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Prinz Hans


1984 veröffentlichte Matthias Zschokke, gefördert vom Deutschen Literaturfonds, sein zweites Buch Prinz Hans. Im ersten Teil liest es sich wie eine Fortsetzung von Max. Die Titelfigur ist zweifellos ein Bruder von Max, wenn nicht gar sein Zwilling- auch er ein Flaneur, der mit Kinderaugen durch die Welt spaziert: verwundert... erschreckt... verwundet.

Von seinem sozialen Status aus gesehen, kein imposanter Mensch, dieser Hans: "Er ist Angestellter eines Tabak-, Zeitungs- und Spirituosenhandels, wo er viermal die Woche um halb sechs die Tore, das heißt die Tür öffnen muß, um danach zehn Stunden ohne Unterbrechung im Verkauf tätig zu sein. Das trägt seinen bescheidenen Unterhalt. Auf Grund seines Dienstplans hat er oft zu den Zeiten der Arbeitslosen frei und sieht viele davon."

Trotzdem (und eben darum) adelt der Autor seinen Hans ironisch zum Prinzen hoch, denn "nur Prinzen und Könige können die Welt so hochnäsig negligieren, weil sie ihnen gehört. Was einem gehört, das bemerkt man nicht. Ihm steht eben auch die Welt zu und deren Liebe, drum vergißt er sie". Nun, so ganz schnell vergißt Hans die Welt denn doch nicht, aber zwischen ihr und ihm scheint sich eine dicke Panzerglasscheibe zu befinden. Für Hans, den "Rotzbub mit einem Kassandrawissen" (Zschokke), könnte auch gelten, was Claudio in Hofmannsthals Der Tor und der Tod übers Leben sagt: "Bin freilich scheinbar drin gestanden,/ Aber ich hab es höchstens verstanden,/ Konnte mich nie darein verweben./ Hab mich niemals dran verloren."

Zschokke las 1982 in Klagenfurt aus 'Prinz Hans' und zog beim Ingeborg-Bachmann-Preis eine Niete Auch in Zschokkes zweitem Buch Prinz Hans finden sich wiederum unzählige köstliche Beobachtungen und Reflexionen von melancholischem Witz. Etwa: "Wenn einer aus dem fahrenden Zug springt, gibt das eine ein- bis zweistündige Unterbrechung; deswegen läßt man ungern jemand springen. Man hält einander an der Jacke fest. Wenn einer v o r den einfahrenden Zug springt, geht man wieder hoch und kann einen Bus nehmen, der schnell von übergeordneter Stelle zur Entlastung hindirigiert wird. Darum macht das nicht soviel aus. Sehen möchte man es nicht. Man erschrickt." Oder: "Jeder hat die Möglichkeit, auf die Höhe der Zeit zu gelangen, er soll sich bloß nicht anstellen. Der Zeitgeist wartet nicht. Der schreitet voran. Springen Sie auf, oder versteinern Sie in den Regalen für Zurückgebliebene!"

Ein (glückliches) Max-Déjà-vu-Erlebnis stellen ebenfalls die Selbstkommentare des Autors dar, die sein Schreiben begleiten: "Weigert sich noch jemand, bunte Geschichten zum besten zu geben? Dieses Erzählungsgefährt wird dann schon wieder in Fahrt gebracht, das wird versprochen." Oder: "Die hintere Neonröhre links muß flackern, weil sie erwähnt werden will." Aber Prinz Charme treibt den Flirt mit seinen Lesern noch weiter, liebenswert-dreist, indem er eine Max-Repetition unverhohlen eingesteht: "Jetzt staunen Sie, wie ich mich frech wiederhole, über die unverschämte Tatsache, daß türkische Musik in den Hans wie in den Max hineinließt, das Gewaltige der Wiederholung..."

In Max hatte Zschokke ein diskontinuierliches Erzählen auf die Spitze getrieben, indem er epische Trümmerstücke ziemlich aleatorisch montierte (so erschien es zumindest), in Prinz Hans reiht er längere Episoden aneinander, um einen größeren epischen Bogen zu erreichen.

