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ZSCHOKKE- Ein sanfter Rebell. Tempi-Bar
  PASSAGEN NR.27/1999                            
                                                         

                                                                  Pro Helvetia, die Schweizer Kulturstiftung, informiert über das kulturelle Leben der
                                                                           Schweiz. Ihre Zeitschrift Passagen/Passages erscheint zweimal pro Jahr in deutscher,
                                                                           französischer und englischer Sprache. 
 
 

                                                      



                                                              M I N I - D R A M A




                                                                Matthias Zschokke
                                                             Tempi-Bar

                                          I                                                einfach vorgenommen, ich verlängere die Zukunft rückwärts
                                                                                           bis zu mir heran und sage immer schon im Moment, wo etwas
      OSKAR-HELENE: Schauen Sie mich an: Das sind wir. Keiner ist ganz.                    geschieht: Das ist abscheulich, das ist einmalig. Verstehen
          Jedes Atom in uns will woanders hin, etwas anderes darstel-                      Sie? Ein Lebenstrick: Ich warte nicht mehr darauf, bis ich
          len. Das ergibt die Sehnsucht, das Reissen in uns, die Unruhe,                   etwas empfinde, sondern ich empfinde gleich, sofort, auf der
          die uns alle an den Rand der Erschöpfung treibt. Ich weiss                       Stelle!
          damit nichts anzufangen. Ich hasse die meisten in mir. Wenn
          ich kann, zerquetsche ich sie. Den meisten in mir halte ich den             LEVIN: Das ist gut, genau, scheiss auf die Zukunft, scheiss jetzt,
          Mund zu, um überhaupt reden zu können. So ist das. Was                           genau, sehr gut! Nicht vergessen! Bin gleich zurück, muss nur
          dabei herauskommt, ist wenig. Gulliver gerät auf seiner Reise                    mal kurz pissen gehen ... Er wankt aufs Klo.
          unter Zwerge. Während er am Boden liegt und schläft, erklet-
          tern sie ihn mit Hilfe von Leitern, spannen Taue quer über                  Nach einem Moment tritt das Mädchen voller Bewunderung auf Kant zu.
          seinen Brustkorb und verankern diese links und rechts im
          Boden. Als Gulliver aufwacht, ist er am Boden festgezurrt wie               MÄDCHEN: Sie haben wunderschöne Hände. Sie strahlt ihn an.
          ein Zeppelin vor dem Start. Ich besass als Kind eine Illustra-
26        tion von diesem Ereignis. Ein schönes, buntes Bild. In letzter              KANT: So? Finden Sie? Er ist verunsichert.
          Zeit erinnere ich mich oft daran. Mir kommt vor, die Zwerge
          von damals seien aus dem Bild entwichen und durch Mund,                     MÄDCHEN: Und Sie riechen gut. Kant lacht verlegen. Darf ich Ihnen
          Nase und Ohren in mich hineingekrochen, wo sie sich seither                      einen Kuss geben? Kant ist ratlos. Das Mädchen küsst ihn andächtig auf
          gegenseitig bis aufs Blut bekriegen. Sie sind verantwortlich für                 den Mund.
          den Eindruck, den ich erwecke. Die einen wollen diesen
          freundlich gestalten. Sie betätigen die Züge dementspre-                    KANT: Entschuldigen Sie, ich ... Er geht verstört aufs Klo.
          chend und hieven die Mundwinkel in die Höhe, während an-
          dere, denen das zu einfältig erscheint, versuchen, an die Züge                                                   II
          zu kommen, um die Mundwinkel wieder fallen zu lassen.
          Gelingt ihnen das nicht, stürmen sie die Zentrale und lassen                       Auf dem Klo. Levin ist gerade fertig geworden. Kant kreuzt sich mit ihm.
          mich ­ während die Mundwinkel heiter nach oben weisen ­
          übellaunige Brocken äussern. Sofort verlassen die Heiterlin-                LEVIN: Das ist gut, Ihr Ding da, ist gut, hab ich mir überlegt, eben
          ge die Züge und rennen ebenfalls hinauf zur Zentrale, um dort                    gerade, echt gut: Pissen jetzt! Genau! Wie war das noch mal
          liebenswürdigere Parolen durchzusetzen. Die Finsterlinge                         mit der Zukunft?
          nutzen den Moment, lösen die Halterungen der Mundwinkel,
          diese fallen herab, während ich dafür auf einmal die freund-                KANT: Abwesend. Na ja, muss man eben zurückextrapolieren in die
          lichsten Platitüden absondere. Im Hintergrund versehen der-                      Gegenwart, ist Mathematik.
          weil ehrgeizige Intriganten sowohl das Freundliche wie das
          Übellaunige mit Widerhaken und Fragezeichen, damit alles,                   LEVIN: Genau, genau, extrapudding, genial ... Er küsst ihn auf die Stirne.
          was ich äussere, möglichst mehrdeutig und hinterhältig wird.                     Da steckt Gold dahinter.
          So wogt es hin und her.
                                                                                      OSKAR-HELENE: Aus den Augen lacht's, aus dem Mund quellen
          Der BARKEEPER steht hinter dem Tresen und verrichtet seine Arbeit.               Beleidigungen, Brüskierungen, im Herz schämt und ver-
          Davor sitzen der klassische Sänger LEVIN (betrunken) und sein Klavierbe-         klemmt es sich, hinten drängt eine Kompanie zum Rückzug,
          gleiter KANT. Abseits ein MÄDCHEN. Kant hält seine angeschwollene
          Hand in einen Eimer mit Eiswasser, während er versucht, Levin etwas zu           vorne bunkert sich eine andere ein, rechts greift eine dritte an,
          erklären.                                                                        links verteidigt sich eine vierte, während eine fünfte Blut in
                                                                                           den Kopf pumpt und mich erröten macht und eine sechste es
      KANT: Im Moment leben, verstehen Sie, leben jetzt! Ich glaube ­                      abgräbt und mich erbleichen lässt. In rasendem Tempo ver-
          das meine ich jetzt nicht theoretisch, sondern ganz konkret ­,                   mehren sich die Wichte, spezialisieren sich, konzentrieren
          kein Mensch ist in der Lage, einen Augenblick absolut zu er-                     sich auf meine wunden Stellen und wühlen darin. Die Feind-
          leben. Nicht einmal Schmerz. Zum Beispiel diese Hand ... Ich                     schaft unter ihnen ist erbittert, sie metzeln sich gegenseitig
          hab's kaum gespürt, als die Tür zugefallen ist. Erst hinterher,                  nieder, ihre Leichengase vergiften mich von innen heraus, ich
          eigentlich erst jetzt merke ich's wirklich. Oder Liebe, oder                     drohe zu zerbersten, muss da reparieren, dort ausbessern, hier
          Glück, egal was, immer erst hinterher können wir sagen, etwas                    notstopfen, werde schrottreif, und irgendwann knicke ich
          war entsetzlich, etwas war wunderschön, etwas war ... Ja? Er                     endgültig ein, ausgehöhlt von den Milliarden in mir, die mich
          steigert sich hinein in seine Ausführungen. Da habe ich mir                      kahlgefressen haben. Ich verende, platze auf, die Winzlinge



