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Raum und Ruhe in Baden-Baden




Im süddeutschen Kurort Baden-Baden ist noch vieles, wie es einmal war: Alte Bade- und Hotelpaläste, traditionsreiche Konditoreien und ein Kasino, in dem schon Tolstoi alles verloren hat.
Von Matthias Zschokke




Wer sich welk fühlt, muss nach Baden-Baden: Ein paar steile Strässchen, ein Boulevard mit eleganten Geschäften, zwei Badekomplexe, ein Kursaal mit Kasino, eine Trinkhalle, ein Theater und ein Kunstmuseum, mondäne Villen zwischen alten Bäumen, hügeliges Land drum herum, dazwischen glasklar und schnell ein Flüsschen, die Oos, an deren Ufer man in einer parkartigen Landschaft entlangpromenieren kann bis hinaus zum Kloster Lichtental und zu Brahms' Wohnhaus. Irritierend ist nur die Ankunft. Der Bahnhof liegt fünfzehn Kilometer ausserhalb, auf einem Acker. Man ist genötigt, in einen Bus umzusteigen.

Hotels gibt es genug. Eines der ersten, das ins Auge fällt, heisst "Zum Hirsch". Ein historisches Haus mitten im verkehrsfreien Zentrum. Obwohl es komplett renoviert wurde, fliesst in die Badewannen dank eines alten Privilegs noch heute Thermalwasser. Überall sonst wäre man auf der Stelle entzückt und würde bleiben (nach Eckzimmern verlangen, die sind stattlicher). So eine Kurstadt macht aber Lust weiterzusuchen. Ausser dem "Holland Hotel Sophienpark" mit seinem prachtvollen Garten, den schon Tolstoi genoss, gibt es in der gleichen Preiskategorie das ebenfalls betagte, etwas knarrende "Atlantic", das nur über eine Brücke zu erreichen ist. Seine Zimmer sind weniger rigoros in Stand gesetzt als die der beiden Erstgenannten, zum Teil sehr gross, das 101 geradezu schlossartig, mit gusseisernen Balkonen davor, über die nachts nichts als das gleichmässige Rauschen der Oos und der Parkbäume hineindringt. Ein Haus, in dem man findet, was nicht mehr zu bezahlen ist: Raum und Ruhe.

Im Parterre stehen dem Gast ein Lesesaal, eine getäfelte Bibliothek mit Kamin und ein verglaster Wintergarten zur Verfügung. Wer wünscht, kann für sich das Feuer anmachen lassen, in einem Sessel versinken, Affentaler trinken und in die Flammen starren. Am Morgen sitzt man im hellen, stillen Frühstückssaal, keine Musik, nichts, nur das Umblättern einer Zeitung am anderen Ende des Saals. Die Brötchen seufzen zwar unfroh, wenn man in sie hineinbeisst, und der Kaffee erinnert im Geschmack an Krieg und Not, doch man hat so gut geschlafen, dass man derartige Kleinigkeiten gern verzeiht.

Auch günstige Pensionen lassen sich finden, wie das "Bischoff" gegenüber vom Friedrichsbad, das in seinem Dach sogar zwei Appartements anbietet. Zu erwähnen ist ausserdem das älteste Luxushotel Europas mit eigenem Thermalschwimmbad, der "Badische Hof", den der Napoleon unter den Verlegern, Friedrich Cotta, 1809 in einem vormaligen Kapuzinerkloster eröffnet hat. Die Badezimmer im alten Trakt haben auch hier Thermalwasser. Liebhaber des Exklusiven werden im "Brenner's" absteigen, dem Rolls-Royce unter den Stadthotels, wuchtig und schwer an der Oos gelegen, mit eigenem Park drum herum - ein Grandhotel auf höchstem Niveau.

"Es gibt hier niemanden, der ernsthaft krank wäre. Alle kommen nur her, um sich zu amüsieren", schrieb Gogol 1836 an seine Mutter, nachdem er bereits drei Wochen länger als vorgesehen in der damaligen "Sommerhauptstadt Europas" hängen geblieben war. Das hat sich nicht geändert: Man badet zum Vergnügen und blüht dabei auf. Das mineralische Wasser schiesst bis zu 68 Grad warm aus dem Boden. Reichlich. Es wird nirgends gespart damit, was einen befreienden Eindruck von Überfluss rundum verbreitet. Hauptattraktion ist die Caracalla-Therme, eine moderne Anlage mit ausladenden Schwimmbassins innen und aussen, heissen Düsen, Sprudelwannen, Saunen, Warmluftsalons, Solarien, Dampfbädern und Aromakammern. Kleinstkinder planschen hier gemeinsam mit ihren Urahnen in wonniger Seligkeit. Auf sämtliche Gesichter legt sich ein absichtsloses, vages Lächeln, das nicht mehr weichen will. Jeder schaut, als habe er soeben von seiner Berufung zum Professor auf Lebenszeit erfahren und sei endlich aller Sorgen enthoben.

