PASSAGEN NR.27/1999
Pro Helvetia, die Schweizer Kulturstiftung, informiert über das kulturelle Leben der
Schweiz. Ihre Zeitschrift Passagen/Passages erscheint zweimal pro Jahr in deutscher,
französischer und englischer Sprache.
M I N I - D R A M A
Matthias Zschokke
Tempi-Bar
I einfach vorgenommen, ich verlängere die Zukunft rückwärts
bis zu mir heran und sage immer schon im Moment, wo etwas
OSKAR-HELENE: Schauen Sie mich an: Das sind wir. Keiner ist ganz. geschieht: Das ist abscheulich, das ist einmalig. Verstehen
Jedes Atom in uns will woanders hin, etwas anderes darstel- Sie? Ein Lebenstrick: Ich warte nicht mehr darauf, bis ich
len. Das ergibt die Sehnsucht, das Reissen in uns, die Unruhe, etwas empfinde, sondern ich empfinde gleich, sofort, auf der
die uns alle an den Rand der Erschöpfung treibt. Ich weiss Stelle!
damit nichts anzufangen. Ich hasse die meisten in mir. Wenn
ich kann, zerquetsche ich sie. Den meisten in mir halte ich den LEVIN: Das ist gut, genau, scheiss auf die Zukunft, scheiss jetzt,
Mund zu, um überhaupt reden zu können. So ist das. Was genau, sehr gut! Nicht vergessen! Bin gleich zurück, muss nur
dabei herauskommt, ist wenig. Gulliver gerät auf seiner Reise mal kurz pissen gehen ... Er wankt aufs Klo.
unter Zwerge. Während er am Boden liegt und schläft, erklet-
tern sie ihn mit Hilfe von Leitern, spannen Taue quer über Nach einem Moment tritt das Mädchen voller Bewunderung auf Kant zu.
seinen Brustkorb und verankern diese links und rechts im
Boden. Als Gulliver aufwacht, ist er am Boden festgezurrt wie MÄDCHEN: Sie haben wunderschöne Hände. Sie strahlt ihn an.
ein Zeppelin vor dem Start. Ich besass als Kind eine Illustra-
26 tion von diesem Ereignis. Ein schönes, buntes Bild. In letzter KANT: So? Finden Sie? Er ist verunsichert.
Zeit erinnere ich mich oft daran. Mir kommt vor, die Zwerge
von damals seien aus dem Bild entwichen und durch Mund, MÄDCHEN: Und Sie riechen gut. Kant lacht verlegen. Darf ich Ihnen
Nase und Ohren in mich hineingekrochen, wo sie sich seither einen Kuss geben? Kant ist ratlos. Das Mädchen küsst ihn andächtig auf
gegenseitig bis aufs Blut bekriegen. Sie sind verantwortlich für den Mund.
den Eindruck, den ich erwecke. Die einen wollen diesen
freundlich gestalten. Sie betätigen die Züge dementspre- KANT: Entschuldigen Sie, ich ... Er geht verstört aufs Klo.
chend und hieven die Mundwinkel in die Höhe, während an-
dere, denen das zu einfältig erscheint, versuchen, an die Züge II
zu kommen, um die Mundwinkel wieder fallen zu lassen.
Gelingt ihnen das nicht, stürmen sie die Zentrale und lassen Auf dem Klo. Levin ist gerade fertig geworden. Kant kreuzt sich mit ihm.
mich während die Mundwinkel heiter nach oben weisen
übellaunige Brocken äussern. Sofort verlassen die Heiterlin- LEVIN: Das ist gut, Ihr Ding da, ist gut, hab ich mir überlegt, eben
ge die Züge und rennen ebenfalls hinauf zur Zentrale, um dort gerade, echt gut: Pissen jetzt! Genau! Wie war das noch mal
liebenswürdigere Parolen durchzusetzen. Die Finsterlinge mit der Zukunft?
nutzen den Moment, lösen die Halterungen der Mundwinkel,
diese fallen herab, während ich dafür auf einmal die freund- KANT: Abwesend. Na ja, muss man eben zurückextrapolieren in die
lichsten Platitüden absondere. Im Hintergrund versehen der- Gegenwart, ist Mathematik.
weil ehrgeizige Intriganten sowohl das Freundliche wie das
Übellaunige mit Widerhaken und Fragezeichen, damit alles, LEVIN: Genau, genau, extrapudding, genial ... Er küsst ihn auf die Stirne.
was ich äussere, möglichst mehrdeutig und hinterhältig wird. Da steckt Gold dahinter.