        entweichen und kriechen in die Nächstumstehenden hinein.                             und Gesang, Herr Kant, das sind Synonyme. Das sollten Sie
        Was für herrliche Geschöpfe wir sein könnten! Uns liegt die                          langsam kapieren.
        Welt zu Füssen. Doch all das Gewusel in uns, die Skrupel,
        Bedenken, Hoffnungen! Sie vernichten uns und vertilgen sich                 KANT: Ja. ­ Jeder hat halt so seinen eigenen.
        gegenseitig. Der Feind sitzt nicht aussen, er sitzt in jedem ein-
        zelnen drin. Die Pest. Keiner erreicht auch nur einen Bruch-                LEVIN: Mag sein. ­ Reiben Sie bitte nicht dauernd an Ihrer Hand
        teil der Grösse, die er erreichen könnte. Alle bleiben lange                         herum. Ich kann schliesslich nichts für die alberne Geschichte.
        vorher auf der Strecke liegen, von innen heraus mitten im                            Sieht aus wie im Altersheim, Ihr Gerubbel. ­ Hier übrigens,
        Lauf aufgefressen von den Termiten, von den Würmern in                               für die Kleine nachher... Er zieht aus seinem Jackett eine Plastikrose.
        ihren Innereien. Jeder könnte gross werden, herrliche Taten
        vollbringen, klare, schöne Gedanken entwickeln und in Wor-                  Ein MANN betritt die Bar und schaut sich suchend um.
        te fassen, könnte ein Gott sein, doch alle gehen wir vorzeitig
        ein, hängen ausgehöhlt und schrumpelig auf unseren Skelet-                  KANT: Er erbleicht. Das ist der Agent.
        ten.                                                                        LEVIN: Damit das klar ist: Ich singe nicht vor!
Zurück in der Bar. Das Mädchen ist gegangen. Levin und Kant sitzen wieder am                                                                                            27
Tresen. Der Barkeeper steht an der Kasse und registriert. Levin redet in verhal-    KANT: Das wird man dann sehen. Gehen Sie, oder soll ich?
tener Erregung auf Kant ein.
L                                                                                   LEVIN: Selbstverständlich Sie.
     EVIN: Sechsundachtzig siebzig! Ist doch total absurd?! Für die
        drei, vier Bierchen!                                                                   Kant geht mit der Plastikrose in der Hand auf den Mann zu, während
                                                                                    Levin              sich zurechtrückt.
KANT: Er ist in Gedanken versunken. Absurd, mhm ...
                                                                                    KANT: Doktor Sass?
LEVIN: Und so etwas will Weltstadt sein! Glauben Sie, in Rom,
        Neapel oder Madrid würde einer auf die Idee kommen, einen                   PRODUCER: Doktor Sass ist leider verhindert. Ich bin sein Producer.
        Sänger seine Getränke bezahlen zu lassen?! Das reinste                               Herr Levin? Er spricht den Namen englisch aus, Liiwain.
        Pforzheim! Bruchsal! Kennen Sie den vom Tenor, der sich in
        Bruchsal an der Oper bewirbt?                                               KANT: Kant.

