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Mit der Wahrheit ist es eben so eine Sache

Gedanken von Walter Schmidinger über die Bühnenfassung von Thomas Bernhards "Alte Meister"

Von Beate Heine

Ein verkrachter Chorknabe ist Thomas Bernhard gewesen. So sieht es jedenfalls Klaus Piontek. Und bevor er die Kantine des Deutschen Theaters verläßt, gibt er noch folgenden Rat: "Walter, erzähl' schön die Unwahrheit." Sein Kollege Schmidinger kontert: "Was meinst du, was ich hier mache." Piontek habe mit seiner Kurzcharakteristik auf der einen Seite völlig recht, erläutert Schmidinger, andererseits aber natürlich nicht: "Denn die Musik hat Bernhard begnadet. In der Prosa und seinen Stücken ist die Musik erblüht."

Mit der Wahrheit ist es eben so eine Sache. Daß aber Bernhard Wahres geschrieben hat, dafür gibt es für Walter Schmidinger keinen Zweifel. Seit über 37 Jahren liest er die Bücher des vor acht Jahren gestorbenen österreichischen Schriftstellers. "Auf alle meine Fragen an das Leben oder die Menschen hatte er Antworten." Walter Schmidinger spielt in den Kammerspielen des Deutschen Theaters seit gestern den Musikphilosophen Reger in der von Regisseur Friedo Solter und Hans Nadolny dramatisierten Fassung des Romans "Alte Meister" von Thomas Bernhard.

Reger geht seit über 30 Jahren jeden zweiten Tag ins Wiener Kunsthistorische Museum. Sein Ziel: Tintorettos "Weißbärtiger Mann". Diese Gewohnheit wird plötzlich unterbrochen. Reger trifft sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit dem Privatgelehrten Atzbacher (Klaus Piontek), weil er sich seine musikwissenschaftlichen Studien nicht ohne die Auseinandersetzung mit der Malerei vorstellen kann - so wie sich bei Bernhard das Schreiben nicht ohne die Musik denken läßt. Und bei Schmidinger die Schauspielerei nicht ohne die Literatur. Er lese immer dasselbe: Schnitzler, Heine, Bernhard, Flaubert. Bei Bernhard paßt er allerdings auf und dosiert ihn. "Er hat einen wunderbaren Humor, aber seine Themen sind ernst und grauenvoll", sagt der 63jährige. "Und gerade ich muß da vorsichtig sein, nicht in eine depressive Stimmung zu verfallen." Schmidinger wandelt auf einem schmalen Grat, seine manisch-depressive Erkrankung hat ihn immer wieder gezwungen, die Bühne für einige Zeit zu verlassen.

Dennoch fühlt sich Schmidinger Bernhard ganz nah. Er habe sich immer überlegt, was Bernhard für ein Mensch sei und eine Traumgestalt entworfen. Bis er ihm einmal in einem Wiener Café begegnete. Lange hätten sie sich unterhalten. Ein unglaublich humorvoller Mensch, schwärmt Schmidinger.

"Bernhard beschreibt den österreichischen Menschen, der in einer Hölle lebt, die er sich selbst geschaffen hat", sagt der Schauspieler. "Der österreichische Mensch hat ein großes Verhältnis zum Tod, er ist leichtsinnig, ist obrigkeitshörig und jammert gern." Schmidinger, der die meiste Zeit in Deutschland Theater spielt - erst in München, dann in Berlin am Schiller-Theater und seit 1995 am Deutschen Theater - spricht solche Worte über sein Geburtsland gelassen aus. Früher schaute er bei Wien-Besuchen schon mal sehnsüchtig zur Burg. Heute zähle etwas anderes. "Wo du die Möglichkeit hast, dich selbst zu verwirklichen - das ist das richtige Theater", sagt er. "Egal wo."

Berliner Morgenpost, vom: 04.10.1997