So wogt es hin und her.
OSKAR-HELENE: Aus den Augen lacht's, aus dem Mund quellen
Der BARKEEPER steht hinter dem Tresen und verrichtet seine Arbeit. Beleidigungen, Brüskierungen, im Herz schämt und ver-
Davor sitzen der klassische Sänger LEVIN (betrunken) und sein Klavierbe- klemmt es sich, hinten drängt eine Kompanie zum Rückzug,
gleiter KANT. Abseits ein MÄDCHEN. Kant hält seine angeschwollene
Hand in einen Eimer mit Eiswasser, während er versucht, Levin etwas zu vorne bunkert sich eine andere ein, rechts greift eine dritte an,
erklären. links verteidigt sich eine vierte, während eine fünfte Blut in
den Kopf pumpt und mich erröten macht und eine sechste es
KANT: Im Moment leben, verstehen Sie, leben jetzt! Ich glaube abgräbt und mich erbleichen lässt. In rasendem Tempo ver-
das meine ich jetzt nicht theoretisch, sondern ganz konkret , mehren sich die Wichte, spezialisieren sich, konzentrieren
kein Mensch ist in der Lage, einen Augenblick absolut zu er- sich auf meine wunden Stellen und wühlen darin. Die Feind-
leben. Nicht einmal Schmerz. Zum Beispiel diese Hand ... Ich schaft unter ihnen ist erbittert, sie metzeln sich gegenseitig
hab's kaum gespürt, als die Tür zugefallen ist. Erst hinterher, nieder, ihre Leichengase vergiften mich von innen heraus, ich
eigentlich erst jetzt merke ich's wirklich. Oder Liebe, oder drohe zu zerbersten, muss da reparieren, dort ausbessern, hier
Glück, egal was, immer erst hinterher können wir sagen, etwas notstopfen, werde schrottreif, und irgendwann knicke ich
war entsetzlich, etwas war wunderschön, etwas war ... Ja? Er endgültig ein, ausgehöhlt von den Milliarden in mir, die mich
steigert sich hinein in seine Ausführungen. Da habe ich mir kahlgefressen haben. Ich verende, platze auf, die Winzlinge
entweichen und kriechen in die Nächstumstehenden hinein. und Gesang, Herr Kant, das sind Synonyme. Das sollten Sie
Was für herrliche Geschöpfe wir sein könnten! Uns liegt die langsam kapieren.
Welt zu Füssen. Doch all das Gewusel in uns, die Skrupel,
Bedenken, Hoffnungen! Sie vernichten uns und vertilgen sich KANT: Ja. Jeder hat halt so seinen eigenen.
gegenseitig. Der Feind sitzt nicht aussen, er sitzt in jedem ein-
zelnen drin. Die Pest. Keiner erreicht auch nur einen Bruch- LEVIN: Mag sein. Reiben Sie bitte nicht dauernd an Ihrer Hand
teil der Grösse, die er erreichen könnte. Alle bleiben lange herum. Ich kann schliesslich nichts für die alberne Geschichte.
vorher auf der Strecke liegen, von innen heraus mitten im Sieht aus wie im Altersheim, Ihr Gerubbel. Hier übrigens,
Lauf aufgefressen von den Termiten, von den Würmern in für die Kleine nachher... Er zieht aus seinem Jackett eine Plastikrose.
ihren Innereien. Jeder könnte gross werden, herrliche Taten
vollbringen, klare, schöne Gedanken entwickeln und in Wor- Ein MANN betritt die Bar und schaut sich suchend um.
te fassen, könnte ein Gott sein, doch alle gehen wir vorzeitig
ein, hängen ausgehöhlt und schrumpelig auf unseren Skelet- KANT: Er erbleicht. Das ist der Agent.
ten. LEVIN: Damit das klar ist: Ich singe nicht vor!
Zurück in der Bar. Das Mädchen ist gegangen. Levin und Kant sitzen wieder am 27
Tresen. Der Barkeeper steht an der Kasse und registriert. Levin redet in verhal- KANT: Das wird man dann sehen. Gehen Sie, oder soll ich?
tener Erregung auf Kant ein.
L LEVIN: Selbstverständlich Sie.