KANT: Höflich gelangweilt. Ja. Er reibt sich seine lädierte Hand.                   PRODUCER: Sagen Sie bloss nicht, Herr Liiwain kommt später! Ich
                                                                                             bin zeitlich furchtbar im Druck.
LEVIN: Fragt der Intendant: Na, was haben wir denn Schönes anzu-
        bieten? Sagt der Tenor: Am liebsten Nesemusewase. Fragt                     KANT: Wir erwarten Sie.
        der Intendant: Wie bitte? Sagt der Tenor noch einmal: Nese-
        musewase. Sagt der Intendant: Kenn ich nicht. Sagt der Tenor:               PRODUCER: Ihr Name war?
        Vielleicht ist es dem Herrn Korrepetitor geläufig, wenn er es
        liebenswürdigerweise anspielen möchte ...                                   KANT: Kant.

KANT: Ja.                                                                           PRODUCER: Schön. Sie sind sein Agent? Um so besser, dann können
L                                                                                            wir ja gleich alles regeln. ­ Vorweg eine Frage: Gibt es eigent-
     EVIN: Sagt der Intendant: Verzeihen Sie, WAS wollen Sie? Ich
        muss gestehen, im Moment bringe ich den Titel nirgends un-                           lich CDs von ihm? Ich kam leider nicht dazu, mich danach zu
        ter. Könnten Sie ihn vielleicht bitte kurz ansingen? Singt der                       erkundigen .
        Tenor: Nesemusewase Wunderebarese sainnnn ... («Es muss                     KANT: Er führt ihn an den Tresen zu Levin. CDs in dem Sinn nicht, wir
        was Wunderbares sein», extrem geknödelt.) Köstlich!                                  haben einige Studioeinspielungen ...
KANT: Ja. ­ Ich bezweifle, dass es in Bruchsal eine Oper gibt.                      LEVIN: Unmengen von Filmmaterial gibt's! Es bestand einmal der
                                                                                             Plan, einen Langspielfilm über unsere Tourneen und Auftrit-
LEVIN: Ganz, wie Sie meinen, Sie teutscher Mann! Er lacht. Wissen                            te herzustellen, fürs Kino.
        Sie, welches das dünnste Buch der Welt ist? Das schmalste
        Bändchen? ­ Er lacht. «Der deutsche Humor»! Er lacht. Humor                 PRODUCER: Einen Film? Das ist doch schön.



