Das Elsass lebt von seinem Ruf als Land kulinarischer Genüsse. Manchmal entspricht die Realität dem Image.
Von Matthias Zschokke
Der Ruf des kulinarischen Eldorados, der dem Elsass
vorauseilt, stammt aus jener Zeit, als bei uns in
Dorfgaststätten zur Familienfeier Schildkrötensuppe Lady
Curzon aus der Dose, schlaffe Blätterteigpastetchen an
bleicher Sauce, Rehpfeffer mit Rotkohl und Salzkartoffeln
und zum Abschluss ein Coupe Dänemark aufgetragen
wurden.
Das ist vorbei. Für genug Geld kann man heute überall gut
essen. Trotzdem steigen weiterhin ganze Legionen von
Schweizern und Deutschen in ihre schweren Autos und
fahren, auf der Suche nach einer Leichtigkeit, die sie zu
Hause vermissen, ins Elsass, um dort langsam an
Restaurants vorüberzurollen, in Gourmetführern
nachzuschlagen und zu überlegen, wo sie wohl ihr
verlorenes Lebensglück finden könnten. In den
Fussgängerzonen studieren sie, zum Geniessen finster
entschlossen, die ausgehängten Speisekarten, raunen
einander Wörter zu wie Brochet, Knepflas, Girolles,
Baeckeoffe, stellen sich dazu Gott in Frankreich vor und
buchstabieren erwartungsfroh weiter.
Schwere Kost
In Wirklichkeit sind die meisten Restaurants im Elsass eher
schlecht (im Unterschied zu den Hotels, die ich
ausnahmslos sympathisch, preiswert, sauber und schön
gelegen fand). Wo draussen kein "Gault Millau"- oder
"Michelin"-Stern klebt, geht drinnen meistens auch keiner
auf. Die vielen Püffe, die ein Touristenmagen einstecken
muss, lassen sich nur mit dem wirklich guten elsässischen
Bier und den Weinen - besonders den würzig fruchtigen
wie Muscat, Tokay, Gewürztraminer - parieren.
Ich habe einen "Gault Millau" dabei. Der rote "Michelin"
liegt zwar besser in der Hand, und bietet auf 1488 Seiten
mehr Informationen, als man sich nur wünschen kann -
doch will sich die Lust, wegzufahren, beim Lesen nicht so
recht einstellen. Im gelben "Gault Millau" lockt ein Rest
Abenteuer; er wirkt weniger gouvernantenhaft, irgendwie
unverschämt.
Trotz Führer halte ich mich zuerst stur an das Motto: Wo
man hingeht, da geht man nicht hin. Ich vermeide die
hochgepunkteten Gourmettempel und suche das
Verborgene. Ohne Erfolg. Wo ich auch lande, die Speisen
kommen aus der mit Butzenscheiben kaschierten
Mikrowelle. Ich versinke an den rot- oder blau-weiss
karierten Tischen in mumifizierter Gemütlichkeit und muss
meine Laune mit zunehmend stärkerem Tobak aufhellen:
Marc de Gewürztraminer! Mirabelle! Auch das lokale
Mineralwasser, "Carola", "Lisbeth", schmeckt übrigens
gut.
Die Essstrassen
Westlich hinter Basel beginnt der Sundgau, eine
verwunschene Gegend an den Routes de la Carpe frite
(Strassen des frittierten Karpfens). Dann und wann taucht
ein Schweizer Auto auf, sonst nichts als Traktoren, Bäche,
Teiche, fette Wiesen mit Gänsen, Schweinen, Apfel- und
Zwetschgenbäumen. An den verrammelten Türen der
Landgasthöfe hängen verblichene Schilder: Leider
geschlossen, wir danken unserer treuen Kundschaft,
Weihnachten 1999.
