

Knautschke hiess ein riesiger Nilpferdbulle, der als eines der wenigen Tiere die Bombardements des Zoologischen Gartens im zweiten Weltkrieg überlebt hatte und dafür von den Berlinern heftig ins Herz geschlossen wurde. Als die Mauer errichtet und auf diese Weise verhindert wurde, dass Knautschke weiterhin von West und Ost gleichermassen besucht und geliebt werden konnte, verblasste sein Stern ein wenig. Trotzdem standen auch Jahrzehnte später noch regelmässig alte Frauen vor seinem Becken, plauderten mit ihm, schimpften über dies oder jenes, neckten ihn, klagten ihm leise ihr Leid, und ich stand daneben und hörte zu. Ein tröstlicher Bulle. Vor einigen Jahren ist er gestorben und ausgestopft worden. Seither ist es trostlos im Nilpferdhaus. Ein einziges Wesen, das fehlt, und die ganze Welt ist öd, heisst es. Ja, manchmal gehe ich in den Zoo. Er liegt im Westen der Stadt und ist erwähnenswert schön.
Ins Kino gehe ich ebenfalls hin und wieder. Die Filme kommen aus Amerika und laufen deutsch synchronisiert. Sie sind nicht immer geglückt - Versuche halt, ein breites Publikum anzusprechen. Die Kinos sind gross und wollen gefüllt sein. Titel wie "Ich glaub mich knutscht ein Elch" oder "Die Killertomaten greifen an" werden dort ebenso geduldig vorgeführt wie "Harald mit den schweren Händen" oder "Die drei schönen Müller". Kinobetreiber sind tolerant. Um mir nicht vorwerfen lassen zu müssen, mein Geld und meine Zeit nutzlos zu verschleudern, suche ich selbst in den verunglücktesten Filmen noch Kostbarkeiten zu entdecken, derentwegen sich der Besuch trotz allem gelohnt haben könnte. Auf diese Weise habe ich ein Gedicht kennengelernt, das ich mir gefällt:
Sicher, es passt nicht zu jeder Gelegenheit, da wäre ich bei den Klassikern besser bedient, aber immerhin, es reimt sich, und das ist doch etwas.
Am ersten Mai ist es oft warm. Der Flieder blüht. Die Linden duften zart aus ihren Poren. Die Blätter der alten Platanen sind noch klein und von einem weissen Pelz überzogen. Da gehe ich gern spazieren und schaue, wie sich die Stadt während der dunklen Wintermonate verändert hat. Sie ist arm und kann sich nicht viel leisten. In den Müllcontainern liegen verfallene Medikamente, gestorbene Vögel aus Käfigen, darunter gären benutzte Wegwerfwindeln und entwickeln explosive Gase. An den Strassenrändern stehen frisch lackierte, leuchtend grüne Kleinbusse mit Bamberger Kennzeichen. Darin sitzen Abschlussabsolventen aus bayrischen Polizeischulen, die traditionell zum "Tag der Arbeit" einen Ausflug nach Berlin machen. Sie tragen die jeweils neusten Uniformen, Kreationen aus starkem Tuch, hochgeschlossen, wetterfest. Um Arme und Beine haben sie sich schwarze Plastikschienen geschnürt, auf dem Kopf sitzen Helme mit Visieren. Einzelne stehen im Schatten wenig belebter Mietskasernen oder unter einen Baum. Manchmal ist es gewittrig schwül, und den frisch vereidigten Beamten rinnt der Schweiss in die Augen. Wer nicht bei der Polizei arbeitet hat an diesem Tag frei, holt seine ältesten Sachen aus dem Schrank und verkleidet sich als Räuber. Im Lauf des Tages trifft er sich mit seinen Berliner Freunden aus Freiburg, Lübeck und Dortmund in den städtischen Grünanlagen, legt sich dort auf den Rasen, sonnt sich und wartet, bis es abend ist. Dann bricht er mit ihnen zusammen in kleinen Gruppen auf, man ruft durch Megaphone "Nie wieder Deutschland" und zieht Richtung Innenstadt. Eskortiert werden die Trüppchen von ein paar Polizisten an der Spitze und am Ende, die dafür sorgen, dass alles seine Ordnung behält. Unterwegs trinkt man Bier und wirft mit Steinen, je dunkler es wird, desto mehr. Irgendwann wird es den Polizisten zu bunt. Die Umzüge beginnen zu stocken, es entsteht ein Gerangel und Gerenne. Fällt ein Beamter in seiner Rüstung hin, kommt er ohne fremde Hilfe nur schwer wieder auf die Beine und bleibt längere Zeit wie ein Käfer auf dem Rücken liegen. Scheiben, Augen und Knochen gehen zu Bruch. Am folgenden Morgen streunt, wer Zeit dazu hat, durch die Quartiere und sucht nach Spuren der Nacht. Glassplitter liegen auf den Strassen, die Fahrradfahrer fluchen.
