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Publikations-Datum: 2000/09/28/ Seite: 85/ "Tages-Anzeiger"/ Zürich

Baeckeoffe, Wunderfitzel und Knepflas

Das Elsass lebt von seinem Ruf als Land kulinarischer Genüsse. Manchmal entspricht die Realität dem Image.

Von Matthias Zschokke

Der Ruf des kulinarischen Eldorados, der dem Elsass vorauseilt, stammt aus jener Zeit, als bei uns in Dorfgaststätten zur Familienfeier Schildkrötensuppe Lady Curzon aus der Dose, schlaffe Blätterteigpastetchen an bleicher Sauce, Rehpfeffer mit Rotkohl und Salzkartoffeln und zum Abschluss ein Coupe Dänemark aufgetragen wurden.
Das ist vorbei. Für genug Geld kann man heute überall gut essen. Trotzdem steigen weiterhin ganze Legionen von Schweizern und Deutschen in ihre schweren Autos und fahren, auf der Suche nach einer Leichtigkeit, die sie zu Hause vermissen, ins Elsass, um dort langsam an Restaurants vorüberzurollen, in Gourmetführern nachzuschlagen und zu überlegen, wo sie wohl ihr verlorenes Lebensglück finden könnten. In den Fussgängerzonen studieren sie, zum Geniessen finster entschlossen, die ausgehängten Speisekarten, raunen einander Wörter zu wie Brochet, Knepflas, Girolles, Baeckeoffe, stellen sich dazu Gott in Frankreich vor und buchstabieren erwartungsfroh weiter.
Schwere Kost
In Wirklichkeit sind die meisten Restaurants im Elsass eher schlecht (im Unterschied zu den Hotels, die ich ausnahmslos sympathisch, preiswert, sauber und schön gelegen fand). Wo draussen kein "Gault Millau"- oder "Michelin"-Stern klebt, geht drinnen meistens auch keiner auf. Die vielen Püffe, die ein Touristenmagen einstecken muss, lassen sich nur mit dem wirklich guten elsässischen Bier und den Weinen - besonders den würzig fruchtigen wie Muscat, Tokay, Gewürztraminer - parieren.
Ich habe einen "Gault Millau" dabei. Der rote "Michelin" liegt zwar besser in der Hand, und bietet auf 1488 Seiten mehr Informationen, als man sich nur wünschen kann - doch will sich die Lust, wegzufahren, beim Lesen nicht so recht einstellen. Im gelben "Gault Millau" lockt ein Rest Abenteuer; er wirkt weniger gouvernantenhaft, irgendwie unverschämt.
Trotz Führer halte ich mich zuerst stur an das Motto: Wo man hingeht, da geht man nicht hin. Ich vermeide die hochgepunkteten Gourmettempel und suche das Verborgene. Ohne Erfolg. Wo ich auch lande, die Speisen kommen aus der mit Butzenscheiben kaschierten Mikrowelle. Ich versinke an den rot- oder blau-weiss karierten Tischen in mumifizierter Gemütlichkeit und muss meine Laune mit zunehmend stärkerem Tobak aufhellen: Marc de Gewürztraminer! Mirabelle! Auch das lokale Mineralwasser, "Carola", "Lisbeth", schmeckt übrigens gut.
Die Essstrassen
Westlich hinter Basel beginnt der Sundgau, eine verwunschene Gegend an den Routes de la Carpe frite (Strassen des frittierten Karpfens). Dann und wann taucht ein Schweizer Auto auf, sonst nichts als Traktoren, Bäche, Teiche, fette Wiesen mit Gänsen, Schweinen, Apfel- und Zwetschgenbäumen. An den verrammelten Türen der Landgasthöfe hängen verblichene Schilder: Leider geschlossen, wir danken unserer treuen Kundschaft, Weihnachten 1999.
In Moernach hat noch einer auf. Im Stall dahinter muhen Kälber, über den Tischen kreisen Fliegen, die Sonne geht unter, die Abendglocken läuten, Kühe werden über die Dorfstrasse nach Hause getrieben. Nebenan, im für seine frittierten Karpfen bekannten "Aux deux Clefs", bestelle ich die Spezialität der Region, doch kann ich den trocken panierten Tranchen beim besten Willen nichts abgewinnen. Nach ein paar Anstandsbissen gehe ich über zu Rotwein und Käse, was, wie fast überall in Frankreich, Freude macht.
Route des Crètes (Kretenstrasse). Offenbar eine Lieblingsstrecke vieler Elsassbesucher. Man reiht sich ein in die Kolonne, links und rechts pfeifen Motorräder vorbei wie Schrotkugeln, vor und hinter einem schwanken Hobbyradrennfahrer in bunten Trikots die Steigung hinauf. Durch dunklen Wald geht es über die Vogesen. "Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht - und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durchs Gesträuch, so träg, so plump", schreibt Büchner über seinen Lenz, der durch die Vogesen geht. Und: "Er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen."
