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Schau die Sternschn ... schon vorbei



Anleitung für ein Wochenende in der neuen alten Hauptstadt Berlin

Von Matthias Zschokke


Die Luft, die einem auf dem Bahnhof Zoo entgegenschlägt, riecht nicht gut. Es ist eine Mischung aus Ketchup, altem Frittieröl, Erbrochenem, Urin und Glasklar (so heisst das Putzmittel, mit dem hier von Schmuckauslagen bis Konditoreivitrinen alles poliert wird). Falls Ihr Gepäck nicht allzu schwer wiegt und Sie ein Hotel in der Nähe gebucht haben, machen Sie sich zu Fuss auf den Weg. Zwar stehen genug Taxis vor dem Bahnhof, aber die stehen schon lange da und wollen eine Fahrt, die sich lohnt. Wenn Sie für nur zehn Mark einsteigen, werden Sie keinen schönen ersten Eindruck von der Stadt kriegen. Der Taxifahrer wird Sie niedermachen. Wenn Sie trotzdem eine kurze Strecke fahren wollen, nehmen Sie den hintersten Wagen in der Kolonne.



Freie Zimmer gibt es eigentlich immer. Erwarten Sie nichts Besonderes. Zwar gibt es auch hier so genannte Geheimtipps - lange Zeit galt der "Askanische Hof" als solcher -, aber Berlin ist nicht der Ort für das individuell Romantische. Entscheiden Sie sich für irgendeines. Es ist in der Regel sauber, gross, praktisch, vernünftig im Preis. Mit etwas Geld würde ich in einen der vielen Kästen gehen, ins optimal gelegene "Steigenberger" zum Beispiel oder ins "Savoy", das sogar ein bisschen Aura und Geschichte hat. Auch das "Adlon" würde mich reizen, das 1997 neu eröffnet wurde und Flaggschiff der deutschen Hotellerie sein will - es liegt im Auge des Taifuns; ein Hauch von Bunker, Tresor umgibt das Gebäude wie eine dunkle, schwere Mercedes-Limousine. Mit weniger Geld würde ich eine der herrschaftlichen Charlottenburger Pensionen wählen, zum Beispiel die "Imperator", wenn das Zimmer 10 (zur Not, seufzend, noch die 8) zu haben ist. Sonst vielleicht eine Etage höher versuchen oder bei der "Funk". Die ist zwar reichlich abgehangen - man wirbt glaubwürdig damit, dass im gleichen Haus Asta Nielsen gewohnt hat -, aber ebenfalls grosszügig geschnitten, vor allem das Zimmer P, das jedoch eher etwas für fröhliche Menschen mit Sonne im Herzen ist; die Einrichtung erinnert an die eines alkoholkranken Junggesellen. Das Zimmer 22 ist lustiger, nur leider ohne eigenes Klo. Eine schusselige, gehbehinderte Brauereibesitzerswitwe könnte darin gewohnt haben. Die Betreiber sind sehr freundlich, die Lage ist ausgezeichnet. Falls besetzt: Es gibt in dieser Umgebung viele Pensionen, die meisten sind in Ordnung, zu erwähnen wäre vielleicht noch das "Augusta" mit den Zimmern 25 (!), 29 und 37 oder 36.

Nachdem Sie Ihr Zimmer bezogen haben, werden Sie hinausgehen und sich umsehen wollen. Wo immer Sie abgestiegen sind, wird sogleich das ungute Gefühl in Ihnen aufsteigen, Sie seien an der falschen Ecke gelandet und verpassten gerade die Hauptsache. Achten Sie nicht darauf. Versuchen Sie, die innere Ruhe zu bewahren und zu bleiben, wo Sie sind. Sie werden sonst in die Leere laufen und verzweifeln. Nach Jahren erst lernte ich akzeptieren, dass es in Berlin nirgends besser ist als da, wo ich mich gerade aufhalte. Seither übe ich mich täglich darin, die ewige Angst zu verdrängen, das Glück sei dort, wo ich nicht bin, und versuche, das Schöne im Grauen zu entdecken. Dann fängt die Stadt an, sich zu entfalten.