Viel mehr Traditionen gibt es nicht. Die Stadt ist jung, hat sich ein paarmal an der Geschichte die Finger verbrannt und ist deswegen zutiefst misstrauisch gegen alles, das Anstalten macht, sich festzusetzen. So errichteten beispielsweise vor vielen Jahren selbsternannte Arbeiter und Bauern eine drei Meter hohe Mauer mitten durch die Stadt. Das war kinderfreundlich und verkehrsberuhigend. Überdies entwickelte sich der Streifen im Schatten der Mauer zu einem idealen Abladeplatz für Sperrmüll. Dort fand seine letzte Ruhe, was nicht mehr zu gebrauchen war, und wer wollte, gedachte hier der Vergänglichkeit; eine Oase zum Innewerden. Es herrschte ein Friede über dem Gelände, der die Kraft hatte, jeden noch so verhetzten Fussgänger zu besänftigen und mit philosophischen Betrachtungen zu infizieren. Seltene Tiere und Pflanzen waren zu entdecken, junge Soldaten aus nichts als Milch und Blut tollten durch die blühenden Wiesen, Wolfshunde jagten hinter Kaninchen her, und auch der eingefleischteste Pessimist sah, dass die Welt gut war.
Irgendwann begann die Mauer zu stören. Der Platz, auf dem sie stand, weckte in Bauunternehmern die Lust, dort Wohnblöcke zu errichten. Einkaufscenterphantasien beflügelten Spekulantenhirne. Kinokettenbesitzer empfanden plötzlich Phantomschmerzen, wenn sie in Mauernähe kamen. Ihnen war, als ob genau hier ein Glied in ihrer Kette fehlte, ein Glied, das zu Unrecht in grauer Vorzeit an dieser Stelle amputiert worden sei. Ein Murren ging durch die Stadt. Bankdirektoren zitierten die Regierenden vor sich und drohten mit Kündigung der Kredite, wenn die Mauer, die sie fortan als "diese Schande" bezeichneten, nicht auf der Stelle entfernt würde. Die Volksvertreter beugten sich naturgemäss, schickten die mittlerweile altgewordenen Arbeiter und Bauern erneut los und liessen sie ihr Gesellenstück wieder abreissen, was natürlich vielen im Herzen weh tat. Kinder weinten, weil ihnen ihre Ballspielstätte drohte verloren zu gehen. Kunstmaler, denen ihr Maluntergrund entrissen werden sollte, schmissen mit Steinen die Windschutzscheiben der Baumaschinen ein. Rentner übergossen sich und ihre Hunde mit Benzin, setzten sich vor die Bagger und zündeten sich an. Es half alles nichts, die Mauer fiel. Ungezählte ihrer Verehrer trugen wehmütig Stückchen, Steinchen und Klümpchen davon zur Erinnerung nach Hause und legten sie dort zu den Locken anderer frühverstorbener Jugendlieben.
Das Gelände wurde planiert. Die Mauersegler flohen nach China. Bauriesen errichteten monumentale Paläste, Parkhäuser, Schwimmhallen mit Rutschachterbahnen, Autokinos, Go-Kart-Anlagen, Arenatheater, Schlemmerpylons, Kunst- und Esstempel, und sie erklärten der Bevölkerung die Zwecke der verschiedenen Einrichtungen.