Manchmal ein kleiner Lichtblick oberhalb der Baumgrenze. An der Strasse weisen diverse Schilder auf Fermes-Auberges hin. Darunter parken deutsche Autos, deren Insassen die Schuhe wechseln und dann loswandern. Folgt man ihnen, gelangt man nach ein paar Hundert Metern zu einer Art Skihütte, vor der auf der Wiese französische Autos stehen. In der niedrigen Gaststube sitzen alle beisammen und essen zünftige Melkermahlzeiten, zu denen in irgendeiner Form Münsterkäse gehört. Münsterkäse, na ja . . . Die frische, rohe Kuhmilch schmeckt gut, und vor allem der Fromage blanc au Kirsch: Frischkäse in Molke mit Zucker und Kirsch, der reinste Kindergeburtstag für Erwachsene.
Alphüttenromantik bereitet mir aber grundsätzlich Beklemmungen, darum nur noch das: Wenn es einen schon auf diese Route verschlagen hat, dann unbedingt die künstliche Schlittelbahn auf dem Col de la Schlucht besuchen. Am besten eine Tageskarte lösen und rauf, runter, rauf, runter - das verbläst auch das tiefste Elend aller Passhöhen.
Route des Vins. Prachtvolle Dörfer mit kräftig angemalten Fachwerkhäusern (Barr, Dambach, Ribeauvillé, Turckheim) zwischen Rebbergen, die von romantisch Gekreuzigten aus rotem oder gelbem Sandstein gesegnet werden. Sogar Störche nisten auf den Kirchturmspitzen. Aber essen und trinken?! Überall trifft man auf individuell reisende Seniorengruppen in Wandersandalen, Rucksäckchen unter den Stühlen, die vor dampfenden Tellern mit wässerigem Sauerkraut und verkochtem Fleisch sitzen, welches sie andächtig verdrücken. Dazu trinken sie halbtrockenen Riesling in Schoppen. Zwar gibt der "Gault Millau" ein paar müde Tipps, doch wer die befolgt, bleibt ebenso schwermütig, wie wenn er gar nicht erst ausgezogen wäre, das Geniessen zu lernen. Auf der Strasse wird es bisweilen eng. Reisecars mit glücklichen, sattgeröteten Schmausergesichtern hinter beschlagenen Scheiben zwängen sich vor und hinter einem durch die Dörfer.
Westlich von Strassburg, in Marlenheim, schere ich aus und steige in einem Hotel ab. Etwas weiter vorne an der Dorfstrasse liegt die erste renommierte Feinschmeckerbastion auf meinem Weg, das für seine regionale Küche berühmte "Le Cerf". Deutsche und englische Limousinen mit französischen Kennzeichen stehen vor dem Haus. Alle Tische sind besetzt. Die Frisuren der Frauen leuchten und glitzern in die Nacht hinaus, als ob Brillantsplitter darüber gepudert worden seien, eigenartig fest sitzend, wie mit Platinharz fixiert.
"L'Espérance" in Handschuheim, einem kleinen Nachbardorf, bietet Flammekuchen aus dem Holzofen. Da fahre ich hin. Ganz Strassburg scheint hier zu verkehren. Kein Gedanke an ausgedehntes Tafeln - ein einziges brutzelndes, duftendes Hin und Her. Der ideale Ort für erinnerungswürdige Flammekuchen-Erfahrungen.
Am nächsten Morgen geht es hinter dem Hotel in die Weinberge, wo sich ein Bauernhof mit fünfhundert Ziegen verbirgt, die "Auberge du Cabri". Wer rechtzeitig kommt, kann frisch gemolkene Milch trinken. Die Ziegen küssen ihm die Hände mit ihren zarten Mäulern, die Hütehunde schlagen Purzelbäume vor Wonne, in einem kleinen Laden werden Ziegenwurst, -käse, -fleisch, auch Schnaps, Honig und Konfitüren angeboten, man kann zuschauen, wie der Käse hergestellt wird, in der Scheune nebenan werden fabelhafte Ziegenmenüs serviert (schon nur die Käse!).
Gotischer Wolkenkratzer
Strassburg. Unvermittelt prallt man auf das Münster, einen Bau, bei dessen Anblick auch dem grössten Muffel der Mund offen stehen bleibt. Alles daran zieht nach oben. Ein ungeheurer, fliegender Wolkenkratzer, Schwindel packt jeden - selbst eingefleischte Gegner von Bildungsreisen müssen hier kurz vom Essen absehen und dieses Münster von aussen und innen anschauen. Und auf seinen Turm steigen.
Das gediegene "Au Crocodile" liegt nur einen Steinwurf davon entfernt. Kaum eingetreten, wird der Gast von einer Personalwoge erfasst und an seinen Tisch geschwemmt. Schon auf diesem kurzen Weg wird mir klar: mein Schulfranzösisch taugt nichts. Da hilft auch kein Reisewörterbuch. Auf kulinarischen Gipfeln wird lyrisch gesprochen, das verlangt Meisterschaft. Um nicht stumm sitzen zu bleiben, bestelle ich schliesslich - nach meiner Übersetzung - linksgedrehte Atlantikschnecken aus Rognon, verheiratet mit Öhrchen vom getrüffelten Milchferkel, gebettet auf Froschschenkelschaum. Ich bekomme Nierli. Sie sind zäh und erinnern an jene vor zwanzig Jahren aus dem "Blutigen Daumen" im Zürcher Niederdorf.