Halten Sie also das Hotel, in das es Sie verschlagen hat, für das bestmögliche, die gottverlassene Ausfallstrasse, über die Sie sich gerade schleppen, für sehenswert, das Café, in dem Sie aufgegeben haben, nach einem besseren zu suchen, für ein apartes, und Berlin wird zu einer Oase der Erholung. Geniessen Sie den Überfluss an Platz und die Freiheit, die es bietet. Fangen Sie am besten gleich beim Frühstück damit an. Nehmen Sie es im Hotel zu sich. Glauben Sie mir, der Tearoom in Ihrer Nähe existiert nicht, in dem es gemütlicher wäre und besser schmecken würde. Was auf Ihren Teller oder in Ihre Tasse gelangt, gelangt hier überall auf Teller und in Tassen. Schätzen Sie es auf Anhieb, und Sie ersparen sich unnötige Strapazen.

Zwar halte ich es eigentlich für eine Bankrotterklärung vor einer fremden Stadt, in ihr in ein Museum zu flüchten. In Berlin würde ich jedoch eine Ausnahme machen und mir das eine oder andere anschauen, ohne übertriebenen Bildungseifer, einfach so im Vorübergehen, zum Beispiel den dicken Mann in der Gemäldegalerie im Kulturforum, der fabelhaft gehängt und so überwältigend schön ist, dass sich eine Reise hierher schon nur seinetwegen lohnt. Beissen Sie sich dann aber nicht fest an all den übrigen grandiosen Rubens, Dürers, Caravaggios und Rembrandts - nehmen Sie sich grundsätzlich nirgends alles vor, Sie werden es nie schaffen.

Verlassen Sie das Museum halb gesehen, gehen hinüber auf den Potsdamer Platz und trinken dort etwas im ehemaligen "Weinhaus Huth". Gucken Sie sich auf der Speisekarte das Foto an, das den Platz zeigt, wie er vor acht Jahren ausgesehen hat. Dann treten Sie vor die Tür und besichtigen, was seither hingestellt wurde, überqueren die künstlich angelegten Bächlein, stellen sich an den künstlich angelegten See, streunen durch die trostlose Einkaufsarkade und staunen über das, was wir Menschen für wesentlich halten und hervorbringen. Während Sie sich von einem Bau zum nächsten locken lassen, geraten Sie in immer ödere Brachen.

Irgendwann, an der windverblasensten Strassenkreuzung, werden Ihre Füsse streiken. Geben Sie ihnen nach. Winken Sie dem ersten Taxi, das vorüberfährt, und lassen Sie sich zum Kurzstreckentarif (5 Mark) an Ihr nächstes Ziel bringen (falls der Weg weiter als zwei Kilometer ist, springt die Zähluhr automatisch an, und Sie zahlen den Normaltarif). Oder nehmen Sie ein Velotaxi - eine wohltuende, kostengünstige Art, weiterzukommen; die frische Luft ist angenehm; man fühlt sich glücklich wie ein Kind im Wägelchen. Steigen Sie in Bus, Tram, U- oder S-Bahn (kaufen Sie sich auf jeden Fall eine Tages- oder eine Wochenkarte, das lohnt sich immer), und lassen Sie sich zum Beispiel an die Französische Strasse befördern, ins Restaurant "Borchardt". Dort ist der Milchkaffee gut (zwar wie überall mit schändlicher H-Milch zubereitet) und das Essen auch, das Publikum prominent und der Raum grosszügig. Von hier aus können Sie den Bebelplatz, auf dem die Bücher verbrannt wurden, oder den Gendarmenmarkt besuchen, beides ansehnliche Plätze, in deren Umgebung mindestens vier Restaurants um Sterne ringen - das grandios gelegene "Langhans" zum Beispiel oder das "Portalis", das auf solch luftig hohem Niveau kocht, dass man ganz andächtig wird vor den Gerichten.

