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ZSCHOKKE- Ein sanfter Rebell. Brut

Brut


Auf Grund seines zweiten Theaterstücks Brut wählten Kritiker der Zeitschrift "Theater heute" Matthias Zschokke in der Autoren-Sparte zum besten Nachwuchskünstler 1989.

Im Programmheft zur Uraufführung von Brut (Bonn, 18. November 1988) schreibt Zschokke: "Ich hätte etwas Filigranes bezüglich Seeräuberei zu berichten, etwas Kostbares unter dem Namen Brut; von sehnsüchtigen Menschen, die als Kinder unter aufgeschlagenen Knien litten, wie wir; deren Münder klebrig waren, wie unsre. Sie wünschten für sich kühne Größe mit einem Hauch Aristokratie, wie wir. Viele ließen sich überreden und traten in den Dienst der Rhätischen Bahnen, als Schrankenwärter oder Billeteure. Andere wagten einen Sprung und wurden Schlachter. Die wenigsten blieben rastlos. Sie konnten das Fernweh nicht hinauskomplimentieren aus sich auch nicht mit Hilfe einer Reise nach Abbado-, sie wurden Kapellmeister, waren unzufrieden, wurden Kammerjäger (oder -zofen), blieben unzufrieden, wurden Nationalökonome (oder-rätinnen), blieben unzufrieden-, und eines Tages sagten sie sich von allem los und entfernten sich: Sie wurden Piraten- nicht wie wir. Glauben Sie nicht, daß sie nun zufrieden seien. Im Gegenteil: Die Unzufriedenheit, die Unruhe, die Sehnsucht, das sind gerade die Motore, gleichsam die Galeerensklaven oder Schiffsschraubenantriebe, der Wind in den Segeln von Brut."

Ein irreal glitzerndes Märchen, eine Seeräuberpistole: Im Brutofen der "karibischen Sümpfe" dümpelt ein Piratenschiff. Die Besatzung an Bord: Kapitänin Tristana Nunez, die "Blutige"; Selkirk, ein androgyner Matrose, schön wie Melvilles Billy Budd und wohl entfernt verwandt mit Defoes Ur-Robinson; Azor, der Steuermann; Arud Caflisch, Koch; der Navigator Hornigold Glaser; Hallwax, ein opportunistischer Offizier; Kogge, ein tumber Schiffsjunge; außerdem ein unfreiwilliger Gast: eingesperrt im Mastkorb der grüngesichtige Dichter Julio Sloop, für den ein horrendes Lösegeld erpreßt werden soll.


Die Filibuster sind die Brut unerfüllter, verdrängter Sehnsüchte. "Von der Sehnsucht nach dem Absoluten sind sie aufs Weltmeer getrieben worden, und nun verzweifeln sie an der Sinnlosigkeit ihres Daseins", hat ein Kritiker geschrieben. Auf dem Schiff herrscht Chaos, das sanft beginnt: die Band mag nicht mehr zur blauen Stunde musizieren, des Kochs Künste werden verschmäht. Schließlich drei Leichen: die Kapitänin (ein travestierter Tristan) ermordet, verliebt in Selkirk, ihre Nebenbuhlerin, die Fürstin Lastadie Etmal (die gewissermaßen ein weiblicher Fliegender Holländer ist), nachdem sie vorher bereits den Dichter umgebracht hat, der mit Selkirk tändelte. Denn dieser ist eine als Mann verkleidete Frau, wie offenbar wird, als Selkirk sich erhängt hat: ein Opfer ihres Ennui ("Alle erleben, nur ich nicht!"). Hallwax nutzt die Gunst der Stunde und zettelt eine (halbherzige) Meuterei an, die nun die "führungsschwache" Kapitänin in den Mastkorb bringt. Und das piratische Narrenschiff zieht weiter seine Runden: obwohl Hornigold Glaser sein Navigationshandwerk beherrscht, fährt es immerzu im Kreis (Nietzsches "ewige Wiederkehr des Gleichen"), denn Azor, der Steuermann, ist- blind. Wie der blinde Seher in der antiken Tragödie raunt er: "...man kann sie nicht bezwingen, die Schöpfung." Ernüchterung, Enttäuschung steht am Ende aller Sehnsucht, nur "unlustig, zerstreut, mechanisch", wie es in Zschokkes letzter Regieanweisung heißt, geht die Seeräuberei weiter.