EVIN: Sechsundachtzig siebzig! Ist doch total absurd?! Für die
drei, vier Bierchen! Kant geht mit der Plastikrose in der Hand auf den Mann zu, während
Levin sich zurechtrückt.
KANT: Er ist in Gedanken versunken. Absurd, mhm ...
KANT: Doktor Sass?
LEVIN: Und so etwas will Weltstadt sein! Glauben Sie, in Rom,
Neapel oder Madrid würde einer auf die Idee kommen, einen PRODUCER: Doktor Sass ist leider verhindert. Ich bin sein Producer.
Sänger seine Getränke bezahlen zu lassen?! Das reinste Herr Levin? Er spricht den Namen englisch aus, Liiwain.
Pforzheim! Bruchsal! Kennen Sie den vom Tenor, der sich in
Bruchsal an der Oper bewirbt? KANT: Kant.
KANT: Höflich gelangweilt. Ja. Er reibt sich seine lädierte Hand. PRODUCER: Sagen Sie bloss nicht, Herr Liiwain kommt später! Ich
bin zeitlich furchtbar im Druck.
LEVIN: Fragt der Intendant: Na, was haben wir denn Schönes anzu-
bieten? Sagt der Tenor: Am liebsten Nesemusewase. Fragt KANT: Wir erwarten Sie.
der Intendant: Wie bitte? Sagt der Tenor noch einmal: Nese-
musewase. Sagt der Intendant: Kenn ich nicht. Sagt der Tenor: PRODUCER: Ihr Name war?
Vielleicht ist es dem Herrn Korrepetitor geläufig, wenn er es
liebenswürdigerweise anspielen möchte ... KANT: Kant.
KANT: Ja. PRODUCER: Schön. Sie sind sein Agent? Um so besser, dann können
L wir ja gleich alles regeln. Vorweg eine Frage: Gibt es eigent-
EVIN: Sagt der Intendant: Verzeihen Sie, WAS wollen Sie? Ich
muss gestehen, im Moment bringe ich den Titel nirgends un- lich CDs von ihm? Ich kam leider nicht dazu, mich danach zu
ter. Könnten Sie ihn vielleicht bitte kurz ansingen? Singt der erkundigen .
Tenor: Nesemusewase Wunderebarese sainnnn ... («Es muss KANT: Er führt ihn an den Tresen zu Levin. CDs in dem Sinn nicht, wir
was Wunderbares sein», extrem geknödelt.) Köstlich! haben einige Studioeinspielungen ...
KANT: Ja. Ich bezweifle, dass es in Bruchsal eine Oper gibt. LEVIN: Unmengen von Filmmaterial gibt's! Es bestand einmal der
Plan, einen Langspielfilm über unsere Tourneen und Auftrit-
LEVIN: Ganz, wie Sie meinen, Sie teutscher Mann! Er lacht. Wissen te herzustellen, fürs Kino.
Sie, welches das dünnste Buch der Welt ist? Das schmalste
Bändchen? Er lacht. «Der deutsche Humor»! Er lacht. Humor PRODUCER: Einen Film? Das ist doch schön.
LEVIN: Ich sagte, Material für einen Film. Wie weit das Projekt miteinander absolut nicht vertraut sind, weiss ich nicht, ob Sie
gediehen ist, darüber bin ich nicht informiert. Einen wunder- vielleicht nur ein Trugbild sind, nur in meiner Phantasie exi-
schönen guten Abend erst einmal. Levin ist mein Name. stieren er packt den Barkeeper an der Schulter, schwitzt vor Anstrengung
, also ob Sie wahrhaftig sind oder nur in meiner Vorstellhicks
PRODUCER: Sie sind also Karl Liiwain, schön, sehr schön. Damit ... Er lacht gequält. So etwas Blödes! ... Ich fürchte michhicks ...
wir uns gleich richtig verstehen: Wir sind vor allem an Ihrer
Vergangenheit interessiert ... Sein Schluckauf ist ihm fürchterlich, ebenso das Thema, das er aus Versehen
angeschnitten hat und das, wie er merkt, für die Situation viel zu ernst und zu
L komplex ist. EVA betritt die Bar. Kant erblickt sie, entschuldigt sich hastig beim
EVIN: Dafür ist es bei uns beiden er deutet auf sich und Kant wohl Barkeeper, packt die Rose, knipst sie an (es ist eine batteriebetriebene Leuchte-
noch etwas früh? blume) und geht damit auf Eva zu. Sein Schluckauf ist weg.