So ist aus einer Stadt, durch die zur Verwunderung aller einst eine Mauer ging, eine Stadt geworden, durch die, wie überall sonst auch, keine Mauer mehr ging. Die Kinder spielten nicht länger mit Bällen, sondern sie rutschten Erlebnisbahnen hinab und staunten, unten angelangt, abstrakte Kunst an, die in der Zwischenzeit dort aufgestellt worden war. Aus den Fonds schwarzer Limousinen wurden sie dabei mit Wohlgefallen betrachtet von den Bankiers - denen sie ihr Vergnügen zu verdanken hatten - und deren schönen Gattinnen, die in zartblassen Kleidern daneben sassen und wisperten: Ist es nicht zauberhaft, wie hier eine Mauer fehlt? Damit versuchten sie auszudrücken: Sind wir nicht alle der Meinung, dass es hier und heute schöner ist als dort und gestern? Ich liebe Gattinnen in zartblassen Kleidern und beeilte mich, oh ja zu seufzen. Dafür wurde ich von ihnen hin und wieder ins Theater eingeladen, wo man seit dem Fall besagter Mauer mit einer stetig wachsenden Ausgelassenheit konfrontiert wurde, einer Quiekvergnügtheit, einem Frohsinnsfeuerwerk, wie ich es nach dem Verlust eines solchen Monuments kaum zu erwarten vermutet hätte, lernte ich doch als Kind, dass Verluste schmerzen, und dass - je nach Grösse des Verlusts - eine längere oder kürzere Frist der Trauer eingehalten werden sollte. Das gilt aber offenbar nur für ländliche Regionen. In einer solchen bin ich aufgewachsen. Hier in der Stadt herrschen andere Sitten. Mit preussischer Disziplin feierte man auf Strassen, im Kino und im Theater das Verschwinden des Bauwerks in zunehmend aufgeheizter Fröhlichkeit. Von Jahr zu Jahr grössere Kichererbsen kullerten über die Bühnen, heftigere Lachsalven wurden abgefeuert, die Köpfe der Akteure liefen blau an vor Begeisterung. Heiserkeit beeinträchtigte zuletzt regelmässig die zweite Hälfte der Abende und verbog sie ins leicht Angestrengte, Gepresste, gequält Ächzende hinein. Das Publikum wand sich dazu in Heiterkeitskrämpfen, schnappte nach Luft und hielt sich die Seiten. Hinterher stöhnten die Frauen in den zartblassen Kleidern und ich uns gegenseitig ins Ohr: Oh, ich kann nicht mehr! Was habe ich gelacht! Mich kannst du wegschmeissen.
Danach gingen wir zusammen essen in neueröffnete Restaurants, die inzwischen dort zu finden waren, wo eben noch in mondlosen Nächten Käuze geschrien hatten und Füchse umhergeschlichen waren. Die Restaurants führten so schöne Namen wie Olaf, Rüdiger, Palast der Sinne, Tempel der Sünde, Garten der Wollust, und wir bestellten mit Trüffelmousse gefüllte gebeizte Eulensäckchen, was mir gut schmeckte. Waren wir besonders übermütig, liessen wir eine Flasche aus der Region Saale Unstrut auftragen, einem Weingebiet, von dessen Existenz hinter der Mauer wir bis vor Kurzem nichts geahnt hatten, und wo die Winzer unserer Überzeugung nach heute noch in Bärenfellen ihrer Arbeit nachgingen. Der Wein passt recht gut zu Flusskrebsragout, das jedoch nur dann zu empfehlen ist, wenn die Flusskrebse vorher mit Entenleber gemästet worden sind. Das wissen nur die wenigsten Züchter. Die meisten verfüttern Hühnerklein. Davon werden die Krebse fad und verwechselbar. Man könnte dann glauben, Lottebacken aus der Tiefkühltruhe zu vertilgen.
Später setzten sich die Gatten zu uns, müde vom Finanzieren. Wir stiessen an auf gutes Gelingen und hingen dem Gedanken nach, dass die Erde sich dreht und auf der einen Seite so viel Abwechslung bietet, wie sie auf der anderen Seite Verdruss und Verluste bereitet. Diese Einsicht hielten wir für philosophisch.
