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Mundgedrehte Filme

Mundgedrehte Filme

 

Matthias Zschokke Eröffnungsrede zur Vernissage der Ausstellung „Dichter am Apparat“ im Museum Strauhof, Zürich, am 22.09.09

 

Matthias Zschokke beim Film Meeting Bergamo 1986

Wer sich zum sogenannten Autorenfilm bekennt, gilt als Sonderling; wer sich mit Filmen von Literaten beschäftigt, geradezu als abartig. So einem würde man durchaus zutrauen, am Feierabend auch noch freiwillig in einem Motettenchor mitzuwirken oder Anhänger einer satanistischen Sekte zu sein – oder doch immerhin Veganer.

Auch Hörspielautoren versprühen wenig Attraktivität; sie werden in der Literaturszene als Mauerblümchen behandelt. Netzliteraten treiben sich erst recht im Abseits herum.

„Dichter am Apparat“ hat man sich somit vorzustellen wie Zeugen Jehovas. Sie stehen an windigen Straßenecken und bieten stumm ihre Erzeugnisse an.

 

Ich konzentriere mich auf die filmenden Dichter. Was macht einen zu einem solchen? Die Tatsache, dass ich als erstes mit einem Roman an die Öffentlichkeit getreten bin, als zweites mit einem Theaterstück und erst als drittes mit einem Film? Wäre folglich ein Filmer, der später anfängt Bücher zu schreiben, ein dichtender Filmemacher im Unterschied zum filmenden Dichter? Ich glaube nicht. Es geht vielmehr um den Knick in der Optik, den man Dichtern offensichtlich zuschreibt.

Keinem filmenden Bäcker oder filmenden Tierarzt wird jemals mit demselben Misstrauen begegnet wie einem filmenden Dichter, obwohl Film sehr viel mehr mit dem Handwerk des Erzählens zu tun hat als mit dem des Backens oder dem des Entwurmens: Dichterfilme werden grundsätzlich mit sorgenvoller Miene betrachtet, ja, mit Mitleid, ähnlich wie mundgemalte Bilder. Man hält sie für „Filme trotz allem“ in Analogie zu den „Pfadfindern trotz allem“. Und in der Tat handelt es sich bei ihnen meistens um eigenartig verwachsene Wesen mit zwei Köpfen, dafür ohne Unterleib, oder mit nichts als Unterleib, dafür ohne Kopf.

Warum sie so schief herauskommen, weiß ich nicht. Es war schon so, als ich noch zur Schule ging: Filme von Dichtern wurden nicht freiwillig angeschaut, sondern immer nur aus Pflicht. Als Schüler schleppte man sich unlustig in die Aula, wo sie gezeigt wurden, und sah etwas, das einen langweilte, was man sich aber nicht zu sagen traute. „Kuhle Wampe“ von Brecht zum Beispiel, oder „Un chant d’amour“ von Jean Genet. Beide musste ich in meinem Leben mehrmals anschauen, von beiden weiß ich nur noch den Mehltau, der sich über mich legte, sobald das Licht im Saal ausgemacht wurde und der Titel aufblendete. Der lähmende Nimbus der Kunst lastete auf ihnen.

Man konnte sich als Schüler entscheiden, entweder zu gähnen und den anderen im Dunkeln Papierkügelchen in den Nacken zu spicken – und sich damit als Banause zu erkennen zu geben –, oder man riss sich zusammen und dachte tagelang über das Gesehene nach, so lange, bis man irgendetwas Gutes daran fand und sich dafür stark machen konnte.

 

Warum ist das so?

Dass ein Dichter mit der Technik grundsätzlich auf Kriegsfuß stehe und von der Wirklichkeit der Dinge keine Ahnung habe, dem Medium also handwerklich nicht gewachsen sei, entstammt dem Vorstellungsarsenal der deutschen Romantik.

Shakespeare und Molière waren in der Lage, große Theaterapparate zu bedienen. Sie waren Praktiker, hatten Ahnung von Geld, von Technik, von Publikumswirksamkeit. Goethe war erfolgreicher Kultusminister, Intendant und Regisseur. Hätte es damals schon Film gegeben, hätten Macher wie sie bestimmt auch auf diesem Gebiet erfolgreich gearbeitet, vielleicht sogar hauptsächlich.

