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Lesung im Heinrich-Heine-Haus/ Düsseldorf, 11. Oktober 2oo6

Der Anzug


In meinem Leben beansprucht Geld geradezu unanständig viel Raum: dauernd denke ich darüber nach, wie ich zu welchem kommen könnte. Wonach man sich sehnt, nimmt in unserer Vorstellung desto schönere Eigenschaften an, je weniger Anstalten es macht, aufzutauchen. Nur was vorhanden ist lässt sich getrost vergessen.

Dass das Schreiben eine brotlose Kunst ist, davon hat jeder schon einmal gehört. Ich will diese Tatsache hier nicht zum elfundneunzigsten Mal aufwärmen. Doch habe ich neulich von einer Ärztin gehört, ihre Eltern hätten ihr als Kind nicht nur von einer künstlerischen Laufbahn abgeraten, sondern ihr jeglichen Kontakt, ja selbst das Sprechen mit Schauspielern, Malern oder Schriftstellern strengstens untersagt, so ansteckend sei ihnen deren Armut vorgekommen. Das gab mir dann doch zu denken. Möglicherweise haben sich diese Eltern manchmal insgeheim gefragt, von was solche Hungerkünstler überhaupt leben. Die Antwort ist: unter anderem von Preisen.

Heute werde ich von der Stadt Bern zwanzigtausend Franken bekommen. Wer einen lebenden Autor und dessen Einkommensverhältnisse kennt, wird sich vorstellen können, was für eine Erleichterung diese Nachricht mir verschafft hat. Schauen Sie sich das obenstehende Jugendfoto an - wir leben schliesslich nicht mehr in der Epoche des Worts, sondern in der des Bilds. Nachdem bekannt wurde, dass ich diesen Preis erhalten soll, bat man mich um ein Foto, das man der Dokumentationsmappe beilegen wolle. Ich schaute meine Bilder durch auf der Suche nach einem vertrauenerweckenden, preiswürdigen Portrait - und wurde blass. Auf fast allen Bildern trage ich diesen Anzug! Das war mir bislang nicht bewusst: Da ich immer nur zu offiziellen Anlässen fotografiert werde, und da ich einen Anzug für das einzig wirklich offizielle Kleidungsstück halte, trage ich auf Fotos immer einen Anzug, und da ich nur diesen einen besitze, ist es halt immer derselbe. Nun ist mir aufgefallen, dass er schon dreizehn Jahre alt ist.

Als ich ihn kaufte, war er in Mode. Man nannte so etwas oversized. Überdies war er mir von Anfang an eine Nummer zu gross. Es handelte sich um ein herabgesetztes Einzelstück. Heute komme ich mir darin eher sonderbar vor. Wenn ich Ihnen jedoch die Gehaltskurve meiner letzten zwanzig Jahre hier aufzeichnen würde, würden Sie verstehen, dass ich ihn nicht in erster Linie aus einem Hang zur Exzentrik gekauft habe und trage, sondern vor allem aus ökonomischer Vernunft.

Dass er zu dieser Preisverleihung ein letztes Mal ans Licht der Öffentlichkeit darf, verdankt er meiner Sentimentalität. Die Feier soll eine Art Gnadenbrot für ihn darstellen. Die Ränder an seinen Ärmeln und Hosenbeinen sind eingerissen, den Kragen kriege ich nicht mehr sauber, die Nähte sind mürbe und platzen - er fällt auseinander. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Da gab es Bauern, die zu wichtigen Ereignissen wie Hochzeiten, Beerdigungen oder Taufen in immer demselben Anzug erschienen sind, ihr Leben lang, um darin zuletzt auch noch in ihren eigenen Sarg gelegt zu werden. Was für Stoffe! Was für Nähte! Was für zeitlose Farben und Schnitte! Sie werden nachvollziehen können, mit welchem Respekt einer, der froh ist um alles, dessen Anschaffung er ein für allemal hinter sich bringen kann, an diese Anzüge zurückdenkt und wie sehr er sich nach einem solchen sehnt. In England kann man sich vielleicht heute noch so etwas schneidern lassen. Dort haben sich ein paar alte Traditionen halten können. Beispielsweise gibt es dort noch Schuhmacher, die einem Schuhe fürs Leben anpassen. Ich habe einen königlich britischen Schuhmacher namens Lobb kennen gelernt. Für mich sind Massschuhe aus Pferdeleder der Inbegriff von Luxus. Auf meine Frage, ob er auch Schuhe aus Pferdeleder herstelle, antwortete Mister Lobb: «Sicher, doch, ja, wenn Sie es wünschen, selbstverständlich. Doch rate ich in der Regel eher ab von Pferdeleder und empfehle unser englisches Boxcalf. Wissen Sie, wenn Pferdeleder nicht wirklich exzellent gegerbt worden ist, kann es nach fünfzehn, zwanzig Jahren anfangen, in den Knickfalten brüchig zu werden. Das sieht dann aus wie Ränder von Briefmarken. Das wollen wir doch alle lieber nicht - ein Schuh soll schliesslich ein paar Jahre halten, isn't it.» Leider ist mein Englisch sehr bescheiden, weshalb ich Mister Lobb nicht ausdrücken konnte, wie sehr mich seine Antwort begeisterte und überzeugte. Ein Mann, der Schuhe, die nach zwanzig Jahren anfangen zu kränkeln, für schnelllebigen Pfusch hält! Ich versprach ihm, wenn ich jemals zu Geld kommen sollte, mir von ihm ein Paar Boxcalfschuhe herstellen zu lassen.

Zurück zum Anzug: Ich werde ihn heute Abend tragen, und Sie werden mich in dieser schütteren, aus der Mode gefallenen Konfektion vor sich stehen sehen können. Das ist das Kostüm, das ich wähle, um Ihnen einen zeitlos aktuellen Preisträger vorzuführen: Dichter verdienen heute wie vor tausend Jahren wenig Geld. Wenn sie nicht aus wohlhabendem Haus kommen oder dem Lehrerberuf nachgehen, sind sie arme Schlucker. Gönnen Sie ihnen jeden Preis und freuen Sie sich mit mir über diesen hier.

Was die Ehre anbelangt, die mit so einem Preis verbunden ist, rückt sie aus der Sicht des Empfängers, wie Sie sich vorstellen können, ziemlich ins Abseits. Man könnte mich mit dem dreifachen goldenen Shakespearekreuz am seidenen Band, der Sophoklesnadel aus Kristall und der Platinfeder sämtlicher Weltliteratur in einem auszeichnen, ich würde den ganzen Bettel leichten Gewissens schultern und mir über die Verantwortung, die ich damit auf mich lade, kein graues Haar wachsen lassen. Ich brauche das Geld. Den Rest halte ich in Ehren.


"Der Bund", Bern, 7.12.2000