Wenn Leute von auswärts zu Besuch kamen, sagten sie noch jahrelang nach dem Mauerfall verschwörerisch lächelnd zu mir: Na, jetzt freuen wir uns aber, endlich die schönen Seen besuchen zu können, die draussen vor der Stadt im Grünen liegen? - Manchmal war ich nicht darauf vorbereitet und antwortete der Wahrheit gemäss: Nein, danke, ich möchte keine Seen betrachten. Ich habe schon etliche gesehen in meinem Leben und mich dagegen entschieden, an deren Ufer meine Tage zu verbringen. Die Feuchtigkeit zieht mir in die Glieder. Ich bleibe lieber, wo ich bin. Die Seen im Umland will ich nicht in ihrem friedlichen Daliegen stören. - Daraufhin wurde ich misstrauisch gemustert, und man beharrte darauf, dass ich möglicherweise heute und morgen kein Bedürfnis nach Auen und Seen hätte, dass ich aber die durch das Verschwinden der Mauer gewonnene Möglichkeit, jederzeit hinaus in die Natur fahren und welche aufsuchen zu können, ohne Zweifel als einen Zuwachs an Daseinsfreude empfinden werde, oder etwa nicht?! - Gereiztheit breitete ihre dunklen Flügel aus, und ich beeilte mich zuzugeben, dass mein Freiheitsdrang in der Tat unbändig sei und ich mich, seit unbegrenzte Seenwahl bestehe, meines Lebens freute wie kaum ein zweiter, ja, dass mir das Atmen seither alles in allem nur noch halb so schwer falle. Das versöhnte die Leute von auswärts, und wir verabschiedeten uns im Guten.
So kam ich in die einmaligen Situation, Glück zu empfinden, wo ich nicht unglücklich war. Das ist ein wahres Geschenk. Man stelle sich vor: Man lebt so vor sich hin, und plötzlich springt einem ein nie vermisstes Glück in den Nacken, wie ein Äffchen, das sich dort warm und zart an einen schmiegt und allerliebste Schnurrtöne von sich gibt. Wer da nicht Dankbarkeit empfindet, ist ein herzloser Nero. Nun rechne man das zusätzlich hoch und versuche sich vorzustellen, wie es ist, wenn plötzlich Millionen von Menschen dasselbe erleben, dann hat man eine Ahnung von der Atmosphäre, die in Berlin zu jener Zeit herrschte. Ein einziges Glucksen dauernden Glücks lag in der Luft. Nachts war an Schlaf nicht zu denken, weil rundherum alles wohlig grunzte und stöhnte. Allein traute sich kaum noch einer auf die Strasse, weil die aus dem Häuschen geratene Mehrheit drohte, ihn unter ihrer kollektiven Wonne zu zermalmen. Ist das nicht aufregend? Selbst literarisch hatte sich in Berlin endlich wieder ein Wind erhoben. Jahrzehntelang sei man mit nichts als nacktem Alltag abgespeist worden, hiess es. Jetzt werde endlich wieder Geschichte geschrieben, und zwar vom Leben selbst, das eine ähnliche Feder führe wie Alfred Döblin in seinem berühmtesten Roman. Wer sich kurzfristig dazu entschliessen könne, eine Reise nach Berlin zu unternehmen, würde, wo er gehe und stehe, somit Döblin klappern hören, was ein unwiderstehliches Geräusch sei, ähnlich dem Gesang der Sirenen. Die Begeisterung war riesengross.
Sie hat sich bis heute nicht gelegt. Endlich wieder einmal ins Zentrum des internationalen Interesses gerückt, strengt sich die Stadt an bis zur totalen Erschöpfung, diese Position auch zu halten. Humor wird gnadenlos weiter exerziert, Ernst mit Todesverachtung weiter trainiert und Genuss ohne Rücksicht auf Verluste weiter absolviert. Die Empfindungsmuskeln sind zum Zerreissen angespannt. Es herrscht ein allgemeiner Gefühlskrampf, eine Forschheit, mit der das Leben angepackt wird, die auf Aussenstehende beunruhigend wirkt. Doch das ist begreiflich. An Berlin klebt seit seiner Geburt das Pech, für alles und jedes zu spät zu kommen. Rom ist ewig da, Paris und London sind längst erwachsen, und die richtig Grossen heben erst recht nur träge die Augenbrauen, wenn Berlin seinen Hauptstadtanspruch anmeldet. Man fühlt sich hier deswegen von Anfang an unsicher, fürchtet, nicht für voll genommen zu werden. Das erklärt die verhaltene Wut und die Mutlosigkeit, die überall in den Strassen hängt und nicht rauszubringen ist: man steht