      




      LEVIN: Ich sagte, Material für einen Film. Wie weit das Projekt                         miteinander absolut nicht vertraut sind, weiss ich nicht, ob Sie
           gediehen ist, darüber bin ich nicht informiert. ­ Einen wunder-                    vielleicht nur ein Trugbild sind, nur in meiner Phantasie exi-
           schönen guten Abend erst einmal. Levin ist mein Name.                              stieren ­ er packt den Barkeeper an der Schulter, schwitzt vor Anstrengung
                                                                                              ­, also ob Sie wahrhaftig sind oder nur in meiner Vorstellhicks
      PRODUCER: Sie sind also Karl Liiwain, schön, sehr schön. ­ Damit                        ... Er lacht gequält. So etwas Blödes! ... Ich fürchte michhicks ...
           wir uns gleich richtig verstehen: Wir sind vor allem an Ihrer
           Vergangenheit interessiert ...                                               Sein Schluckauf ist ihm fürchterlich, ebenso das Thema, das er aus Versehen
                                                                                        angeschnitten hat und das, wie er merkt, für die Situation viel zu ernst und zu
      L                                                                                 komplex ist. EVA betritt die Bar. Kant erblickt sie, entschuldigt sich hastig beim
       EVIN: Dafür ist es bei uns beiden ­ er deutet auf sich und Kant ­ wohl           Barkeeper, packt die Rose, knipst sie an (es ist eine batteriebetriebene Leuchte-
           noch etwas früh?                                                             blume) und geht damit auf Eva zu. Sein Schluckauf ist weg.

      PRODUCER: Ich meine, wir müssen uns schon auf irgendwas bezie-                    KANT: Herr Levin lässt sich entschuldigen.
           hen können. Das ist schliesslich die Idee hinter K&K: Schwer-
           gewichte aus verschiedenen Kunstdisziplinen treten gegen-                    EVA: So? Schade. Sie denkt kurz nach. Und Sie? Haben Sie Zeit?
           einander an zum «Kampf der schönen Künste».
                                                                                        KANT: Er erblasst. Ich wollte gerade gewissermassen umgehend muss
      KANT: Ich fürchte, Sie sind sich nicht ganz im klaren, mit wem Sie                      müsste ich über mich an einer Partitur ... Das ist sehr wichtig,
           reden? Karl Levin ist klassischer Sänger, Schubert, Schu-                          wissen Sie. Natürlich wäre auch das Leben wichtig, das will ich
           mann, und ich bin sein Begleiter, am Flügel ...                                    nicht bestreiten, jetzt zum Beispiel ...

      PRODUCER: Darum geht's ja gerade, Herr ...?                                       EVA: Ist erstaunt. Mit Ihnen singt er? Sind Sie immer so?

      KANT: Kant!                                                                       KANT: Wie?