Und jede Woche kommt eine neue Adresse hinzu. Siehst du die Sternschnupp . . . schon vorbei - so schnell entwickelt sich alles in dieser Ecke. Dann weiter auf die Friedrichstrasse. Suchen Sie nicht herauszufinden, warum die berühmt ist. Gehen Sie ein wenig auf und ab, als sei da etwas. Betreten Sie die verschiedenen Atriumhäuser, besonders natürlich das Quartier 206 mit dem Departmentstore in der ersten Etage, wo es wahrhaft exklusive Dinge und solche zum Wundern gibt. Betreten Sie auch die Autohäuser, Audi, VW, Bugatti, Rolls-Royce. Berliner tun das gern, vor allem sonntagnachmittags. Sie setzen sich dort in die Autos und fotografieren sich gegenseitig.


Christos verhüllter Reichstag (1995)



Danach schauen Sie sich gegenüber im "Grandhotel" um. Das ist das letzte Vorzeigehotel, das die DDR noch gebaut hat. Man liess italienische Architekten einreisen und importierte Marmor und andere noble Materialien aus dem Westen. Da aber das Geld knapp war, fielen die Stockwerke etwas zu niedrig aus, die Fenster etwas zu klein, alle Dimensionen etwas zu gedrungen. Jetzt steht es da, verlacht und ungeliebt, und ist dabei von einer solch heissen Sehnsucht nach Luxus durchtränkt, dass man es am liebsten umarmen möchte. Setzen Sie sich auf die Balustrade im Atrium, und trinken Sie einen Aperitif. Geniessen Sie, wie frei man sich rundum bewegt, ohne jede Kleiderordnung - Berliner ziehen sich nicht besonders appetitlich an; wer Geld hat, zeigts, wer keins hat, auch.

Wenn gerade Sonntagnachmittag und gutes Wetter ist, nehmen Sie nun "Unter den Linden" den Bus 100, steigen im Tiergarten aus, das ist der grosse, zentrale Stadtpark, und spazieren Sie durch die grillenden Leute. Das ist erholsam und hebt jede Laune. Sollten Sie inzwischen von den endlosen Wegen erschöpft sein, kehren Sie zurück in Ihr Hotel, das mit breiten Betten und einem grossen Badezimmer auf Sie wartet. Stellen Sie sich in die Wanne, und brausen Sie die Beine kalt ab. Das wirkt belebend. Nachdem Sie sich erholt haben, gehen Sie essen ins "Diekmann", wo die Bedienung verständig ist und voller Charme versuchen wird, Ihnen den Abend angenehm zu gestalten. Das ist in Berlin selten. Normalerweise sind Kellner und Verkäuferinnen hier eine Plage. Kunden werden grundsätzlich als Feinde betrachtet, die es auszurotten gilt.

Oder vielleicht haben Sie Lust, noch ein wenig in der S-Bahn um den Reichstag an den riesigen Baustellen vorüberzufahren, zum Beispiel zum "Treviso", einem neuen, kühn gelegenen, empfehlenswerten Restaurant gegenüber vom "Pfefferberg", der bei schönem Wetter ein verwunschener, bei schlechtem ein versiffter Szenetreff ist mit sonderbarer Aura. Und so können Sie immer weitermachen, rund um die Uhr, denn es gibt ein reges Nachtleben und keine Polizeistunde, was einen von jedem Erlebnisdruck befreit und um elf friedlich ins Bett sinken lässt.