kurz davor, eine echte Stadt zu sein; man ist die ewige Vorstadt, ein bisschen öd, ein bisschen zu laut, gebläht vom Stolz auf etwas, das zwar nicht genau hier aber doch immerhin in der Nähe stattfindet. Man führt sich auf wie ein Kind, das sich übergangen fühlt und deswegen mit vorlauten Witzen, Anmassungen, falschen Schmeicheleien und beleidigtem Schmollen versucht, die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Erwachsenen auf sich zu ziehen. Man gibt sich derb, knallt mit den Türen, lässt seine Muskeln spielen und lebt im Irrtum, solche Abgebrühtheit und Gefühlsresistenz seien die wahren Beweise für Urbanität und Weltläufigkeit. Man glaubt, in Grund und Boden stampfen zu müssen, was seine Botschaft nicht laut genug brüllt oder martialisch einschüchternd vorträgt. Was für ein Gedröhn! Was für ein wütender, lautskandierter, hämischer Unflat, der sich über die Einwohner ergiesst! Dauernd schreit irgendein halbgebildeter Vorbeter dunkle Sätze, die an Nietzsche und Schopenhauer erinnern, irgendwo aufgeschnappt und falsch zitiert. Inhaltslose Hülsen werden durch die Luft geschleudert, Phrasenleichen, tote Wörter, von denen keiner mehr ahnt, was sie einmal bedeutet haben könnten. Immer ist mindestens einer da mit seinem Jahrtausendgebrüll. Die anderen sitzen heiser in ihren Ecken und schauen mit blutunterlaufenen Augen zu, sammeln ihre Kräfte, pumpen ihre Lungen auf, um - fühlen sie sich erholt genug - umgehend ihrerseits die Mäuler aufzureissen und alles daran zu setzen, den Vorredner niederzubrüllen. Es möchten einem die Ohren abfallen von dem infernalischen Lärm. Komplizierte Herzensangelegenheiten behält man da besser für sich. Beispielsweise ist es bis heute unmöglich für den "Schwierigen" von Hofmannsthal, in dieser Viermillionenstadt irgendwo eine Bühne zu betreten, ohne sie nicht auch sofort wieder fluchtartig verlassen zu müssen, weil das Publikum ihn in missverstandenem Modernitäts- und Jetztzeitigkeitsgehabe vom ersten Wort an niedermacht und zerkichert. Das Leise findet hier nur schwer einen Raum und verzieht sich darum in der Regel. Entweder knattert die Fahne, oder sie hängt schlapp herunter. Zur Zeit knattert sie, Spannung liegt in der Luft, alles scharrt und kratzt in seinen Löchern, Dreck und blutige Hautfetzen fliegen durch die Gegend, und unbemerkt zerrinnen dazwischen die Augenblicke.
Es könnte der Verdacht aufkommen, ich halte diese sogenannte Stadt der Zukunft nicht für wesentlich. Das würde mir leid tun. Selbstverständlich ist sie nicht weniger wesentlich als jede andere. Nur haben die meisten anderen das Glück, nicht auf der Route des Zeitgeists zu liegen. Berlin, dieser wassertriebartige Riesensäugling mit den aufgedunsenen, bleichen Gliedern, hat sich, weil es für alles andere zu spät kam, auf die Zukunft spezialisiert. Was da ist, zerstört es, um dem Kommenden Platz zu machen. Somit lebt es in galoppierender Selbstauflösung. Kaum hat es sich von einer Katastrophe erholt, wird es auch schon von der jeweils nächsten heimgesucht und kahlgefressen. Ein bemitleidenswert verhetztes Ding voll nervöser Geschwüre und Abszesse, die es notdürftig vor fremden Blicken verbirgt; es dreht sich die Haare hoch, verbrennt sie in der Eile, überdeckt seine Narben mit billiger Schminke, pfuscht sich zurecht, grimassiert, spreizt sich, will gefallen, plustert sich auf und leidet dabei entsetzlich unter der panischen Angst und heimlichen Gewissheit, einmal mehr fallen gelassen zu werden und in der Bedeutungslosigkeit zu versinken wie schon so oft davor. Es fürchtet nichts so sehr wie den Moment, da der Zeitgeist sich wieder sammelt um weiterzuziehen. Das ist der Fluch, der auf dem Weg in die Zukunft liegt. Nichts darauf ist, was es ist. Alles verweist immer nur auf das, was es einmal sein soll. Jeder spricht vom Kommenden, denkt über es nach, spekuliert auf es, warnt vor ihm, schwärmt von ihm, sehnt sich nach ihm. Das Brot erinnert an