Brecht hat im Theater Kassenschlager produziert. Warum hat man ihn nicht Filme drehen lassen? Hat das mit dem fatalen deutschen Schubladendenken zu tun? Hier ist es ja in der Tat heute noch so, dass selbst die erfolgreichsten Theaterregisseure argwöhnisch beobachtet werden und auf heftigen Widerstand stoßen, sobald sie einen Film drehen wollen. Peter Zadek zum Beispiel hat in den sechziger und siebziger Jahren spannende, unterhaltsame, kinematographisch kühne Werke hervorgebracht, die auch heute noch gezeigt werden könnten – wurde aber ausgebremst und musste das Filmen aufgeben. Oder Luc Bondy, der mehrere Filme gedreht hat, den letzten vor etwa fünfzehn Jahren: Ein verfilmtes Theaterstück von Arthur Schnitzler, „Das weite Land“ mit Michel Piccoli in der Hauptrolle, ein ausgezeichneter Film, der sich im Kino aber nicht durchsetzen konnte, weil ihm das Attribut „literarisch“ und „theatralisch“ angeheftet wurde, was für ihn an der Kasse den Tod bedeutet hat – worauf Bondy als Filmemacher erledigt war.

Manchem filmisch potenten Autor hat das Etikett Dichterfilmer das Genick gebrochen; ich bin einer von ihnen. Nicht dass meine Filme das Zeug zum Blockbuster gehabt hätten, aber ganz so toxisch, wie sie vom Markt behandelt wurden, sind sie nicht. Ich bin sicher, sie würden der Kinolandschaft gut tun, auch heute noch, gerade weil sie nicht in filmischen Schablonen gedacht sind sondern – von mir aus – in literarischen oder theatralischen, jedenfalls in nicht ausgeleierten, nicht ausgelutschten, was immerhin neue Perspektiven und eine andere Sicht eröffnen kann. 

Matthias Zschokke und Adrian Zschokke (rechts) bei den Dreharbeiten von 'Edvige Scimitt'

 

Von vielen großen Filmen habe ich den Verdacht, dass es sich bei ihnen insgeheim um Dichterfilme handelt, nur weiß das niemand, weil die Macher nicht als Dichter in Erscheinung treten. 

Greenaways „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ ist in seiner Wucht reinster Shakespeare, „Breaking the Waves“ von Lars von Trier ebenfalls. Dessen „Dogville“ dagegen ist Brecht, so wie der gern gewesen wäre. „Das Piano“ von Jane Campion wiederum ist eher shakespearesch. Auch „Der Geschmack der Kirsche“ von Abbas Kiarostami ist durch und durch literarisch-philosophisch.

Vielleicht könnte man sogar behaupten, dass Originalgenies ihre Visionen heute nicht mehr erst in die abstrakte Form der Schrift übertragen, sondern sie gleich bleibend umsetzen, in die Bilder und die Klänge, die ihnen vorschweben? Sind die herausragenden Filme unserer Zeit das, was ein heutiger Euripides, ein heutiger Flaubert oder ein heutiger Tschechow der Nachwelt hinterlassen? Wären Romane und Theaterstücke dann künftig eher der Konzeptkunst zuzuordnen?

 

Auf dem Markt funktioniert diese Einteilung vorläufig noch nicht. Würde man in den entsprechenden Presseheften erklären, Kiarostami sei ein iranischer, Lars von Trier ein dänischer und Greenaway ein englischer Dichter, würde das Publikum sich kaum in deren Filme locken lassen. Einen Handkefilm schaut sich nach wie vor niemand an wie einen Repertoirekinofilm. Selbst einen Film von Wim Wenders schaut man sich anders an, wenn man weiß, dass das Buch von Handke ist. Nur wenn man sicher ist, dass hinter einem Film kein literarischer Ehrgeiz steht, nähert man sich ihm unvoreingenommen.

Die meisten Leute, die von sich behaupten, sie seien passionierte Kinogänger, kriegen lange Zähne, sobald man ihnen vorschlägt, in einen Dichterfilm mitzukommen. Auch mir ergeht es heute noch so.