      PRODUCER: Herr Kant. Das ist es doch gerade, was wir beabsichti-                  EVA: So aufgeregt?
           gen: Diese ganzen alten Dinger ­ Lyriker, Diseusen, Rezitato-
           ren, Sänger, Theaterschauspieler ­, alles wird noch mal aus                  KANT: Im Gegenteil. Halten Sie mich bitte nicht für unkontrolliert
           der Gruft geholt, hochgeschminkt, in K&K vors Publikum                             oder nervös, das bin ich nicht. Sie haben mich bloss gerade auf
           gekarrt und gegeneinander geklatscht. Simultan! Verstehen                          einer spiegelglatten Ebene angesprochen ... Wir alle haben ja
28         Sie? Wir bieten die optimale Location: Messehalle 1, Sie, im                       so Parketts, auf denen wir uns etwas unsicher bewegen. «Ha-
           Gegenzug, Ihren Background. Das wird ein Riesending, ein                           ben Sie Zeit? Haben Sie Zeit?» Das ist so eine Frage, die mich
           echtes Event, mit Catering von Tausig! ­ Kennen Sie be-                            etwas ... Verstehen Sie? «Er lässt sich entschuldigen», sage ich,
           stimmt: Schlemmertausig? ­ Die ultimative Show! Raus aus                           und Sie fragen: «Haben Sie Zeit?» Ich will nicht sagen, dass die
           den Kunstghettos, rein in die Masse und verglühen! Funktio-                        Frage unpassend wäre, aber wenn Sie jetzt gefragt hätten:
           niert natürlich nur mit geilen Dinos, grossen Namen, Künst-                        «Warum?», nur zum Beispiel: «Warum lässt er sich entschul-
           lerpersönlichkeiten, Altstars, Promis ...                                          digen?», nicht wahr. Oder: «Wie spät ist es?» Oder noch bes-
                                                                                              ser: «Habe ich mich verspätet?» Verstehen Sie? Sie haben sich
                                                                                              nicht verspätet, natürlich nicht, ich meine das bloss als Bei-
                                                                                              spiel. Oder: «Danke für die Blume.» Die ist für Sie. Er überreicht
                                           III                                                ihr die elektrische Rose.
      OSKAR-HELENE: Wir wünschen uns so sehr, einen roten Faden zu                      EVA: Danke. Von ihm?
           erwischen, an dem wir uns festhalten können, an dem wir uns
           entlanghangeln können, ans trockene Ufer der Konversation,                   KANT: Ja. Er macht das immer so: Ich muss ihn entschuldigen, im-
           ans Ende unserer Tage, am liebsten bis ins Grab, wünschen                          mer, jedesmal, und immer mit so einer Rose, naja ...
           uns aus dem Labyrinth heraus, möchten ein Schicksal haben,
           eine Geschichte, einen dicken, roten Faden, ein Tau von ei-
           nem Faden, der stark ist und uns zusammenhält. Wir möchten                   Der Barkeeper tritt an die Rampe und wendet sich ans Publikum.
           uns verlieben, möchten hassen, möchten gebären, sterben,
           möchten das eine tun als Folge von etwas anderem, möchten                    BARKEEPER: Leute wie ich sind meistens nur dazu da, besonders
           aufeinander reagieren können, möchten uns verstehen oder                           dick oder besonders dünn zu sein und sich schwitzend irgend-
           doch wenigstens so wirken, als wären wir verstehbar und                            welches Zeug anzuhören. Um das zu durchbrechen, wende ich
           durchschaubar ...                                                                  mich auf diese etwas ungeschickte Weise an Sie. Hier ­ er deutet
                                                                                              auf einen Sarg, der hinter ihm in einer Ecke steht ­, das ist meine verstor-
      Der Producer und Levin sind weg. Kant redet auf den Barkeeper ein. Zwischen             bene Frau. Wir sind gewissermassen tragische Figuren in die-
      den beiden liegt auf dem Tresen die Plastikrose. Kant hat den Schluckauf. Erst          sem Geschehen, nur kommt das nicht zum Tragen: Wir sind
      überspielt er ihn. Während er spricht, wird er ihm zunehmend entsetzlich.               nicht vorgesehen. Das ist unsere Katze. Er deutet auf eine Katze,
                                                                                              die, wie auch alles weitere, was er erwähnt, im Hintergrund auftaucht. Meine
      KANT: Manchmal, wenn ich allein binhicks, ich wohne ja allein,                          Katze, muss ich jetzt sagen. Dies: Unser Tisch ... Unser Radio
           dannhicks ... Entschuldigung ... dann denke ich manchmal,                          ... Hier unsere Kinder ... Er zeigt Fotos. Alles gehört jetzt mir
           dass man allein das Leben gar nicht richtig wahrnehmen kann,                       allein. Die Waschmaschine da zum Beispiel. Leute wie ich
           dass man im Grunde genommen in einem permanenten                                   sind nicht richtig leidensfähig vielleicht. So heisst es minde-
           Traumhicks ... Zu sich selbst: Ist das unangenehm! Er strengt sich an.             stens von den sogenannt niederen Ständen. ­ Ich habe sie sehr
           Ich meine jetzt nicht den Einsamkeitskitsch, sondern ... Zum                       gern ... Du liebe ... Er streichelt seine Frau im Sarg. Nun weiss ich
           Beispiel jetzt: Vielleicht stehen Sie mir jetzt ja gar nicht wirk-                 nicht, wohin ich mich wenden soll. Mir kommt es vor wie ein
           lich gegenüberhicks ... Ekelhaft! Er räuspert sich. Das habe ich                   misslungener Theaterabend, wo plötzlich die Hauptfigur tot
           sonst nie ... Verstehen Sie, was ich meine? Weil Sie und ich                       umfällt. Es kommt einer, zieht den Vorhang zu und sagt:



        «Schluss jetzt. Geht nach Hause.» Und dabei ist es gar kein               LEVIN: How are you? Haha! Hab ich euch, ihr turtelnden Häub-
        richtiger Schluss gewesen. Dann sitzt man da und hofft, der                    chen!
        richtige Schluss werde einem noch gezeigt. ­ Vielleicht ist je-
        der Schluss falsch. Das Leben geht einfach weiter, Schluss ...            KANT: Täubchen.
        Er senkt ratlos den Kopf. Das ist mein Fussboden.
                                                                                  LEVIN: Herr Kant, bitte! Das hat mit Freiheit zu tun, mit Kunst!
                                                                                       Davon verstehen Sie nichts! Zu Eva: Ich hab's mir anders über-
                                                                                       legt. Habe nun doch Zeit gefunden für ein Tête-à-tête mit
                                       IV                                              meiner entzückenden Verehrerin.
Kant und Eva haben sich inzwischen an einen Tisch in einer Nische gesetzt. Die
Rose liegt darauf und leuchtet. Eva fragt nach einer langen Pause:                EVA: Tun Sie nicht verschmitzt, bitte. Es besteht überhaupt kein
                                                                                       Anlass dazu. Ich liebe Ihren Gesang, das ist etwas Ernstes.
EVA: Aber Sie müssen doch irgend etwas zu erzählen haben? Eine
        Anekdote? Ist Ihnen beispielsweise einmal auf der Bühne der               LEVIN: Zu Kant: Ist sie nicht süss?! Ich glaube, ich lade sie ein. Das
        Klavierstuhl gekracht? Etwas in der Art? Oder ein Pasdedeux                    wird pikant. Er zieht eine Einladungskarte hervor und liest davon ab:
        mit einem Kulturbeamten?                                                       «Nun wird es bald.
                                                                                       Wir gehn in den Wald,
KANT: Bitte?                                                                           Zum bekannten Menü,
                                                                                       Im Forsthaustenü.
EVA: Irgend so ein Pasdedeux, der Ihnen unangenehm war?                                Treffpunkt um 21 Uhr beim Wohnhaus Levin Karl,
                                                                                       Der ja am Sonntag ist der Jubilar.
KANT: Fauxpas?                                                                         Dass ihr ja nicht das Fest verpasst!
                                                                                       Sonst würden wir uns am meisten verhasst.
EVA: Das können Sie, korrigieren! Na, wie Sie meinen.                                  Karls Geburtstag im grünen Wald
                                                                                       Ist Sonntag Abend wie gesagt
KANT: Er windet sich. Es tut mir leid, ich bin ... Was schätzen Sie, wie               Um neun, und ich erwarte euch all.»   Er überreicht Eva die Karte.
        alt ich schon bin? Ich bin über ... Er denkt nach, antwortet dann auf
        Evas Frage: Nein, nichts. Einfach nichts. Höchstens ein Witz.             EVA: Sie lacht. Aber das reimt sich doch gar nicht!
        Kommt ein Operntenor zum Intendanten und sagt: Ich möch-
        te gern vorsingen «Es muss was Wunderbares sein». Sagt der                LEVIN: Mein liebes Fräulein, es wird sich schon reimen; schliesslich 29
        Intendant: Kenn ich nicht. Sagt der Tenor noch einmal: «Es                     kommt es von mir. Zu Kant: Begleiten Sie mich, oder wollen Sie
        muss was Wunderbares sein». Sagt der Intendant wieder:                         sich lieber hier noch etwas amüsieren?
        Kenn ich nicht. Singt der Tenor (er singt): «Es muss was Wun-
        derbares sein» ...                                                        KANT: Zu Eva: Sie entschuldigen mich. Er raunt ihr zu: Es reimt sich
                                                                                       wirklich nicht. Wieder laut: Ich würde mich freuen, wenn Sie
EVA: Sie sind merkwürdig. Warum nennen Sie das Witz?                                   kommen könnten.