PRODUCER: Ich meine, wir müssen uns schon auf irgendwas bezie- KANT: Herr Levin lässt sich entschuldigen.
hen können. Das ist schliesslich die Idee hinter K&K: Schwer-
gewichte aus verschiedenen Kunstdisziplinen treten gegen- EVA: So? Schade. Sie denkt kurz nach. Und Sie? Haben Sie Zeit?
einander an zum «Kampf der schönen Künste».
KANT: Er erblasst. Ich wollte gerade gewissermassen umgehend muss
KANT: Ich fürchte, Sie sind sich nicht ganz im klaren, mit wem Sie müsste ich über mich an einer Partitur ... Das ist sehr wichtig,
reden? Karl Levin ist klassischer Sänger, Schubert, Schu- wissen Sie. Natürlich wäre auch das Leben wichtig, das will ich
mann, und ich bin sein Begleiter, am Flügel ... nicht bestreiten, jetzt zum Beispiel ...
PRODUCER: Darum geht's ja gerade, Herr ...? EVA: Ist erstaunt. Mit Ihnen singt er? Sind Sie immer so?
KANT: Kant! KANT: Wie?
PRODUCER: Herr Kant. Das ist es doch gerade, was wir beabsichti- EVA: So aufgeregt?
gen: Diese ganzen alten Dinger Lyriker, Diseusen, Rezitato-
ren, Sänger, Theaterschauspieler , alles wird noch mal aus KANT: Im Gegenteil. Halten Sie mich bitte nicht für unkontrolliert
der Gruft geholt, hochgeschminkt, in K&K vors Publikum oder nervös, das bin ich nicht. Sie haben mich bloss gerade auf
gekarrt und gegeneinander geklatscht. Simultan! Verstehen einer spiegelglatten Ebene angesprochen ... Wir alle haben ja
28 Sie? Wir bieten die optimale Location: Messehalle 1, Sie, im so Parketts, auf denen wir uns etwas unsicher bewegen. «Ha-
Gegenzug, Ihren Background. Das wird ein Riesending, ein ben Sie Zeit? Haben Sie Zeit?» Das ist so eine Frage, die mich
echtes Event, mit Catering von Tausig! Kennen Sie be- etwas ... Verstehen Sie? «Er lässt sich entschuldigen», sage ich,
stimmt: Schlemmertausig? Die ultimative Show! Raus aus und Sie fragen: «Haben Sie Zeit?» Ich will nicht sagen, dass die
den Kunstghettos, rein in die Masse und verglühen! Funktio- Frage unpassend wäre, aber wenn Sie jetzt gefragt hätten:
niert natürlich nur mit geilen Dinos, grossen Namen, Künst- «Warum?», nur zum Beispiel: «Warum lässt er sich entschul-
lerpersönlichkeiten, Altstars, Promis ... digen?», nicht wahr. Oder: «Wie spät ist es?» Oder noch bes-
ser: «Habe ich mich verspätet?» Verstehen Sie? Sie haben sich
nicht verspätet, natürlich nicht, ich meine das bloss als Bei-
spiel. Oder: «Danke für die Blume.» Die ist für Sie. Er überreicht
III ihr die elektrische Rose.
OSKAR-HELENE: Wir wünschen uns so sehr, einen roten Faden zu EVA: Danke. Von ihm?
erwischen, an dem wir uns festhalten können, an dem wir uns
entlanghangeln können, ans trockene Ufer der Konversation, KANT: Ja. Er macht das immer so: Ich muss ihn entschuldigen, im-
ans Ende unserer Tage, am liebsten bis ins Grab, wünschen mer, jedesmal, und immer mit so einer Rose, naja ...
uns aus dem Labyrinth heraus, möchten ein Schicksal haben,
eine Geschichte, einen dicken, roten Faden, ein Tau von ei-
nem Faden, der stark ist und uns zusammenhält. Wir möchten Der Barkeeper tritt an die Rampe und wendet sich ans Publikum.
