz und Körperpflege ebenfalls zu beurlauben. Dass ich allzu oft Zeit für blaue Stunden habe, ist mir selbst am allerunheimlichsten. Doch glauben Sie mir, das wird sich ändern. Die Zeichen, in absehbarer Zukunft von verschiedener Seite mehr gefragt zu sein als heute, stehen gut für mich. So wollte ich erst einmal nichts weiter, als Ihnen mein frisch rasiertes Antlitz zeigen, mein Rücken-, Seiten- und Frontprofil, ganz besonders im Rahmen dieses schwach beleuchteten Treppenhauses, damit Sie sich die schemenhafte Erscheinung einprägen können und sich in den nächsten Ta­gen bei einer zufälligen Begegnung davor nicht erschrecken. Umgekehrt war ich aus denselben Gründen neugierig, Ihr Äußeres kennen zu lernen — ein sympathisches, wie ich zu meiner Freude und Beruhigung feststellen kann. Verzeihen Sie, wenn das eben wie eine Schmeichelei geklungen haben sollte. Ich hasse Schmeicheleien und Anbiedereien jeglicher Art. Um das mir versehentlich entglittene Kompliment gleich wieder einzufangen und zu neutralisieren, erwähne ich die Kinnpartie des von mir aus gesehen linken von Ihnen beiden, die mir ziemlich angespannt vor­kommt, was auf ein gesundes Durchsetzungsvermögen und Selbstbewusstsein, um nicht zu sagen: auf eine gewisse Rücksichtslosigkeit schließen lässt. Aber lassen Sie uns einander nicht gleich bei der ersten Begegnung schon zu nahe treten... Heißt das tatsächlich: Lassen Sie uns einander? — Ist Ihnen auch schon aufgefallen, wie hinderlich Zweifel aller Art sind? Fliehen Sie Zweifel! Vor allem: Zweifeln Sie nie an sich selbst oder an eigenen Überzeugungen und Einschätzungen, sonst wird Ihnen Ihr Leben zur Last. Seien Sie glücklich, diese Wohnung gemietet zu haben, behaupten Sie sich darin von Anfang an als Mieter mit allen Ansprüchen und Rechten. — So, das war's fürs Erste, wenn ich mich nicht täusche. Hoffentlich habe ich nichts vergessen. Lassen Sie mich bitte rasch meinen Merkzettel durchsehen und überprüfen, ob ich sämtliche Punkte erwähnt habe, die zu diesem frühen Zeitpunkt der Rede wert sind... Doch, ja, es sieht ganz danach aus. So bleibt mir nur noch übrig, Ihnen herzlich zu danken für Ihre Aufmerksamkeit und Ihnen einen schönen Abend zu wünschen."

Damit reichte er den beiden neuen Mietern die Hand, drehte sich einmal um sich selbst, um sie über keine seiner Ansichten im Unklaren zu lassen und wirklich nichts vor ihnen zu verheimlichen, ging zurück in seine eigene Wohnung und schloss erschöpft die Tür hinter sich. Seine Verlobte fragte: „Was hast du?" Er flüsterte: „Nichts, nichts, ich habe mich nur schnell bei den neuen Nachbarn unter uns vorgestellt."

Die beiden frisch eingezogenen Mieter waren entzückt, einen solch aufmerksamen Nachbarn zum Geschenk bekommen zu haben. Sie warteten die folgenden Tage hinter ihrer Tür fast sehnsüchtig auf ein Geräusch im Treppenhaus, um sofort hinaustreten und - wenn er es war - ihn herzlich begrüßen und ihm einen schönen Tag wünschen zu können. So hatte er den Anfang also richtig gemacht und konnte sich auf die folgenden Monate freuen, in die er historisch betrachtet als vorbildlicher Nachbar eingegangen sein würde.

Oft steigen in ihm Überlegungen auf, die ihn beschämen und ihn in aller Öffentlichkeit unvermittelt den Kopf über sich schütteln und Grimassen ziehen lassen, manchmal sogar begleitet von heftigem Gestikulieren, weswegen er von einigen der Fuchtler genannt wird. Doch jeder, der genug Zeit hat, sich über sich selbst Gedanken zu machen, kennt das. Man entdeckt ganze Fuder von Fehlern, die man mit sich herumschleppt und über die man, wenn sie einem in den Sinn kommen, unwirsch den Kopf schüttelt. Und je mehr Muße man hat, desto schwerer lasten die eigenen Unzulänglichkeiten auf einem, und man sieht ein, warum man solche Unmengen von freier Zeit für sich hat: Weil selbstverständlich keiner mit einem, der von so vielen Fehlern behaftet ist wie man selbst, etwas zu tun haben will.

