Site hosted by Angelfire.com: Build your free website today!
Publikations-Datum:
1999-03-18
"Tages-Anzeiger"/ Zürich

Nichts Erreichtes, etwas Ersehntes


Weimar ist 1999 Kulturhauptstadt Europas. Ein Dichter entdeckt die Dichterstadt - und die wirkliche Klassik

Von Matthias Zschokke



In der Bahnhofsbuchhandlung überblätterte ich ein paar Reiseführer. Alle waren sich in einem Punkt einig: Zu einem Ausflug in die deutsche Klassik gehört "Lotte in Weimar" von Thomas Mann. Also kaufte ich das Buch und setzte mich in den Zug.

Die Fahrt ist schön. Links und rechts endlos flaches Land - das untere Fünftel des Zugfensters einnehmend -, darüber riesig der Himmel. Manchmal ein knorriger Baum, ein Teich, ein Wildschwein, dunkle, dicke Vögel. Man schaut hinaus und wird ganz ruhig.

Ab und zu dachte ich: Caspar David Friedrich. Später begann ich zu lesen. Himmel und Gemüt verdunkelten sich; was für ein entsetzliches Buch. Ohne einmal Luft zu holen, dröhnt es einem den Kopf voll mit besessen zusammengehamstertem Wissensballast, verschmockt altertümelnd vorgetragen. Behalten habe ich, dass Goethe Caspar David Friedrich nicht mochte und fand, man könne den ebenso gut verkehrt herum aufhängen.

Dann kam ich an. Es schneite, stürmte und blitzte (ein Schneegewitter, höchst selten, wie tags darauf in der "Thüringer Allgemeinen" stand). Ein Taxi brachte mich zum Goethehaus am Frauenplan; ich nahm an, dort sei das Zentrum.

Weimar ist jedoch sehr klein. Die Sorge, ins Abseits zu geraten, ist überflüssig. Hundert Meter weiter, am Wielandplatz, steht das Christliche Hotel "Amalienhof" mit seiner klassizistischen Fassade (wie ich erfuhr, das einzige Hotel, das alle Revolutionen und Renovationen überstanden hat und deshalb unter Denkmalschutz steht). Ich fragte nach einem Zimmer, einem grossen, bitte. Worauf die Frau an der Rezeption freundlich antwortete: "Wir haben nur grosse, aber die Suite ist auch frei, die können Sie zum normalen Zimmerpreis haben; riecht zwar ein wenig nach Farbe, es wurde frisch gestrichen, aber wenn Sie mögen . . ." Und sie führte mich in einen herrschaftlichen Salon mit anschliessendem Schlafzimmer und Bad, ein Traum.

Und so gings weiter. Ganz Weimar wimmelte von freundlichen Leuten, sogar den Dialekt mochte ich gern hören. Kellner und Kellnerinnen erinnerten an Zöglinge aus hochgelegenen Internaten. Sie lachten vor Aufregung, wurden rot aus Verlegenheit, vergassen, von welcher Seite auf-, von welcher abgetragen wird, baten um Verzeihung - entzückend. Die Wärterinnen in den Museen und Wohnhäusern musterten mich misstrauisch, wie freilaufende Katzen mit schlechten Erfahrungen, doch kaum fragte ich sie etwas, tauten sie auf und entpuppten sich als hervorragende Kennerinnen der Exponate, die sie beaufsichtigen. Aus Berlin bin ich Aufpasser gewohnt, die "Sssssurückbläim!" knurren, wenn ich zu nah an ein Bild trete. Den Rest der Zeit starren sie trotzig vor sich hin.

Ich würde dort nie wagen, jemanden um Erläuterungen zu bitten; er ist schliesslich kein Auskunftsbüro, sondern zum Schutz der Objekte bestellt. Ebenso wie Kellner und Verkäuferinnen dort nicht dazu da sind, Gäste oder Kunden zu beglücken, sondern sie zu ernüchtern und gefügig, wenn nicht sogar niederzumachen. In Weimar herrscht ein anderer Ton. Im Schillerhaus - vielleicht dem anrührendsten der diversen Dichterwohnhäuser - stand ich vor einem Nähkästchen. Die Aufpasserin erklärte, das habe Schiller seinem Diener zu dessen Hochzeit anfertigen lassen, und die Tränen sind mir in die Augen geschossen, so rührend kam mir das Tischchen vor. Oben, im Arbeits- und Sterbezimmer, wurde ich wieder schier übermannt; da erzählte sie mir angesichts des schmalen Bettes, unter was für entsetzlichen Qualen Schiller hier - man könne es nicht anders sagen - verreckt sei; sie habe gerade eine frühe Biografie gelesen, nichts Seriöses, aber das Herz sei ihr fast zerbrochen dabei. Und hier, nebenan, in der winzigen Mansarde, hier habe er gewöhnlich geschlafen, auf einer Matratze am Boden. Das Bett habe er sich erst zuletzt, wegen seiner Krankheit, ins Schreibzimmer stellen lassen. Und überall die Tapeten aus Kassel - was für märchenhafte Tapeten!