Pappe - morgen soll es besser schmecken und knusprig sein. Die Strassen sind aufgerissen - nächstes Jahr sollen es breite, sonnige Alleen sein. Die öffentlichen Verkehrsmittel fallen aus - in drei Jahren sollen sie schweben. Die Augen der Aktivisten leuchten zukunftstrunken zu solchen Versprechungen, ein stechend fiebriger Glanz, ihre Stimmen beben prophetisch. Die ganze Bewegung hat etwas Sektiererisches. Man glaubt an die Zukunft wie an einen Meister, nennt ihn Fortschritt und opfert ihm sein ganzes Dasein, sein Denken, sein Vermögen. Das ist armselig, dumm und lächerlich. Man meidet die Gegenwart, verlässt sie geradezu wie die Ratten das sinkende Schiff. Niemand spricht vom Theater, das da ist, von den Bäckereien, der Industrie, der Literatur und den Filmen, die da sind. Man spricht davon, wer in drei Jahren dieses oder jenes Theater übernehmen wird, welche Backketten neu gegründet, welche Dienstleistungszentren neu geplant werden, wer gerade welchen Film vorbereitet, wer an welchem Jahrhundertroman schreibt - sind die Backketten endlich geschmiedet, die Zentren fertig, kommen die Romane und Filme endlich heraus, dann ist das alles jeweils längst passé, staubiger Alltag, Makulatur, man lässt es ungeprüft fallen wie heisse Kartoffeln und konzentriert sich bereits auf die übernächste Zukunft, ja, man reisst intakte Gebäude und fertige Rohbauten ab, stampft neue Romane und Filme kurz nach Erscheinen ein, nur um immer noch neueren, noch besseren Platz zu machen. Auf diese Weise wird einem täglich vor Augen geführt, wie behelfsmässig alles ist im Vergleich zu dem, was es einmal sein wird, und in jedem wächst die fatale Überzeugung, er verplempere sein ganzes Leben in nichts als Ersatz und Vorgeplänkel. Das mag zwar der Wahrheit nahe kommen, ist aber ausserordentlich ermüdend und verursacht Überdruss.
Im Sommer, wenn die Tage lang sind und heiss, sitzt, wer nichts mit sich anzufangen weiss, draussen auf Bänken, Mäuerchen, Absperrungen, im Schatten von Bäumen oder Markisen, und wartet darauf, dass etwas geschieht. Meistens weht Wind, der durch die Art der Häuser und die Anordnung der Strassen und Plätze entsteht. Er treibt Sand und Papierfetzen mit sich, manchmal in Wirbeln, manchmal in Walzen. Auch ich sitze dann oft auf einer Bank, gegenüber von der "Pizzastation Santa Fe", über der die toten Fenster von "Jacqueline's Filmbar" liegen. Links führt eine sechsspurige Strasse vorüber. Das Rauschen der Autos macht benommen. Ein Wartehäuschen der Städtischen Verkehrsbetriebe steht da. In seinem Schatten warten Frauen mit schweren Einkaufstüten. Auf der anderen Seite der Strasse steigt eine mit Gerümpel übersäte Böschung an zu stillgelegten Geleisen einer S-Bahn-Linie, die irgendwann wieder in Betrieb genommen werden soll. Hinter mir liegt ein Platz mit einem modernen Brunnen mittendrin, der seit Jahren aus Kostengründen kein Wasser mehr führt aber irgendwann wieder einmal plätschern soll. Einen Viertel des Platzes beanspruchen türkische Männer für sich, auf einem weiteren Viertel halten sich türkische Frauen auf. Dazwischen steht eine leere Bank als Schranke. Links und rechts davon klafft eine Lücke. Dort trippeln Tauben herum. Das letzte Viertel wird von Deutschen belebt, lachenden, grölenden, röhrenden Männern und Frauen der besitzlosen Klasse, die es miteinander auszuhalten versuchen. In den Fenstern der angrenzenden Häuser liegen ein paar Mieter und schauen zu. Alle halten etwas in den Händen, Tütchen, Dosen, Plastikbecher, fettiges Papier, aus dem sie trinken oder essen. Manchmal quietscht ein bremsendes Auto, selten wird ein Hund oder ein Kind angefahren und die Ambulanz kommt, einmal lag auf der Böschung eine kleine Leiche und man kam sich vor wie woanders. Dann ist es in Berlin, wie in jeder Stadt, am schönsten: wenn man es aus Versehen mit woanders verwechselt.
Aus: "Remake Berlin" [Katalog Fotomuseum Winterthur], Göttingen: Steidl 2ooo, S. 129ff.