uns verlieben, möchten hassen, möchten gebären, sterben,
möchten das eine tun als Folge von etwas anderem, möchten BARKEEPER: Leute wie ich sind meistens nur dazu da, besonders
aufeinander reagieren können, möchten uns verstehen oder dick oder besonders dünn zu sein und sich schwitzend irgend-
doch wenigstens so wirken, als wären wir verstehbar und welches Zeug anzuhören. Um das zu durchbrechen, wende ich
durchschaubar ... mich auf diese etwas ungeschickte Weise an Sie. Hier er deutet
auf einen Sarg, der hinter ihm in einer Ecke steht , das ist meine verstor-
Der Producer und Levin sind weg. Kant redet auf den Barkeeper ein. Zwischen bene Frau. Wir sind gewissermassen tragische Figuren in die-
den beiden liegt auf dem Tresen die Plastikrose. Kant hat den Schluckauf. Erst sem Geschehen, nur kommt das nicht zum Tragen: Wir sind
überspielt er ihn. Während er spricht, wird er ihm zunehmend entsetzlich. nicht vorgesehen. Das ist unsere Katze. Er deutet auf eine Katze,
die, wie auch alles weitere, was er erwähnt, im Hintergrund auftaucht. Meine
KANT: Manchmal, wenn ich allein binhicks, ich wohne ja allein, Katze, muss ich jetzt sagen. Dies: Unser Tisch ... Unser Radio
dannhicks ... Entschuldigung ... dann denke ich manchmal, ... Hier unsere Kinder ... Er zeigt Fotos. Alles gehört jetzt mir
dass man allein das Leben gar nicht richtig wahrnehmen kann, allein. Die Waschmaschine da zum Beispiel. Leute wie ich
dass man im Grunde genommen in einem permanenten sind nicht richtig leidensfähig vielleicht. So heisst es minde-
Traumhicks ... Zu sich selbst: Ist das unangenehm! Er strengt sich an. stens von den sogenannt niederen Ständen. Ich habe sie sehr
Ich meine jetzt nicht den Einsamkeitskitsch, sondern ... Zum gern ... Du liebe ... Er streichelt seine Frau im Sarg. Nun weiss ich
Beispiel jetzt: Vielleicht stehen Sie mir jetzt ja gar nicht wirk- nicht, wohin ich mich wenden soll. Mir kommt es vor wie ein
lich gegenüberhicks ... Ekelhaft! Er räuspert sich. Das habe ich misslungener Theaterabend, wo plötzlich die Hauptfigur tot
sonst nie ... Verstehen Sie, was ich meine? Weil Sie und ich umfällt. Es kommt einer, zieht den Vorhang zu und sagt:
«Schluss jetzt. Geht nach Hause.» Und dabei ist es gar kein LEVIN: How are you? Haha! Hab ich euch, ihr turtelnden Häub-
richtiger Schluss gewesen. Dann sitzt man da und hofft, der chen!
richtige Schluss werde einem noch gezeigt. Vielleicht ist je-
der Schluss falsch. Das Leben geht einfach weiter, Schluss ... KANT: Täubchen.
Er senkt ratlos den Kopf. Das ist mein Fussboden.
LEVIN: Herr Kant, bitte! Das hat mit Freiheit zu tun, mit Kunst!
Davon verstehen Sie nichts! Zu Eva: Ich hab's mir anders über-
legt. Habe nun doch Zeit gefunden für ein Tête-à-tête mit
IV meiner entzückenden Verehrerin.
Kant und Eva haben sich inzwischen an einen Tisch in einer Nische gesetzt. Die
Rose liegt darauf und leuchtet. Eva fragt nach einer langen Pause: EVA: Tun Sie nicht verschmitzt, bitte. Es besteht überhaupt kein
Anlass dazu. Ich liebe Ihren Gesang, das ist etwas Ernstes.
EVA: Aber Sie müssen doch irgend etwas zu erzählen haben? Eine
Anekdote? Ist Ihnen beispielsweise einmal auf der Bühne der LEVIN: Zu Kant: Ist sie nicht süss?! Ich glaube, ich lade sie ein. Das
Klavierstuhl gekracht? Etwas in der Art? Oder ein Pasdedeux wird pikant. Er zieht eine Einladungskarte hervor und liest davon ab:
mit einem Kulturbeamten? «Nun wird es bald.
Wir gehn in den Wald,
KANT: Bitte? Zum bekannten Menü,
Im Forsthaustenü.
EVA: Irgend so ein Pasdedeux, der Ihnen unangenehm war? Treffpunkt um 21 Uhr beim Wohnhaus Levin Karl,
Der ja am Sonntag ist der Jubilar.