Der Kritiker Andreas Roßmann resümierte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" seine Eindrücke von Brut so: "Die Bricollage der Déjà-vus und Reprisen, Opern- und Trivialkunstzitate ist ebenso konstruiert wie ironisch: eine theatralische Abglanzverwertung. Im bunten Kostümstück steckt ein bizarres Konversationsstück. Seine vertrackte Eloquenz läßt die Piraten zwischen Kreuzberger Wohngemeinschaft und philosophischem Proseminar, Beziehungskiste und Selbstfindungskreis schaukeln. Das markierte Porträt einer Generation. Das Theater aber ist der Ort, an dem alle Metaphern in die Parabel münden: Satt und selbstzufrieden ist es geworden, und wenn es doch einmal auf Kurs geht, bewegt es sich bestimmt im Kreis. Weniger tiefsinnig als kokett, ist Brut vor allem ein Insider-Stück: Kritik am Theater und Liebeserklärung an das Theater zugleich."

Wie richtig diese Analyse auch sein mag, greift sie trotzdem zu kurz. Aber immerhin mißbraucht sie den Autor nicht ideologisch wie der Bonner "General-Anzeiger", der Zschokke eine Attacke auf "die abgetakelte 68er-Generation" unterstellte und ihn ans reaktionäre Ufer zu ziehen versuchte: "Zschokke will nicht nur unsere groteske Wirklichkeit in einer grotesken, und vielfach gebrochenen Piratenstory spiegeln. Er will vor allem vorführen, daß die großen Aufbrüche derer, die nach Wesentlicherem streben, nach gesellschaftlicher Veränderung etwa, scheitern müssen. Scheitern müssen aus zwei Gründen: Einmal, weil die Sinnfrage nach dem menschlichen Sein nicht zu lösen ist (und damit alles Tun am Ende fragwürdig wird) und zum anderen, weil die, die mit Macht zu neuen Ufern aufbrechen, den Keim des Scheiterns schon in sich tragen. Ihre Macken und Egoismen, Lüste und Begierden, kurz, ihre seelischen Beschädigungen, die sie bei Antritt der großen Reise mit an Bord nehmen, sorgen dafür, daß ihr Schiff am Ende in einer stinkigen, verseuchten, weit ab vom Schuß gelegenen Gegend immer im Kreise herumfährt." Dieses Stück hat Matthias Zschokke mit Brut
n i c h t geschrieben.

Treffender dürfte die "Neue Zürcher Zeitung" Zschokkes Brut-Intentionen charakterisiert haben: Das Stück ist "ein Diskurs über Tatenlosigkeit und Sehnsucht nach dem Abenteuer, über das Nicht-Handeln-Können und das Nicht-mehr-Handeln-Wollen, ein Diskurs aber auch über die ganz banale, alltägliche Not mit den Gefühlen. Figuren, die einmal mit grossen Träumen aufgebrochen sind, werden im Käfig eines endlosen Sichdrehens am Ort der Sinnlosigkeit ihrer Anstrengung, der Überflüssigkeit ihrer Existenz inne. Ein Ausbruch aus dem magischen Kreis scheint nicht möglich".
Und Zschokke selbst zu seinem Stück: "Aber vor allem hocken Zikaden im Mast, vor der Bühne, hinter den Scheinwerfern, überall; es surrt und lispelt; Geier sitzen auf den Rängen und dösen; aus der Ferne klingt eine Arie. Das ist Brut..."




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