In Moernach hat noch einer auf. Im Stall dahinter muhen
Kälber, über den Tischen kreisen Fliegen, die Sonne geht
unter, die Abendglocken läuten, Kühe werden über die
Dorfstrasse nach Hause getrieben. Nebenan, im für seine
frittierten Karpfen bekannten "Aux deux Clefs", bestelle
ich die Spezialität der Region, doch kann ich den trocken
panierten Tranchen beim besten Willen nichts abgewinnen.
Nach ein paar Anstandsbissen gehe ich über zu Rotwein
und Käse, was, wie fast überall in Frankreich, Freude
macht.
Route des Crètes (Kretenstrasse). Offenbar eine
Lieblingsstrecke vieler Elsassbesucher. Man reiht sich ein
in die Kolonne, links und rechts pfeifen Motorräder vorbei
wie Schrotkugeln, vor und hinter einem schwanken
Hobbyradrennfahrer in bunten Trikots die Steigung hinauf.
Durch dunklen Wald geht es über die Vogesen. "Am
Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht - und
dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und
feucht durchs Gesträuch, so träg, so plump", schreibt
Büchner über seinen Lenz, der durch die Vogesen geht.
Und: "Er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen."
Manchmal ein kleiner Lichtblick oberhalb der
Baumgrenze. An der Strasse weisen diverse Schilder auf
Fermes-Auberges hin. Darunter parken deutsche Autos,
deren Insassen die Schuhe wechseln und dann
loswandern. Folgt man ihnen, gelangt man nach ein paar
Hundert Metern zu einer Art Skihütte, vor der auf der
Wiese französische Autos stehen. In der niedrigen
Gaststube sitzen alle beisammen und essen zünftige
Melkermahlzeiten, zu denen in irgendeiner Form
Münsterkäse gehört. Münsterkäse, na ja . . . Die frische,
rohe Kuhmilch schmeckt gut, und vor allem der Fromage
blanc au Kirsch: Frischkäse in Molke mit Zucker und
Kirsch, der reinste Kindergeburtstag für Erwachsene.
Alphüttenromantik bereitet mir aber grundsätzlich
Beklemmungen, darum nur noch das: Wenn es einen
schon auf diese Route verschlagen hat, dann unbedingt die
künstliche Schlittelbahn auf dem Col de la Schlucht
besuchen. Am besten eine Tageskarte lösen und rauf,
runter, rauf, runter - das verbläst auch das tiefste Elend
aller Passhöhen.
Route des Vins. Prachtvolle Dörfer mit kräftig angemalten
Fachwerkhäusern (Barr, Dambach, Ribeauvillé,
Turckheim) zwischen Rebbergen, die von romantisch
Gekreuzigten aus rotem oder gelbem Sandstein gesegnet
werden. Sogar Störche nisten auf den Kirchturmspitzen.
Aber essen und trinken?! Überall trifft man auf individuell
reisende Seniorengruppen in Wandersandalen,
Rucksäckchen unter den Stühlen, die vor dampfenden
Tellern mit wässerigem Sauerkraut und verkochtem
Fleisch sitzen, welches sie andächtig verdrücken. Dazu
trinken sie halbtrockenen Riesling in Schoppen. Zwar gibt
der "Gault Millau" ein paar müde Tipps, doch wer die
befolgt, bleibt ebenso schwermütig, wie wenn er gar nicht
erst ausgezogen wäre, das Geniessen zu lernen. Auf der
Strasse wird es bisweilen eng. Reisecars mit glücklichen,
sattgeröteten Schmausergesichtern hinter beschlagenen
Scheiben zwängen sich vor und hinter einem durch die
Dörfer.
Westlich von Strassburg, in Marlenheim, schere ich aus
und steige in einem Hotel ab. Etwas weiter vorne an der
Dorfstrasse liegt die erste renommierte
Feinschmeckerbastion auf meinem Weg, das für seine
regionale Küche berühmte "Le Cerf". Deutsche und
englische Limousinen mit französischen Kennzeichen
stehen vor dem Haus. Alle Tische sind besetzt. Die
Frisuren der Frauen leuchten und glitzern in die Nacht
hinaus, als ob Brillantsplitter darüber gepudert worden
seien, eigenartig fest sitzend, wie mit Platinharz fixiert.