 

Hat man sich dann aber erst einmal zusammengerissen und sitzt neben sieben anderen Eigenbrötlern in großem Abstand voneinander im Programmkino und lässt sich auf so einen Literatenfilm ein, dann kann man in den Genuss von raren Empfindungen kommen. Erstens stärkt einen das Gefühl, man werde als Konsument wertgeschätzt und ernst genommen. Ich fange an, mitzudenken über das, was er wohl meinen könnte. Ich fühle mich gefordert. Das klingt pädagogisch, altjüngferlich. Das wäre es aber nur, wenn der Dichter mein Mitdenken als Ziel deklarieren würde. Der ist in der Regel jedoch weit davon entfernt. Er träumt davon, seine Zuschauer so zu verwöhnen, wie es die Virtuosen aus Hollywood verstehen, nur weiß er nicht, wie das geht. Der Film eines Dichters ist meistens ein einziges großes Scheitern, für das er sich von Bild zu Bild schämt und den Zuschauer um Nachsicht bittet. Verstehen Sie das nicht ironisch: Ein erwachsener, erfahrener Kinogänger kann sich von einem Literatenfilm allen Ernstes begeistern lassen, wenn er ihn nicht mit dem Verdacht anschaut, der Autor fühle sich als etwas Besonderes, der Film sei mit Absicht so hölzern, unnahbar, hermetisch wie er ist. Der Literat konnte es nicht besser. Der Zuschauer hat die Chance, den wunderbaren Film im Kopf zu komplettieren, den der Dichter gern geschaffen hätte.

 

In meiner „Edvige Scimitt“ zum Beispiel gibt es – ziemlich am Anfang – eine Szene in einem englischen Park. Sie spielt vor einem gemalten Prospekt mit einer Parklandschaft drauf. Ein paar Papiermachébäume stehen herum. Ein schönes Dekor. Die Kamera fährt langsam auf zwei Darsteller in diesem Park zu, die miteinander reden. Gefilmt haben wir in einem ehemaligen Ballsaal, den wir als Studio benutzten. Der Boden war altes Tanzparkett, das wir mit einer braunen Plane abgedeckt und mit Laub bestreut hatten. Leider knarrte es, wenn die Kamera drüber fuhr. Ich war jung und dachte, das sei nicht so schlimm, der Zuschauer werde schon abstrahieren können. Jedermann sehe ja, dass es sich nicht um einen wirklichen Park handle, sondern um einen fiktiven. Also werde man das Knarren sogleich akzeptieren und für sich in ein geheimnisvolles Parkrauschen oder Krähenkrächzen umdeuten. Die Zuschauer dachten aber, ich wolle mich über sie lustig machen. Sie fanden das Geknarre grotesk. Sie fühlten sich beleidigt und rebellierten. Wenn sie mit der nötigen Nachsicht eines souveränen Betrachters geschaut und gehört hätten, hätten sie großzügig über das Missgeschick hinweggeschaut und das Dahinter zu sehen versucht.   

 

Für Dichter sind Figuren und Dekorationen prinzipiell künstlich. Es sind Möglichkeiten. Nie käme einer auf die Idee, etwas so aussehen lassen zu wollen, als sei es wirklich. Er ist daran gewöhnt, in einem Zeichensystem zu arbeiten, dessen Konstellationen nie einfach die Welt da draußen abspiegeln. Wenn ein Dichter schreibt, es ist heiß, dann ist noch lange nichts heiß. Das weiß er. Er setzt den Leser voraus, der mitspielen mag. Dem gibt er Anreize. Er erzählt vielleicht etwas von Teer in der Luft, von weichem Asphalt, auf dem man mit den Schuhen kleben bleibt, von Zikadengekatter usw. Davon setzt er eins hinters andere und verwendet dafür, je nachdem, wie wichtig es ihm ist, unangemessen viel deskriptive Zeit. Ein Filmer, der im Film Hitze haben will, lässt seine Schauspieler die Augen zusammenkneifen wegen der grellen Sonne, lässt sie mit Wasser voll spritzen, damit sie aussehen, als würden sie schwitzen – er reichert das Bild und den Ton an mit Signalen aus der (Film-)Wirklichkeit und lagert sie übereinander, so lange, bis auch der Hinterletzte im dunklen Saal sieht, dass Hitze gemeint ist, und zwar auf einen Blick. Der Dichter glaubt nicht daran, dass jemand Kranenwasser für Schweiß halten könnte. Es bleibt für ihn Kranenwasser. Dieser grundsätzliche Zweifel – der prinzipiell vorhandene V-Effekt –, macht es dem breiten Publikum schwer, sich auf Dichterfilme einzulassen.