Ich kenne keine andere Stadt, also lebe ich gern in dieser. Sie blendet nicht mit Schönheit, lenkt nicht ab mit Reizen — eine öde, traurige Allerweltsstadt. Sie hat und gibt kein Profil. Wie vieles, das groß ist, hat sie ein schwaches Selbstwertgefühl. Was hier entsteht, davon hält sie wenig. Man sagt, sie werde genutzt als Durchlauferhitzer für allerlei Karrieren: man könne hier etwas werden, um es woanders zu sein. Wer in Berlin lebt, versteht das Interesse anderer an der Stadt nicht; auch die anderen verstehen ihr Interesse daran nicht — es gehört sich einfach, Interesse an Berlin zu haben, wo man auf Schritt und Tritt nur den Kopf schütteln kann über soviel Ungeschick und Linkischkeit auf allen Gebieten. Kein Mensch kommt hier in Versuchung, stolz oder hochmütig zu werden; man geht nüchtern durch die Tage, gewöhnt, dem Mißlingen, dem Scheitern bei deren täglichem Geschäft zuzuschauen; das hilft einem, an sich selbst nicht zu verzweifeln, der man doch auch nur so einer ist, der sich vergeblich müht. Hält man eines Tages nicht mehr aus, daß es hier ist wie überall, dann zieht man fort.
Warum haben Bräker, Keller, Walser, Frisch und andere eine Zeitlang hier gelebt? Was hat sie hergeführt, warum sind sie geblieben, warum sind sie wieder gegangen? Diese Frage wird hin und wieder in literarischen Kreisen gestellt. Ob Antworten darauf gefunden werden, weiß ich nicht; ich verkehre nicht in literarischen Kreisen.
Warum kommen wir auf die Welt, warum verlassen wir sie wieder? Nicht, daß Berlin die Welt wäre, aber die Frage, warum jemand wo lebt, ist möglicherweise ebenso wenig zu beantworten wie die Frage, warum er überhaupt lebt. Wenn einer beginnt, die Reize des Ortes aufzuzählen, an dem er sein Leben fristet, gerät er bald in ähnlich verzweifelte Nöte, wie wenn er versucht, die Gründe aufzuzählen, warum er überhaupt sein Leben fristet. Ich möchte nicht darüber ins Grübeln geraten, sonst werde ich noch traurig, wo ich nicht bin.
Interessant ist in der Tat, daß viele Schriftsteller aus der deutschsprachigen Schweiz einen wichtigen Teil ihres künstlerischen Schaffens in Berlin hervorgebracht haben. Ein Grund dafür könnte sein, daß sie sich nicht besonders gut in anderen Sprachen auszudrücken vermochten; es gibt durchaus auch Schweizer, die sich mit Fremdsprachen schwertun. Wie gern wären sie möglicherweise nach Barcelona, Kairo, Rom, Paris oder London gezogen; nur eben: wie schlägt man sich dort durch, wenn man nicht zu jener Spezies Mensch gehört, die ihren Selbstwert in polyglottem Vorwitz findet? Eine logische Erklärung, warum die Genannten nicht zu unserer polyglotten guten Gesellschaft gehört haben könnten, wäre überdies: Wer dichten will, entscheidet sich für eine Sprache, in die er sich mit Haut und Haar hineinbegibt, der er vertraut, in der er sich installiert. Gewitzt sein und geistreich reden kann man vielleicht in mehreren Sprachen, dichten wohl nur in einer einzigen. Ich könnte mir vorstellen, daß die erwähnten Schweizer eine große Liebe zur deutschen Sprache hegten, zur deutschen Dichtung, zum Deutschen ganz allgemein, zum Wetter da, zum Denken, zum Fühlen — wobei in dieser Liebe selbstverständlich der Haß mitenthalten ist und daß sie oft unerwidert bleibt, der Kummer etc., doch darüber will ich im einzelnen nicht spekulieren.
Berlin ist eine desinteressierte Stadt. Sie schafft keine großen Leute. Hin und wieder leistet sie sich eine Lokalgröße, Lieblinge wie den Sänger Käsebier vom Kurfürstendamm, die während einer oder zwei Saisons ihre exotischen Blüten hier entfalten dürfen, um dann tragisch verduften zu müssen — das reicht der Stadt für ihr Selbstverständnis; sie ist einfachen Gemüts, geprägt vom berühmten kleinsten gemeinsamen Nenner.