 

Kurz nach dieser ersten Begegnung wurde der Fuchtler am anderen Ende der Stadt zu einem Stehempfang eingeladen. Einer der anwesenden Gäste erläuterte am Büffet, wenn alles teurer werde, sei es normal, dass alles teurer werde, da in einem Umfeld, in dem alles teurer werde, jeder dumm wäre, der seine Preise nicht ebenfalls anheben würde. Es ging im Konkreten um die schwindelerregende Preisentwicklung auf dem freien Wohnungsmarkt. Die Miete des Fuchtlers war innerhalb weniger Jahre um hundert Prozent gestiegen mit der Begründung, schließlich werde überall auf der Welt alles teurer, man könne für seine Wohnung heutzutage gut und gern sogar das Dreifache verlangen, so groß sei die Nachfrage; wenn er den geforderten Preis nicht bezahlen wolle, könne er ja gehen, man finde leicht einen Ersatz für ihn. Gegen die seiner Meinung nach überrissenen Forderungen bäumte er sich auf und sagte kaum hörbar, er wolle lieber bleiben, führe bloß mit dem Bezahlenkönnen einen kleinen Disput.

Wenn er über praktische Dinge reden muss, spreizen sich ihm oft die Sätze. Die Stimme rutscht ihm dann in den Hals, und er greift nach Wörtern, die nicht unbe­dingt das Beiwort „treffend" verkörpern, mit denen er dafür aber um so mehr die Hoffnung verbindet, es stände in ihrer Macht, die raue Wirklichkeit zu entschär­fen.

Nachdem er seine Schwierigkeiten mit dem Bezahlenkönnen erwähnt hatte, fuhr er also fort: „Mit diesem Scherz wollte ich darauf hinweisen, dass sich das Können und das Wollen in meinem Fall geradezu austauschen ließen." - „Wie bitte?" - „Ich  meine, auf schalkhafte Art ausgedrückt zu haben, dass ich nicht bezahlen kann und trotzdem bleiben will, anstatt, wie Sie sagten, nicht bezahlen will und also gehen kann... Ich sehe schon, meinem Versuch, dieser Unterhaltung eine Prise Pfiff beizumengen, ist das Glück des Gelingens nicht beschieden." Am Stehempfang war - für jeden Leser leicht erkennbar - das Thema globaler Immobilienmarkt zur Sprache gekommen, wobei die Meinung vertreten wurde, wo mehr Miete verlangt werden könne, müsse mehr Miete verlangt werden, weil man tun müsse was man tun könne. Und ohne im Entferntesten daran gedacht zu haben, begriff der Fuchtler, dass seine Anstrengungen, den neuen Mietern in seinem Haus ein vorbildlicher Nachbar zu sein, zwar zu positiven Ergebnissen geführt haben mochten, dass er diese Anstrengungen aber eher als eine Art Fingerübung betrachten sollte, die er in naher Zukunft, gewissermaßen aus dem Handgelenk oder Effeff, an einer neuen, kostengünstigeren Adresse, diesmal aus der entgegengesetzten Warte, nämlich der des Neuzuzüglers, auf ihre Tauglichkeit hin würde überprüfen müssen.

 

Dieses Kapitel soll gelesen werden als ein finanzwirtschaftskritisches: Es gibt keinen Grund dafür, dass die Wurst teurer wird, außer demjenigen, dass alles teurer wird. Und alles wird teurer, weil die Wurst teurer wird. Genaueres darüber ist in Fachbüchern über Struktur und Dynamik von Wurstpreisen nachzulesen. Den Stehempfang verließ er bald. Was es dort zu essen und zu trinken gab, hatte ihm vorzüglich geschmeckt. Zu Hause machte er kein Licht im Treppenhaus und ging auf Zehenspitzen. Er mochte nicht begrüßt werden von seinen neuen Nachbarn. Er wusste nicht, was er hätte erwidern sollen. Sonderbarerweise war er nämlich bereits nach vierzehn Tagen vorbildlicher Nachbarschaft vollkommen erschöpft von seinem täglichen Guten Morgen, wie geht's? Guten Abend, wie steht's? Er brachte es nicht mehr über die Lippen. Er wartete an der Hausecke - wenn er sah, dass die Nachbarn vor ihm nach Hause kamen oder das Haus gerade verließen - solange, bis er davon ausgehen konnte, dass die Luft rein war.

Einer, der keine Arbeit hat, stürzt sich auf jede Kleinigkeit, die es zu tun gilt, mit wahrer Gier, in der Hoffnung, sich an dieser Tat beweisen zu können, um bald mehr zu tun zu bekommen. So hatte sich der Fuchtler beispielsweise eben auf die Frage, wie man im Treppenhaus den Nachbarn jeden Tag frisch und ohne Abnut­zungserscheinungen begrüßen könnte, mit der Intensität eines Studienabgängers gestürzt, der zum ersten Mal in seinem erlernten Beruf tätig werden darf. Und sag­te dann sein „Guten Tag" mit einem solch diabolischen Grinsen und irren Flackern im Blick, dass jeder ordentliche Familienvater erschreckt seine Kinder an die Hand genommen hätte, falls er ihm begegnet wäre — was ihn begreiflicherweise ziemlich bedrückte.

Er bewunderte, wie die anderen rund um ihn herum ihren Alltag bestanden und wie sie aushielten, was sie machten, was sie dachten, was sie sich wünschten und was ihnen nicht gelang. Er bewunderte ihren Mut, den Mut zur Liebe, den zur Einsamkeit, den zur Verzweiflung, den zur Hoffnung und den zum Irrsinn.

Aus: Corinne Martin – Elias Schafroth (Hg.): - WAS AUS MIR WURDE CE QUE JE DEVENAIS -. Bern: a plus trois éditions 2oo8