In der Bahnhofsbuchhandlung überblätterte ich ein
paar Reiseführer. Alle waren sich in einem Punkt einig:
Zu einem Ausflug in die deutsche Klassik gehört "Lotte
in Weimar" von Thomas Mann. Also kaufte ich das
Buch und setzte mich in den Zug.
Die Fahrt ist schön. Links und rechts endlos flaches
Land - das untere Fünftel des Zugfensters einnehmend
-, darüber riesig der Himmel. Manchmal ein knorriger
Baum, ein Teich, ein Wildschwein, dunkle, dicke
Vögel. Man schaut hinaus und wird ganz ruhig.
Ab und zu dachte ich: Caspar David Friedrich. Später
begann ich zu lesen. Himmel und Gemüt verdunkelten
sich; was für ein entsetzliches Buch. Ohne einmal Luft
zu holen, dröhnt es einem den Kopf voll mit besessen
zusammengehamstertem Wissensballast, verschmockt
altertümelnd vorgetragen. Behalten habe ich, dass
Goethe Caspar David Friedrich nicht mochte und
fand, man könne den ebenso gut verkehrt herum
aufhängen.
Dann kam ich an. Es schneite, stürmte und blitzte (ein
Schneegewitter, höchst selten, wie tags darauf in der
"Thüringer Allgemeinen" stand). Ein Taxi brachte mich
zum Goethehaus am Frauenplan; ich nahm an, dort sei
das Zentrum.
Weimar ist jedoch sehr klein. Die Sorge, ins Abseits
zu geraten, ist überflüssig. Hundert Meter weiter, am
Wielandplatz, steht das Christliche Hotel "Amalienhof"
mit seiner klassizistischen Fassade (wie ich erfuhr, das
einzige Hotel, das alle Revolutionen und Renovationen
überstanden hat und deshalb unter Denkmalschutz
steht). Ich fragte nach einem Zimmer, einem grossen,
bitte. Worauf die Frau an der Rezeption freundlich
antwortete: "Wir haben nur grosse, aber die Suite ist
auch frei, die können Sie zum normalen Zimmerpreis
haben; riecht zwar ein wenig nach Farbe, es wurde
frisch gestrichen, aber wenn Sie mögen . . ." Und sie
führte mich in einen herrschaftlichen Salon mit
anschliessendem Schlafzimmer und Bad, ein Traum.
Und so gings weiter. Ganz Weimar wimmelte von
freundlichen Leuten, sogar den Dialekt mochte ich
gern hören. Kellner und Kellnerinnen erinnerten an
Zöglinge aus hochgelegenen Internaten. Sie lachten vor
Aufregung, wurden rot aus Verlegenheit, vergassen,
von welcher Seite auf-, von welcher abgetragen wird,
baten um Verzeihung - entzückend. Die Wärterinnen in
den Museen und Wohnhäusern musterten mich
misstrauisch, wie freilaufende Katzen mit schlechten
Erfahrungen, doch kaum fragte ich sie etwas, tauten sie
auf und entpuppten sich als hervorragende
Kennerinnen der Exponate, die sie beaufsichtigen. Aus
Berlin bin ich Aufpasser gewohnt, die
"Sssssurückbläim!" knurren, wenn ich zu nah an ein
Bild trete. Den Rest der Zeit starren sie trotzig vor sich
hin.
Ich würde dort nie wagen, jemanden um Erläuterungen
zu bitten; er ist schliesslich kein Auskunftsbüro,
sondern zum Schutz der Objekte bestellt. Ebenso wie
Kellner und Verkäuferinnen dort nicht dazu da sind,
Gäste oder Kunden zu beglücken, sondern sie zu
ernüchtern und gefügig, wenn nicht sogar
niederzumachen. In Weimar herrscht ein anderer Ton.
Im Schillerhaus - vielleicht dem anrührendsten der
diversen Dichterwohnhäuser - stand ich vor einem
Nähkästchen. Die Aufpasserin erklärte, das habe
Schiller seinem Diener zu dessen Hochzeit anfertigen
lassen, und die Tränen sind mir in die Augen
geschossen, so rührend kam mir das Tischchen vor.
Oben, im Arbeits- und Sterbezimmer, wurde ich
wieder schier übermannt; da erzählte sie mir angesichts
des schmalen Bettes, unter was für entsetzlichen
Qualen Schiller hier - man könne es nicht anders sagen
- verreckt sei; sie habe gerade eine frühe Biografie
gelesen, nichts Seriöses, aber das Herz sei ihr fast
zerbrochen dabei. Und hier, nebenan, in der winzigen
Mansarde, hier habe er gewöhnlich geschlafen, auf
einer Matratze am Boden. Das Bett habe er sich erst
zuletzt, wegen seiner Krankheit, ins Schreibzimmer
stellen lassen. Und überall die Tapeten aus Kassel -
was für märchenhafte Tapeten!