Warum also gerade Berlin, wo doch hier selbst der Gescheiteste in der dumpfen Ignoranz untergeht? Warum nicht Hamburg oder Frankfurt, wenn es denn eine deutsche Stadt sein sollte? — Vielleicht, weil Berlin von Anfang an aus allen Nähten geplatzt war wie heute die meisten größeren Städte. Alles, was die Schweiz zu viel an Geborgenheit, Geschlossenheit, Einheitlichkeit bot, fehlte und fehlt hier. Berlin hat keine Identität, ist keine Stadt; es ist eine Aneinanderreihung von Straßen und Plätzen, verbunden mit Bahnen und Bussen; es gibt kein Zentrum, keine alteingesessenen Berliner, kein Bürgertum, keine Zünfte, Traditionen, Familien — die Stadt war nie mit Zürich oder Bern zu vergleichen, auch nie mit Hamburg oder Frankfurt; sie war ein schnell zusammengeschustertes Ding ohne Geschichte, ohne Entwicklung — gestern noch ein paar Dörfer auf sumpfigem, magerem, märkischem Boden, heute eine Metropole. Und dahin zog es vielleicht die schweizerdeutschen Dichter, wenn es sie denn überhaupt von zu Hause wegzog: an einen Ort ohne Form und Norm, einen Ort, wo alles möglich und nichts wirklich ist, einen Ort mit den Vor- und Nachteilen einer Stadt, ohne Stadt zu sein, ohne von ihren Einwohnern eine Identifikation mit sich zu fordern, da sie keine Identität hat, und ohne sich über ihre Einwohner zu definieren, da sie kein Bedürfnis nach Definition hat. Ob der Einzelne es auf seinem Gebiet schaffen wird oder nicht, das ist in Berlin
vollkommen gleichgültig, denn der Einzelne wird hier nicht zur Kenntnis genommen. Ebenso wie man ankommt, wird man auch wieder abreisen: fremd — eine wehmütig romantische Erkenntnis, die jeden hier irgendwann anspringt; man zählt nicht, auch nicht hinterher, denn nicht einmal posthum reagiert Berlin auf seine Bewohner. Es ist leicht vorstellbar, daß hier bis heute keine Gedenktafeln an Bräker, Keller, Walser oder Frisch erinnern (soviel ich weiß, hängt an einer Fassade in der Stadtmitte etwas unsäglich Verkommenes — mit Sicherheit entspricht es nicht dem Stellenwert, den der betreffende Autor innerhalb der Literaturgeschichte einnimmt) — nein, es ist egal, ob jemand hier war, ist, sein wird oder nicht. Und das war und ist befreiend für jeden. Man lebt oder lebt nicht, wird berühmt oder wird nicht berühmt — Berlin ist es egal. Das macht das Leben einfach, den Alltag erträglich, den jeder nun einmal auszuhalten hat, und sei er noch so begabt. Berlin ignoriert alles, also bleibt auch die Anstrengung herauszuragen unerkannt, weswegen man bald parterre geht wie alle und froh ist darum, sich so gehen lassen zu dürfen.
Das weiß jedoch niemand im voraus, und insofern bleibt die Frage offen: Warum kamen Bräker, Keller, Walser und Frisch nach Berlin, warum lebten sie hier, warum gingen sie wieder? Ich weiß es nicht. Es ist eine öde, mißglückte Ansammlung von Häusern, in der einer gerade mal für sich selbst gelassen und genommen wird — ist sie eine große Frau, ist er ein großer Mann, die über, unter oder neben uns wohnen, sollen sie glücklicher werden mit sich; sind sie klein, ebenfalls; es kümmert sich keiner darum, und das ist wohltuend; Berlin kennt keine Verehrung, keine Achtung; dadurch fällt es jedem nur halb so schwer, ungeehrt, geduzt und unbeachtet sein Dasein zu fristen — weil hier eben jeder auch nur so einer ist; und wem das nicht mehr schmeckt, der kann gehen, es hindert ihn keiner ... Und da alle empfindlicher werden mit dem Alter, werden die genannten Schweizer wohl alle eines Tages ihre Zelte hier abgebrochen haben, weil sie die Schnodderigkeit, in der mit ihnen umgesprungen wurde, nicht länger ertrugen — so wie sie aus dem selben Grund auch im Leben eines Tages ihre Zelte abgebrochen haben ... Darum lebe ich gern in Berlin: es erinnert mich täglich ans Leben.
Aus: Beatrice von Matt und Michael Wirth (Hrsg.), >ABENDS UM ACHT<. Zürich-Hamburg: Arche 1998, S. 175ff.