"L'Espérance" in Handschuheim, einem kleinen
Nachbardorf, bietet Flammekuchen aus dem Holzofen. Da
fahre ich hin. Ganz Strassburg scheint hier zu verkehren.
Kein Gedanke an ausgedehntes Tafeln - ein einziges
brutzelndes, duftendes Hin und Her. Der ideale Ort für
erinnerungswürdige Flammekuchen-Erfahrungen.
Am nächsten Morgen geht es hinter dem Hotel in die
Weinberge, wo sich ein Bauernhof mit fünfhundert Ziegen
verbirgt, die "Auberge du Cabri". Wer rechtzeitig kommt,
kann frisch gemolkene Milch trinken. Die Ziegen küssen
ihm die Hände mit ihren zarten Mäulern, die Hütehunde
schlagen Purzelbäume vor Wonne, in einem kleinen Laden
werden Ziegenwurst, -käse, -fleisch, auch Schnaps, Honig
und Konfitüren angeboten, man kann zuschauen, wie der
Käse hergestellt wird, in der Scheune nebenan werden
fabelhafte Ziegenmenüs serviert (schon nur die Käse!).
Gotischer Wolkenkratzer
Strassburg. Unvermittelt prallt man auf das Münster, einen
Bau, bei dessen Anblick auch dem grössten Muffel der
Mund offen stehen bleibt. Alles daran zieht nach oben. Ein
ungeheurer, fliegender Wolkenkratzer, Schwindel packt
jeden - selbst eingefleischte Gegner von Bildungsreisen
müssen hier kurz vom Essen absehen und dieses Münster
von aussen und innen anschauen. Und auf seinen Turm
steigen.
Das gediegene "Au Crocodile" liegt nur einen Steinwurf
davon entfernt. Kaum eingetreten, wird der Gast von einer
Personalwoge erfasst und an seinen Tisch geschwemmt.
Schon auf diesem kurzen Weg wird mir klar: mein
Schulfranzösisch taugt nichts. Da hilft auch kein
Reisewörterbuch. Auf kulinarischen Gipfeln wird lyrisch
gesprochen, das verlangt Meisterschaft. Um nicht stumm
sitzen zu bleiben, bestelle ich schliesslich - nach meiner
Übersetzung - linksgedrehte Atlantikschnecken aus
Rognon, verheiratet mit Öhrchen vom getrüffelten
Milchferkel, gebettet auf Froschschenkelschaum. Ich
bekomme Nierli. Sie sind zäh und erinnern an jene vor
zwanzig Jahren aus dem "Blutigen Daumen" im Zürcher
Niederdorf.
Dieses Gericht ist das Einzige, das mich enttäuscht. Alles
andere ist grandios. Ich weiss nicht, was ich esse. Den
Anfang machen winzige Appetitanreger, zum Beispiel ein
Hauch von einem Süppchen, das dem Meer entstiegen zu
sein scheint, gleichzeitig aber kräftig nach Himmel und
Erde schmeckt. Es folgen braisierte Sächelchen mit
zerlassenem Dings und enthäuteten Kugeln, dargereicht auf
Nestchen aus Kartoffelfäden - nie gesehen, nie gekostet.