KANT: Fauxpas? Dass ihr ja nicht das Fest verpasst!
Sonst würden wir uns am meisten verhasst.
EVA: Das können Sie, korrigieren! Na, wie Sie meinen. Karls Geburtstag im grünen Wald
Ist Sonntag Abend wie gesagt
KANT: Er windet sich. Es tut mir leid, ich bin ... Was schätzen Sie, wie Um neun, und ich erwarte euch all.» Er überreicht Eva die Karte.
alt ich schon bin? Ich bin über ... Er denkt nach, antwortet dann auf
Evas Frage: Nein, nichts. Einfach nichts. Höchstens ein Witz. EVA: Sie lacht. Aber das reimt sich doch gar nicht!
Kommt ein Operntenor zum Intendanten und sagt: Ich möch-
te gern vorsingen «Es muss was Wunderbares sein». Sagt der LEVIN: Mein liebes Fräulein, es wird sich schon reimen; schliesslich 29
Intendant: Kenn ich nicht. Sagt der Tenor noch einmal: «Es kommt es von mir. Zu Kant: Begleiten Sie mich, oder wollen Sie
muss was Wunderbares sein». Sagt der Intendant wieder: sich lieber hier noch etwas amüsieren?
Kenn ich nicht. Singt der Tenor (er singt): «Es muss was Wun-
derbares sein» ... KANT: Zu Eva: Sie entschuldigen mich. Er raunt ihr zu: Es reimt sich
wirklich nicht. Wieder laut: Ich würde mich freuen, wenn Sie
EVA: Sie sind merkwürdig. Warum nennen Sie das Witz? kommen könnten.
KANT: Ich konnte auch nie richtig darüber lachen. Stimmt. Jetzt, wo EVA: Herzlichen Glückwunsch, Herr Levin. Ich kann erst jetzt die
Sie es sagen. Man hat mich als humorlos beschimpft, weil ich wahren Ausmasse Ihres Gedichts vermessen: Richtig Ge-
nicht lachte. Nicht wahr, das ist überhaupt nicht komisch? burtstag?!
EVA: Wissen Sie, ich bin im öffentlichen Dienst tätig, deswegen LEVIN: Sicher, Kind, am Sonntag. Auch Sänger werden mal gebo-
lache ich beinahe über alles, was mir als Witz angeboten wird. ren. Nicht wahr, Herr Kant, selbst die schönste Musik schützt
«Es muss was Wunderbares sein», warum nicht? Das ist be- nicht vorm Alter?! Ich hoffe, Sie beehren uns. Arrivederci,
stimmt lustig. Seien Sie mal nicht verzweifelt. Schliesslich ist ti abbraccio ... Ab, Kant hinterher.
das ganze Leben nur halb so vergnügt, wie man uns immer
weismacht. Das können Sie mir glauben. Lachen Sie also ru- OSKAR-HELENE: Es geschieht selten in letzter Zeit, dass ich mir im
hig. Ich habe mir das angewöhnt. Sonst werden Sie noch ma- Theater etwas anschaue. Das Angebotene ist nicht mein Gen-
genkrank. Sie sind ja jetzt schon sehr ernst und bleich. Ich re. Ich möchte lieber, wie soll ich sagen, schüttere Stücke se-
beispielsweise, ich erbaue mich an klassischem Gesang. Dar- hen, Stücke, in denen mir nichts vorgemacht wird und ich mich
um verehre ich ja auch Herrn Levin. nicht missbraucht fühlen muss als lachender Dritter. Das tut
manchmal gut: in Ruhe gelassen zu werden.
KANT: Ja, ja, selbstverständlich, ich verstehe, sicher, er ist gewiss
sehr imposant, so ein Kammersänger, richtig niederschmet-
ternd. Ich bin eher weniger bemerkbar, nicht? So eine Art Ende
«eingerollter Fall eines vertrockneten Blattes», nicht? «Das
Blütenblatt, das sich welk ablöst», ja? «Die Stimme auf der
anderen Seite der Mauer», ja?
EVA: Na, so ein Lüftchen werden Sie nun auch wieder nicht sein?
Sie haben etwas sehr Entschiedenes, etwas Klares ... Eher wie
ein geöffnetes Damenmesser kommen Sie mir vor.
KANT: Messer?! Ich?! Er lacht. Scharf?
Levin betritt theatralisch die Bar. Er schwankt.
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