Zum Schluss beschwor sie mich, unbedingt auch das
Wittumspalais anschauen zu gehen, das sei das
schönste und authentischste aller Wohnhäuser, da
habe Anna Amalia gewohnt, die Herzoginmutter,
deretwegen Weimar heute überhaupt Weimar sei . . .
Und so habe ich mir im Lauf der Tage alles
angeschaut, was man gesehen haben muss, und kann
bestätigen: Man muss es gesehen haben.
Essen? Auf der Suche danach spazierte ich abends
durchs Städtchen. Die Beleuchtung ist fahl, die Gassen
sind trüb und leer, die paar Gaststätten mit
thüringischen Spezialitäten funzeln vor sich hin. Der
gastronomische Trübsinn der deutschen Siebzigerjahre
senkte sich schwer auf mich.
Um nicht vor einem tiefgekühlten Kloss mit Rotkohl zu
enden, zog ich mich schliesslich ins berühmte Hotel
"Elephant" zurück, mit seinem dreihundert Jahre alten
Gästebuch, in dem sich ein Haufen höchst zweifelhafter
Namen im Lichte einiger glanzvoller zu sonnen
versucht. Zuerst ging ich in die "Liszt-Bar", einen
grossen, ernsten Raum, halb Bauhaus, halb Art Déco,
sehr ansprechend, dann auf die Toilette, eine
marmorne Fürstengruft, deren Strenge mich so
begeisterte, dass ich entschied zu bleiben und ins
hoteleigene Restaurant "Anna Amalia" zu gehen, einen
prachtvoll renovierten Saal, alles in diesem herrischen
Stil, wo ich ziemlich einsam sass und fabelhaft ass
(wenns nicht bereits drinsteht, wird es bestimmt in den
neusten Feinschmecker-Lexika an prominenter Stelle
auftauchen). Am folgenden Abend schlich ich wieder
um die dubiosen Kloss-Kneipen ("Zum alten Zausel",
"Zur Siechen-Tränke"), gelangte in die Hummelstrasse
- ja, auch Johann Nepomuk Hummel hat hier gelebt,
ebenso wie Bach -, wo ein Italiener ("Da Cono") für
solche kocht, die dem wilden Osten nicht recht trauen.
Es war so sympathisch, dass ich mir daraufhin
Hummelmusik besorgte, die nun gefällig vor sich
hinsummt und brummt. Mit Sicherheit hat sie Goethe,
wenn sie im Sommer durch seine geöffneten Fenster
drang, beim Verseschmieden nicht abgelenkt. Ausser
das Septett Opus 74, ein merkwürdig verbocktes
Ding, das die klassische Glätte sprengt. Einmal
übrigens wagte ich dann doch einen thüringischen
Abend, in "Sommer's", einer Weinstube, deren
Eröffnung Goethe durchaus noch erlebt haben könnte.
Die Klösse und das Fleisch waren gut, das schwarze
Bier vorzüglich, der weisse Lokalwein (Saale-Unstrut)
ebenfalls - und immer wieder: lauter reizende
Menschen.
Dann natürlich das Goethehaus. Schon nur das Entree,
in das er sich eine so genannt italienische Treppe hat
einbauen lassen, eine Art Behindertenrampe mit
extrem niedrigen Stufen, über die er den Besuchern
entgegengleiten oder -schweben konnte. Wer
Schauspieler kennt, weiss, welch magischer Ort eine
Treppe für sie ist; ein Auftritt über die Treppe ist das
schönste Geschenk, das man einem Showstar machen
kann. Goethe war Theatermann. Das ganze Haus ist
durchinszeniert mit sicherem Gespür für Effekt -
angefangen beim viel zu grossen Junokopf im Salon,
dem die Aufgabe zukommt, den ankommenden Gast
zu überwältigen, was er bravourös schafft.
Alles stellt Kunstsinn dar, Süden, Überfluss,
Grosszügigkeit, souveräne Nonchalance, doch alles ist
Bühnenbild, Requisit. Die griechisch-römischen
Plastiken sind Kopien aus Gips (zum Teil angemalt,
damit sie Bronze spielen können). Die italienischen
Malereien sind ebensowenig Originale; ein Herr Meyer
aus Stäfa hat sie in Goethes Auftrag in Italien
abgemalt. Alles ist ein bisschen eng, behelfsmässig.