KANT: Ich konnte auch nie richtig darüber lachen. Stimmt. Jetzt, wo               EVA: Herzlichen Glückwunsch, Herr Levin. Ich kann erst jetzt die
        Sie es sagen. Man hat mich als humorlos beschimpft, weil ich                   wahren Ausmasse Ihres Gedichts vermessen: Richtig Ge-
        nicht lachte. Nicht wahr, das ist überhaupt nicht komisch?                     burtstag?!

EVA: Wissen Sie, ich bin im öffentlichen Dienst tätig, deswegen                   LEVIN: Sicher, Kind, am Sonntag. Auch Sänger werden mal gebo-
        lache ich beinahe über alles, was mir als Witz angeboten wird.                 ren. Nicht wahr, Herr Kant, selbst die schönste Musik schützt
        «Es muss was Wunderbares sein», warum nicht? Das ist be-                       nicht vorm Alter?! ­ Ich hoffe, Sie beehren uns. Arrivederci,
        stimmt lustig. Seien Sie mal nicht verzweifelt. Schliesslich ist               ti abbraccio ... Ab, Kant hinterher.
        das ganze Leben nur halb so vergnügt, wie man uns immer
        weismacht. Das können Sie mir glauben. Lachen Sie also ru-                OSKAR-HELENE: Es geschieht selten in letzter Zeit, dass ich mir im
        hig. Ich habe mir das angewöhnt. Sonst werden Sie noch ma-                     Theater etwas anschaue. Das Angebotene ist nicht mein Gen-
        genkrank. Sie sind ja jetzt schon sehr ernst und bleich. Ich                   re. Ich möchte lieber, wie soll ich sagen, schüttere Stücke se-
        beispielsweise, ich erbaue mich an klassischem Gesang. Dar-                    hen, Stücke, in denen mir nichts vorgemacht wird und ich mich
        um verehre ich ja auch Herrn Levin.                                            nicht missbraucht fühlen muss als lachender Dritter. Das tut
                                                                                       manchmal gut: in Ruhe gelassen zu werden. 
KANT: Ja, ja, selbstverständlich, ich verstehe, sicher, er ist gewiss
        sehr imposant, so ein Kammersänger, richtig niederschmet-
        ternd. Ich bin eher weniger bemerkbar, nicht? So eine Art                                                     ­ Ende ­
        «eingerollter Fall eines vertrockneten Blattes», nicht? «Das
        Blütenblatt, das sich welk ablöst», ja? «Die Stimme auf der
        anderen Seite der Mauer», ja?

EVA: Na, so ein Lüftchen werden Sie nun auch wieder nicht sein?
        Sie haben etwas sehr Entschiedenes, etwas Klares ... Eher wie
        ein geöffnetes Damenmesser kommen Sie mir vor.                            
 
KANT: Messer?! Ich?! Er lacht. Scharf?             
Levin betritt theatralisch die Bar. Er schwankt.