Kaum lässt mein Esseifer nach, wird von einem
herbeischwebenden Garçon auch schon ein federleichtes
Basilikumsorbet von höchster Einfachheit zwischengereicht
- die Lust erwacht von neuem -, und so geht es weiter bis
zum Dessert, einer Komposition aus gratiniertem
Rhabarberkompott, die wie das Schlussbouquet eines
Feuerwerks im Gaumen explodiert und von Löffel zu
Löffel immer neue Farben und Empfindungen aufleuchten
lässt. Petits Fours flattern hinterher, betörend duftende
Käsebretter werden vorübergetragen, Pralinen rollen
heran, und einmal kommt ein älterer Mann mit Kochmütze
aus der Küche, geht leicht verlegen von Tisch zu Tisch und
grüsst: der Meister persönlich, Herr Jung, einer der Väter
und weiterhin eine Säule der elsässischen Hochküch.
Meine Neugier ist geweckt; ich will mehr erfahren. Der
Urtempel der Bewegung, "L'Auberge de l'Ill" steht in
Illhaeusern, einem schmucklosen Strassendorf bei Colmar.
Auf dem Parkplatz davor glänzt es. Vereinzelt warten
Chauffeure. In einem lichten, grossen Anbau ist ein
Anatomiesaal mit Speziallabors untergebracht, in dem
zahllose weiss gewandete Ärzte zwischen Assistenten hin
und her huschen: die Küche. Daneben, im ehemaligen
Tabakspeicher, befindet sich ein kleines, nobles Hotel.
Das ganze Ensemble liegt in einem Garten am Ufer des
Flüsschens Ill, auf dem unter Trauerweiden zwei schwarze
Kähne schaukeln. Videokameras überwachen das
Gelände. Drum herum ducken sich trostlos graue
Dorfhäuser. Über die Brücke neben dem Restaurant
donnern Lastwagen.
Zwischen Bauunternehmern in dunklen Anzügen und
Anlageberaterinnen in leuchtend bunten Cocktailkeidern
(den praktischen aus den starken Stoffen, in die man sich
wie in Korsetts hineinzwängen kann, ohne dass gleich die
Nähte platzen) schreite ich wie in Bayreuth auf das
Denkmal zu und betrete die Empfangsschleuse:
Anmeldung, Garderobe, persönlicher Handschlag des
Chefkochs, Übernahme durch den Lotsen, der mich an
den Tisch führt - ich weiss, "d'r Hans em Schnokeloch,
hett alles was er well . . . ", heisst es im elsässischen
Volkslied: Ich komme mir vor wie ein Chinchilla im Käfig
oder eine der legendären Stopfgänse und mache kehrt.
Hungrig fahre ich weiter, Richtung Norden.
Für gewöhnlich bringt man Grenzen schnell hinter sich, um
gleich richtig im anderen Land anzukommen. Deswegen
sind Grenzregionen oft besonders unverbraucht - wie der
zerfetzte Chemiegürtel um Basel zeigt, wo in Village Neuf
beispielsweise das vergessene Restaurant "Meyer" am
Kanal döst oder in Mulhouse ein echt französisches
Kleinstadtparkhotel und das "Bistrot Oscar", in denen man
sich angenehm weit weg von zu Hause wähnt.
Am Rand in der Stille
Auch Wissembourg, auf der französischen Seite kurz vor
Karlsruhe gelegen, ist so ein Ort. Hier findet sich in einer
ehemaligen Postkutschenstation, mitten im Städtchen am
Bach gelegen, das Restaurant "De l'Ange".
Spätnachmittags machen die Köche noch Pause hinter
dem Haus, sitzen am Ufer in der Abendsonne und
meditieren. Alles ist still, der Bach gluckst. Dann treffen
die ersten Gäste ein, und in der Küche beginnt das
Geklapper. Es gibt nicht allzu viele Tische; die zwei
Gasträume und der Hof sind klein. Wer einen Platz findet,
bleibt lange und mit wachsender Begeisterung sitzen.
Die Tischdecken kommen einem weisser vor als
anderswo, das alte dunkle Holz der Einrichtung ist echt,
die Kellner bewegen sich selbstverständlich, das Essen
schmeckt ausgezeichnet, Schneckentorte, kandierte
Lammkeule, karamelisierte Dampfnudel, le Wunderfitzel . .
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