Was man gesehen haben muss? Nichts. Berlin ist keine Attraktion. Im Sommer trägt es kurze Hosen, cervelatbraune Socken und Sandalen. Seine Beine sind lang, weiss und dick, die Haut teigig. Im Winter trägt es einen auswurfgelben Anorak. Nach dem Fall der Mauer ist es noch dazu ausgelaufen, fängt nirgends mehr an, hört nirgends mehr auf, und eine Mitte, ein Zentrum hat es schon gar nicht. Ein Covent Garden fehlt ebenso wie eine Scala oder ein Louvre. Die Häuser mit Geschichte wurden zerbombt oder abgerissen, andere nach dem Krieg neu gestaltet. Man schlendert deswegen ohne grossen Respekt in die Kulturstätten hinein - und wird dafür von der gebotenen Kunst umso mehr überwältigt. Was für Abende! Schauspieler wie Diamanten, Sängerinnen wie Mondsteine, herrlich! Oder eine Ausstellung im Hamburger Bahnhof, das verstaubte Naturkunde-, das Bode-, das Pergamonmuseum, die ganze Museumsinsel überhaupt, alles ist einfach so da, geöffnet, ohne langes Anstehen und Vorbuchen zu haben; parallel dirigieren Abbado, Barenboim - oder so aufregende Musiker wie Sir Simon Rattle, Schoenwandt, Maazel -, der eine in der Philharmonie, der andere im Konzerthaus - und das Tollste: Nichts von alledem muss man gesehen oder gehört haben. Allein die Tatsache, dass man es könnte, erfüllt einen mit Zuversicht.

Orte, die ich manchmal aufsuche: Fasanenstrasse und -platz, Ludwigkirchstrasse und -platz, Savignyplatz, Giesebrecht-, Mommsenstrasse, Chamissoplatz mit Bergmannstrasse, Kollwitzplatz, den Zoo, die Hackeschen Höfe, die Karl-Marx-Allee, das sowjetische Ehrenmal in Treptow (und wenn es einen schon dort hinunter verschlagen hat, gleich weiter in den Pläntnerwald, einen Park mit Rummelplatz, wie in Romanen von früher), in Potsdam das Schloss Sanssouci mit Park, sicher, ja, dort aber lieber das Neue Palais, am allerliebsten bis Kleinglienicke fahren, dort über die Brücke gehen, dann rechts, dem Jungfernsee entlang zum Cäcilienhof, um den Heiligen See zurück und im Schloss Glienicke Kuchen essen: reinste, schwermütigste Romantik; ein Spaziergang, der für jemanden mit genug Zeit unbedingt zu empfehlen ist. Lebendige Klassiker: Das Kaufhaus des Westens, freitags der Türkenmarkt am Maybachufer, samstags der Markt auf dem Winterfeldtplatz, sonntags der Trödelmarkt auf dem 17ten Juni. Vielleicht noch die hinreissend ächzende Pferderennbahn Hoppegarten.

Für Liebhaber fernen Grauens gibt es nach wie vor maschinengewehrsalvenübersäte Fassaden und eingetrocknete Blutspritzer von erschlagenen Nazi-Opfern zu entdecken sowie Gebäude, in denen noch das ledrige Parfüm verblichener SS-Grössen oder der Desinfektionsgeruch untergetauchter Stasispitzel hängt. Seit die Regierung hierher gezogen ist, tauchen da und dort die Protagonisten der deutschen Tagesschau real auf, gleiten hinter getönten Scheiben vorüber oder springen beschwingt breite Treppen hinauf und hinunter. Autogrammwünsche werden gern erfüllt. Ich halte die Fixierung auf solche Zeiterscheinungen jedoch für zu speziell und empfehle, sich umfassender auf die Stadt einzulassen. Sie ist ein monumentales, zerrupftes, während der letzten zweihundert Jahre pausenlos hin und her geschleudertes Ding. Schichten brachen weg, neue wurden darüber geklatscht. Die einzelnen Teile sind auseinandergerissen und verkehrt wieder zusammengeflickt worden - an allen Ecken und Enden überwältigt einen die Wucht der Vergeblichkeit und drückt einen nieder. Doch unten angelangt, wird man von der Einsicht überrascht, dass man seine Zeit ebensogut zwischen solchen Trümmern und verwehten Steppen falsch verbringen kann wie woanders, dass man sie so oder so nie richtig verbracht haben wird. Und ein Gefühl grenzenloser Offenheit und tiefen Glücks breitet sich aus.


"Tages-Anzeiger", Zürich, 9.9.1999




Berlin par l'écrivain Matthias Zschokke