Ab Seite 134 von Prinz Hans setzt sich die Prosa fort mit einem Theaterstück, das sich als eine feine Kostbarkeit herausstellt. Unter dem Mammut-Titel Elefanten können nicht in die Luft springen, weil sie zu dick sind- oder wollen sie nicht- hat am 1o. Mai 1986 im "Theater zum westlichen Stadthirschen", einem Berliner Off-Theater, die Uraufführung stattgefunden. Der Kritiker Heinz Ritter urteilte: "Ein vielschichtiges, bizarr versponnenes Stück von hohem intellektuellen Reiz und subversiver Komik."

Das Stück spielt in einem sogenannten Loft, in einer ausgedienten und nicht gerade sehr komfortablen Fabrikhalle. Hier versammelt sich außer Hans, der nun graubündnerisch-poetisch Gionandris heißt, ein Rest der Jeunesse, die schemenhaft bereits in der vorangegangenen Prosa auftauchte: zum pirandellesken Rollenspiel finden sich ein die beiden jungen Frauen Leta und Zaira, gemeinsam mit einem Mann ihres Alters, der fortan die Hauptperson darstellt, namens Seume. Letzterer ist biographisch nicht identisch mit dem Dichter Johann Gottfried Seume (1763-181o), der den Spaziergang nach Syrakus im Jahre 18o2 schrieb, aber sicher ist die Namengebung eine Hommage für einen außenseiterischen Lieblingsdichter Zschokkes.

Das Fabrikhallen-Quartett inszeniert sich in seiner öden Behausung eine neue und buntere Welt, denn die, die existiert, läßt sich nicht ertragen, muß überspielt werden. Bei "bitterlicher Kälte" träumt man sich fort ins Indische, ins wahrhaft "Prinzliche", hinüber zu Licht und Glanz- allen Störungen zum Trotz: obwohl "ein höflicher Mensch" Flugblätter verteilt und zu absurden Polit-Demonstrationen einlädt, obwohl ein Nachbar, der "Herr Riemer" (das wandelnde Prinzip Banalität), blödeste Außenwelt hereinzuschleppen versucht und obwohl sogar Gevatter Tod (als elegant-blasierte Allegorie) ein- und ausgeht (und sein Theater-Comeback feiert), ganz zu schweigen von einer Figur, die im Personenzettel des Bühnentextes "Jemand Bläuliches" heißt und (für die Akteure unsichtbar) destruktiv sich gebärdend, eine Art Assistent des Sensenmannes ist.

Beim Spiel des Quartetts geht es wirklich um alles: ums Leben. In der Tat findet ein Überlebens-Spiel statt, ganz im Gegensatz zu den Mätzchen, die ein ungebetener Gast-Clown darbietet: was der vorführt, ist lediglich L'art pour l'art, das sind nur mit viel Schweiß eingeübte und im Grunde dämliche Kunst-Stückchen.

Wie bewundernswert dagegen die Imaginationskraft der existentiellen Traumspieler! Sie schaffen es sogar, daß sich der ursprüngliche Beckett-Endspiel-Raum in ein paradiesisches Grün verwandelt. Und wenn dennoch am Schluß der Tod, zusammen mit seinen Schergen, abernten will, hat er damit doch erhebliche Schwierigkeiten: "Die bläuliche Person klappert nachdenklich mit den Zähnen, der Tod probiert verblüfft noch einmal sein Tänzlein." Zwar hat er Zaira bereits kassiert (sie wurde -in konkretem Wortsinn- von einem Geldsack erschlagen), aber das verbleibende Trio singt ihn (höchstwahrscheinlich und hoffentlich) t o t, "zu einer jämmerlichen Cellobegleitung" von Gionandris, dem "Prinzen" Hans.

Der Reichtum des rätselhaft-luziden Zschokke-Stückes läßt sich nicht in wenige Worte fassen: seine Heiterkeit, seine Trauer, sein Witz, seine Skurrilität, seine Naivität, seine Klugheit, ja, seine Weisheit. Ein riskanter Vergleich soll gewagt werden: Matthias Zschokkes Theaterstück hat eine ähnliche literarische Qualität wie Georg Büchners vor ungefähr 16o Jahren entstandenes Bühnenwerk Leonce und Lena.




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