Zum Schluss beschwor sie mich, unbedingt auch das Wittumspalais anschauen zu gehen, das sei das schönste und authentischste aller Wohnhäuser, da habe Anna Amalia gewohnt, die Herzoginmutter, deretwegen Weimar heute überhaupt Weimar sei . . . Und so habe ich mir im Lauf der Tage alles angeschaut, was man gesehen haben muss, und kann bestätigen: Man muss es gesehen haben.

Essen? Auf der Suche danach spazierte ich abends durchs Städtchen. Die Beleuchtung ist fahl, die Gassen sind trüb und leer, die paar Gaststätten mit thüringischen Spezialitäten funzeln vor sich hin. Der gastronomische Trübsinn der deutschen Siebzigerjahre senkte sich schwer auf mich.

Um nicht vor einem tiefgekühlten Kloss mit Rotkohl zu enden, zog ich mich schliesslich ins berühmte Hotel "Elephant" zurück, mit seinem dreihundert Jahre alten Gästebuch, in dem sich ein Haufen höchst zweifelhafter Namen im Lichte einiger glanzvoller zu sonnen versucht. Zuerst ging ich in die "Liszt-Bar", einen grossen, ernsten Raum, halb Bauhaus, halb Art Déco, sehr ansprechend, dann auf die Toilette, eine marmorne Fürstengruft, deren Strenge mich so begeisterte, dass ich entschied zu bleiben und ins hoteleigene Restaurant "Anna Amalia" zu gehen, einen prachtvoll renovierten Saal, alles in diesem herrischen Stil, wo ich ziemlich einsam sass und fabelhaft ass (wenns nicht bereits drinsteht, wird es bestimmt in den neusten Feinschmecker-Lexika an prominenter Stelle auftauchen). Am folgenden Abend schlich ich wieder um die dubiosen Kloss-Kneipen ("Zum alten Zausel", "Zur Siechen-Tränke"), gelangte in die Hummelstrasse - ja, auch Johann Nepomuk Hummel hat hier gelebt, ebenso wie Bach -, wo ein Italiener ("Da Cono") für solche kocht, die dem wilden Osten nicht recht trauen.

Es war so sympathisch, dass ich mir daraufhin Hummelmusik besorgte, die nun gefällig vor sich hinsummt und brummt. Mit Sicherheit hat sie Goethe, wenn sie im Sommer durch seine geöffneten Fenster drang, beim Verseschmieden nicht abgelenkt. Ausser das Septett Opus 74, ein merkwürdig verbocktes Ding, das die klassische Glätte sprengt. Einmal übrigens wagte ich dann doch einen thüringischen Abend, in "Sommer's", einer Weinstube, deren Eröffnung Goethe durchaus noch erlebt haben könnte. Die Klösse und das Fleisch waren gut, das schwarze Bier vorzüglich, der weisse Lokalwein (Saale-Unstrut) ebenfalls - und immer wieder: lauter reizende Menschen.

Dann natürlich das Goethehaus. Schon nur das Entree, in das er sich eine so genannt italienische Treppe hat einbauen lassen, eine Art Behindertenrampe mit extrem niedrigen Stufen, über die er den Besuchern entgegengleiten oder -schweben konnte. Wer Schauspieler kennt, weiss, welch magischer Ort eine Treppe für sie ist; ein Auftritt über die Treppe ist das schönste Geschenk, das man einem Showstar machen kann. Goethe war Theatermann. Das ganze Haus ist durchinszeniert mit sicherem Gespür für Effekt - angefangen beim viel zu grossen Junokopf im Salon, dem die Aufgabe zukommt, den ankommenden Gast zu überwältigen, was er bravourös schafft.

Alles stellt Kunstsinn dar, Süden, Überfluss, Grosszügigkeit, souveräne Nonchalance, doch alles ist Bühnenbild, Requisit. Die griechisch-römischen Plastiken sind Kopien aus Gips (zum Teil angemalt, damit sie Bronze spielen können). Die italienischen Malereien sind ebensowenig Originale; ein Herr Meyer aus Stäfa hat sie in Goethes Auftrag in Italien abgemalt. Alles ist ein bisschen eng, behelfsmässig.