Das sind auch die herzöglichen Schlösser,
Rumpelschlösschen, in denen Marmor prinzipiell nur
gemalt vorkommt und Fussböden aus einfachen
Brettern zusammengenagelt sind; Parkett ist ein
seltener Luxus; Statuen - darunter so zauberhafte wie
"Die Frierende" im Schloss Tiefurt - konnte man sich
nur als Nachbildungen aus Papiermaché leisten. Ein
ganzes kleines Fürstentum, alles andere als
vermögend, das sich streckt nach hehrer Grösse,
Freizügigkeit, Offenheit, Lebensideal. Klassik nicht als
Erhabenheit, keine kalte Pose, kein erklommener
Gipfel, nichts Erreichtes, sondern etwas Geträumtes,
etwas heiss Ersehntes. Das wusste ich nicht; es hat
mich für sich eingenommen.
Die Parkanlagen, die das Stadtschloss, die
Sommersitze und das Städtchen offen miteinander
verbinden, ohne Mauern, die das Fliessen stören, die
morschen Villen, die später dazugekommen sind, die
Ilm, die sich frei durchschlängelt, die Schwäne darauf,
die Rostbratwürste an den Strassen (unbedingt vom
Holzkohlengrill), das Café am Frauentor (unbedingt
thüringische Schmandtorte), das Neue Museum
(unbedingt), die Pension im Haus der Frau von Stein,
verwunschen wie Dornröschens Schloss, in der schon
Marlene Dietrich wohnte, als sie noch Geigenvirtuosin
werden wollte und in Weimar Unterricht nahm - das
alles ist zutiefst deutsch, schwermütig, mit dem innigen
Wunsch nach Heiterkeit, melancholisch zum
Umarmen.
Dummerweise fiel eine Nacht meines Aufenthalts auf
den Eröffnungstermin von "Weimar Kulturstadt
Europas", zu dem alle Hotels ausgebucht waren. Ich
musste den "Amalienhof" verlassen. In der
Tourist-Information am Markt sitzen jedoch
kompetente Leute, die mich umgehend in einer
Privatpension ("Gisela") unterbrachten, einer
Gründerzeitvilla in der Nähe des Nietzschehauses, wo
ich die Beletage mit Erkerzimmern, Bad und einer
geräumigen Terrasse über der Altstadt zugeteilt kriegte
(die Inneneinrichtung vielleicht etwas kühn, aber die
Lage, die Ruhe, der Raum lassen das vergessen).
Am letzten Tag fuhr ich nach Ettersburg, einer
verträumten maroden Sommerresidenz zehn Minuten
ausserhalb, wo schon Goethe . . . Von dort führt ein
Pfad, eine so genannte Zeitschneise, den Hügel hinauf
nach Buchenwald. Ich stapfte durch den nassen
Schnee, an schwarzen Baumgerippen vorbei, rutschte
aus, verfluchte die modischen Schwätzer mit ihrer
idiotischen Zeitschneise (eine schlichte Waldschneise,
die vor kurzem eröffnet wurde). Endlich kam ich oben
an. Die letzten Meter führen eine steile Böschung
hinauf über eine Metalltreppe. Darunter der ehemalige
Todesstreifen zwischen Lager und Zaun. Die Stufen
der Treppe sind auffallend flach und gleichen auf
irritierende Weise denen im Goethehaus. Am Ende der
Treppe angelangt, öffnet sich dem Blick eine gigantisch
öde, kahle Hochebene. Irgendwo steht darauf verloren
eine dunkle Steinbaracke, das ehemalige
Krematorium, woanders noch eine, der ehemalige
Arrestzellenbau, wo drittes noch eine, das
Desinfektionsgebäude, beklemmend weit auseinander
liegend alles, erschlagend. Eine ungeheure
Gedenkstätte. - Am Ausgang wartet ein Bus, Linie 6,
der einen über die Blutstrasse nach Weimar
zurückbringt, vorbei an leer stehenden russischen
Kasernen, durch trostlose Randbesiedlung, zum
Bahnhof, dann Goetheplatz, Heinestrasse,
Wielandplatz, Humboldtstrasse - vielleicht ist die
Zeitschneise alles andere als idiotisch.
Nachts gab es vor dem Stadtschloss noch ein
japanisches Feuerwerk, ganz schlicht, ganz ergreifend,
und damit war die Kulturstadt eröffnet. Ab jetzt wird
darin ein ganzes Jahr lang dauernd irgendetwas
stattfinden. Man kann einfach hinfahren und sich darauf
einlassen, auf Träume wie Alpträume.