Dieses Gericht ist das Einzige, das mich enttäuscht. Alles andere ist grandios. Ich weiss nicht, was ich esse. Den Anfang machen winzige Appetitanreger, zum Beispiel ein Hauch von einem Süppchen, das dem Meer entstiegen zu sein scheint, gleichzeitig aber kräftig nach Himmel und Erde schmeckt. Es folgen braisierte Sächelchen mit zerlassenem Dings und enthäuteten Kugeln, dargereicht auf Nestchen aus Kartoffelfäden - nie gesehen, nie gekostet. Kaum lässt mein Esseifer nach, wird von einem herbeischwebenden Garçon auch schon ein federleichtes Basilikumsorbet von höchster Einfachheit zwischengereicht - die Lust erwacht von neuem -, und so geht es weiter bis zum Dessert, einer Komposition aus gratiniertem Rhabarberkompott, die wie das Schlussbouquet eines Feuerwerks im Gaumen explodiert und von Löffel zu Löffel immer neue Farben und Empfindungen aufleuchten lässt. Petits Fours flattern hinterher, betörend duftende Käsebretter werden vorübergetragen, Pralinen rollen heran, und einmal kommt ein älterer Mann mit Kochmütze aus der Küche, geht leicht verlegen von Tisch zu Tisch und grüsst: der Meister persönlich, Herr Jung, einer der Väter und weiterhin eine Säule der elsässischen Hochküch. Meine Neugier ist geweckt; ich will mehr erfahren. Der Urtempel der Bewegung, "L'Auberge de l'Ill" steht in Illhaeusern, einem schmucklosen Strassendorf bei Colmar. Auf dem Parkplatz davor glänzt es. Vereinzelt warten Chauffeure. In einem lichten, grossen Anbau ist ein Anatomiesaal mit Speziallabors untergebracht, in dem zahllose weiss gewandete Ärzte zwischen Assistenten hin und her huschen: die Küche. Daneben, im ehemaligen Tabakspeicher, befindet sich ein kleines, nobles Hotel.
Das ganze Ensemble liegt in einem Garten am Ufer des Flüsschens Ill, auf dem unter Trauerweiden zwei schwarze Kähne schaukeln. Videokameras überwachen das Gelände. Drum herum ducken sich trostlos graue Dorfhäuser. Über die Brücke neben dem Restaurant donnern Lastwagen.
Zwischen Bauunternehmern in dunklen Anzügen und Anlageberaterinnen in leuchtend bunten Cocktailkeidern (den praktischen aus den starken Stoffen, in die man sich wie in Korsetts hineinzwängen kann, ohne dass gleich die Nähte platzen) schreite ich wie in Bayreuth auf das Denkmal zu und betrete die Empfangsschleuse: Anmeldung, Garderobe, persönlicher Handschlag des Chefkochs, Übernahme durch den Lotsen, der mich an den Tisch führt - ich weiss, "d'r Hans em Schnokeloch, hett alles was er well . . . ", heisst es im elsässischen Volkslied: Ich komme mir vor wie ein Chinchilla im Käfig oder eine der legendären Stopfgänse und mache kehrt. Hungrig fahre ich weiter, Richtung Norden.
Für gewöhnlich bringt man Grenzen schnell hinter sich, um gleich richtig im anderen Land anzukommen. Deswegen sind Grenzregionen oft besonders unverbraucht - wie der zerfetzte Chemiegürtel um Basel zeigt, wo in Village Neuf beispielsweise das vergessene Restaurant "Meyer" am Kanal döst oder in Mulhouse ein echt französisches Kleinstadtparkhotel und das "Bistrot Oscar", in denen man sich angenehm weit weg von zu Hause wähnt.
Am Rand in der Stille
Auch Wissembourg, auf der französischen Seite kurz vor Karlsruhe gelegen, ist so ein Ort. Hier findet sich in einer ehemaligen Postkutschenstation, mitten im Städtchen am Bach gelegen, das Restaurant "De l'Ange". Spätnachmittags machen die Köche noch Pause hinter dem Haus, sitzen am Ufer in der Abendsonne und meditieren. Alles ist still, der Bach gluckst. Dann treffen die ersten Gäste ein, und in der Küche beginnt das Geklapper. Es gibt nicht allzu viele Tische; die zwei Gasträume und der Hof sind klein. Wer einen Platz findet, bleibt lange und mit wachsender Begeisterung sitzen.
Die Tischdecken kommen einem weisser vor als anderswo, das alte dunkle Holz der Einrichtung ist echt, die Kellner bewegen sich selbstverständlich, das Essen schmeckt ausgezeichnet, Schneckentorte, kandierte Lammkeule, karamelisierte Dampfnudel, le Wunderfitzel . . .

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