 

Außerdem sind Literaten der Überzeugung, dass über die wichtigen Dinge des Lebens nicht gesprochen werden darf, weil die sich sonst verflüchtigen – so wie man den Heinzelmännchen zu Köln nicht bei ihrem Wirken zuschauen darf, wenn man sie sich erhalten will. Die Geliebte in einem Dichterfilm lässt sich von ihrem Liebhaber höchstens kurz streicheln, stumm. Dann stehen die beiden so da, die Sonne scheint, der Regen fällt, der Film zittert und stampft vor Ort – und das Publikum schaut sich irritiert um. Ein paar, die wissen, wie Kino zu sein hat, denken: Leg sie flach, du Heini! Doch der Liebhaber tut nichts dergleichen, sondern er zieht sich zusammen mit seiner Geliebten dezent zurück. Alles in Dichterfilmen taucht eher unfreiwillig auf der Leinwand auf, und alles macht sich, so bald als möglich, auch wieder aus dem Staub. Denn wer von Dingen reden will, die ihm wert und wichtig sind, muss sie verbergen, aussparen – erst dann erglühen und locken sie in voller Pracht, und alle verzehren sich nach ihnen. Nur das Erahnte, das Schwererhältliche, das Fast-nicht-Erreichbare weckt unsere Gier.

Im Hollywoodfilm hingegen werden Märchen erzählt. Da wird dick aufgetragen und in die Höhe gehalten, vor die Linse, mit dem Finger drauf gedeutet und laut ausgesprochen, worum es geht, damit möglichst viele es wahrnehmen können.

Das ist vielleicht einer der Hauptunterscheidungspunkte: In Dichterfilmen sind die Perlen versteckt, die es als Zuschauer zu entdecken gilt, in Hollywood werden sie mit Glanzlack besprüht, ausgeleuchtet und auf dem Präsentierteller kredenzt.


Ingrid Kaiser und Matthias Zschokke beim Film Meeting Bergamo 1986

 

Ein weiterer Unterschied ist das Fehlen von Stereotypen in Dichterfilmen. Im Kommerzfilm wird viel und gern zitiert. Die femme fatale, der Lebemann, der Zuhälter, die hoffnungslos Liebende, der Gigolo, der gerissene Einbrecher, der Kommissar – alles Hohlformen, die wir aus dem Leben kaum kennen, die wir höchstens nachahmen im Leben, weil wir sie schon so oft vorgeführt bekommen haben im Kino. Hinter jeder dieser Figuren steht ein „You know what I mean“. Dichter – die das wirklich sind – haben den Ehrgeiz, eigene Figuren und Geschichten zu zeigen, eigene Geschöpfe zu erfinden, Rohlinge, an denen noch dies und das fehlt oder stört, die erst ausprobiert und noch modifiziert werden müssen.

 

Das macht Dichterfilme schwer verkäuflich, was zur Folge hat, dass sie das Geld, das sie kosten, selten einspielen – und also nur höchst ungern, zur Zeit fast gar nicht mehr finanziert werden. Das ist schade und wird sich rächen. Denn ohne dann und wann einen Knick in der Optik zuzulassen, werden Filme immer uniformer und absehbarer.

  
Ich weiß: Film ist nicht in laufende Bilder übersetzte Sprache, sondern Film ist Film, so wie Musik Musik ist und Malerei Malerei. Die Versuche, ein gutes Gedicht in Malerei oder in Musik zu übersetzen, missglücken in der Regel. Vielleicht ist das der Fluch, der auf Drehbüchern von Literaten liegt: Es ist Literatur, es sind aufgeschriebene Filme, was vielleicht so etwas ist wie aufgeschriebene Düfte. Trotzdem bleibe ich dabei: Wenn sie in Filme ungesetzt würden, würden sie unsere Kinolandschaft mit ihrer Andersartigkeit bereichern; sie könnten unsere Blicke schärfen und unsere Empfindungen weiten.

Ich hoffe, die Ausstellung weckt Sehnsucht nach solch andersartiger Kost.


ZSCHOKKES FILME:

   Edvige Scimitt

   Der Wilde Mann

   Erhöhte Waldbrandgefahr