Das sind auch die herzöglichen Schlösser, Rumpelschlösschen, in denen Marmor prinzipiell nur gemalt vorkommt und Fussböden aus einfachen Brettern zusammengenagelt sind; Parkett ist ein seltener Luxus; Statuen - darunter so zauberhafte wie "Die Frierende" im Schloss Tiefurt - konnte man sich nur als Nachbildungen aus Papiermaché leisten. Ein ganzes kleines Fürstentum, alles andere als vermögend, das sich streckt nach hehrer Grösse, Freizügigkeit, Offenheit, Lebensideal. Klassik nicht als Erhabenheit, keine kalte Pose, kein erklommener Gipfel, nichts Erreichtes, sondern etwas Geträumtes, etwas heiss Ersehntes. Das wusste ich nicht; es hat mich für sich eingenommen.

Die Parkanlagen, die das Stadtschloss, die Sommersitze und das Städtchen offen miteinander verbinden, ohne Mauern, die das Fliessen stören, die morschen Villen, die später dazugekommen sind, die Ilm, die sich frei durchschlängelt, die Schwäne darauf, die Rostbratwürste an den Strassen (unbedingt vom Holzkohlengrill), das Café am Frauentor (unbedingt thüringische Schmandtorte), das Neue Museum (unbedingt), die Pension im Haus der Frau von Stein, verwunschen wie Dornröschens Schloss, in der schon Marlene Dietrich wohnte, als sie noch Geigenvirtuosin werden wollte und in Weimar Unterricht nahm - das alles ist zutiefst deutsch, schwermütig, mit dem innigen Wunsch nach Heiterkeit, melancholisch zum Umarmen.

Dummerweise fiel eine Nacht meines Aufenthalts auf den Eröffnungstermin von "Weimar Kulturstadt Europas", zu dem alle Hotels ausgebucht waren. Ich musste den "Amalienhof" verlassen. In der Tourist-Information am Markt sitzen jedoch kompetente Leute, die mich umgehend in einer Privatpension ("Gisela") unterbrachten, einer Gründerzeitvilla in der Nähe des Nietzschehauses, wo ich die Beletage mit Erkerzimmern, Bad und einer geräumigen Terrasse über der Altstadt zugeteilt kriegte (die Inneneinrichtung vielleicht etwas kühn, aber die Lage, die Ruhe, der Raum lassen das vergessen).

Am letzten Tag fuhr ich nach Ettersburg, einer verträumten maroden Sommerresidenz zehn Minuten ausserhalb, wo schon Goethe . . . Von dort führt ein Pfad, eine so genannte Zeitschneise, den Hügel hinauf nach Buchenwald. Ich stapfte durch den nassen Schnee, an schwarzen Baumgerippen vorbei, rutschte aus, verfluchte die modischen Schwätzer mit ihrer idiotischen Zeitschneise (eine schlichte Waldschneise, die vor kurzem eröffnet wurde). Endlich kam ich oben an. Die letzten Meter führen eine steile Böschung hinauf über eine Metalltreppe. Darunter der ehemalige Todesstreifen zwischen Lager und Zaun. Die Stufen der Treppe sind auffallend flach und gleichen auf irritierende Weise denen im Goethehaus. Am Ende der Treppe angelangt, öffnet sich dem Blick eine gigantisch öde, kahle Hochebene. Irgendwo steht darauf verloren eine dunkle Steinbaracke, das ehemalige Krematorium, woanders noch eine, der ehemalige Arrestzellenbau, wo drittes noch eine, das Desinfektionsgebäude, beklemmend weit auseinander liegend alles, erschlagend. Eine ungeheure Gedenkstätte. - Am Ausgang wartet ein Bus, Linie 6, der einen über die Blutstrasse nach Weimar zurückbringt, vorbei an leer stehenden russischen Kasernen, durch trostlose Randbesiedlung, zum Bahnhof, dann Goetheplatz, Heinestrasse, Wielandplatz, Humboldtstrasse - vielleicht ist die Zeitschneise alles andere als idiotisch.

Nachts gab es vor dem Stadtschloss noch ein japanisches Feuerwerk, ganz schlicht, ganz ergreifend, und damit war die Kulturstadt eröffnet. Ab jetzt wird darin ein ganzes Jahr lang dauernd irgendetwas stattfinden. Man kann einfach hinfahren und sich darauf einlassen, auf Träume wie Alpträume.


_______________________________