Zwar steht, man solle sich im einen Becken maximal fünfzehn, im anderen maximal zehn Minuten aufhalten, aber das steht nur da, damit die Badenden überhaupt noch aus den Wassern steigen. Das Wohlbefinden in Caracalla ist gross. Wenn jeder sich darin so lange aufhalten würde, wie er gern möchte, wäre die Anlage wegen Überfüllung permanent geschlossen. Also überlässt man seine Düse irgendwann halt dem Nächsten, ungern, trocknet sich ab und verlässt das Paradies.

Draussen warten diverse Konditoreien. Das ist in Deutschland für gewöhnlich nichts besonders Aufregendes. Patisserie erfüllt hier zu Lande vor allem die Pflicht, gross und süss zu sein. Weiter ist daran höchstens noch zu loben, dass sie mit Sicherheit gegen keines der zahllosen europäischen Lebensmittelgesetze verstösst. In Baden-Baden ist das anders. Hier wird sogar eine Art Vermicelles hergestellt, eine absolute Rarität in Deutschland. Das beste, das ich kenne, gibt es bei "Honold" in Zürich. Wann immer ich in diese Stadt kam, war mein erster Gang der zu "Honold". Leider wurde dort im letzten Herbst die obere Etage renoviert und in diesem Zusammenhang eine Maschine angeschafft, die einen so abscheulichen Milchkaffee produziert, dass ich es nicht mehr über mich bringe hinzugehen. Seither stehe ich ratlos in Zürich herum und träume von einem Ersatz. König in Baden-Baden könnte einer werden. Zwar treiben noch dunkle Schokoladensplitter ihr Unwesen in dessen Vermicelleskreation, und bedient wird man von allzu scheuen Wesen, die sich nur höchst selten vor die Augen der Gäste trauen, aber das kann geändert werden, und dann ist es perfekt.

In den Hotels kocht man teilweise vorzüglich. Doch ist es nicht jedermanns Sache, dort zu essen, wo er schläft, so wie auch nicht jeder davon träumt, im Bett zu frühstücken. Wer ein Restaurant sucht und sich nicht mit dem obligaten Italiener begnügen will (hervorragend: "La Gondola"): Im "Badener Weinkeller" wird ausgezeichnete Regionalküche serviert, Maultaschen, Schweinshäxle, Wantzenauer Hähnle. Man wird davon zweifellos dickle, aber es lohnt sich. Wer lieber auf Sternenniveau isst und sich nicht scheut, in einem Ambiente zu sitzen, in dem sich vor allem James Bonds Gegenspieler wohl fühlen würden: In "Wehlauers Papalangi" komponiert ein verwegener Draufgänger fabelhaft gewürzte Gerichte.

Jetzt aber zum Eigentlichen, dem Friedrichsbad. Offiziell Römisch-Irisches Bad genannt, ist dies ein Badepalast von kaiserlicher Pracht: Marmor, Messing, Stuck, Säulen, Fresken, bemalte Kacheln, Kuppeln - ein vergessener Traum, streng für Erwachsene. Ernste, einsame Männer links, ernste, einsame Frauen rechts (es gibt auch gemischte Zeiten, aber wahres Badeglück ist unteilbar). Das Gebäude sieht aus wie eine alte Universität oder ein Landgericht. Der Luxus beginnt damit, dass der Besucher rein gar nichts mitbringen muss, weder Tuch noch Badehose noch sonst etwas. Er tritt ein, löst eine Karte (unerlässlich: mit Bürstenseifenmassage), geht durch eine Entkleidungsschleuse und überantwortet sich nackt und bloss dem Personal, Vertrauen erweckenden Riesen und Riesinnen, die ihn in weissen Schürzen erwarten und durch 15 Stationen begleiten.

Nur schon die erste: Duschen/Körperreinigung! Eine schummrige Halle mit Brausen, die Köpfe gross wie Suppenteller, hoch oben angebracht. Kippt man einen mächtigen Hebel um, öffnen sich die Schleusen. Tropisches Thermalwasser ergiesst sich wie ein Wasserfall über einen und donnert auf Schädel, Schultern und Rücken. Man möchte festwachsen, doch die Neugier treibt einen weiter. Benutzen Sie die bereitstehenden Gummischlappen. Die sehen zwar leichenblass und schuppig aus, aber das tun sie bereits seit über hundert Jahren: Sie werden nach jedem Benutzer sterilisiert, das bleicht aus. Barfüssig würde man sich in den nächsten beiden Abteilungen (heiss und trocken) die Sohlen verbrennen. Jede Station ist begeisternd. Hier nur noch die Seifenbürstenmassage: Nachdem Sie weich und warmgegart sind, gelangen Sie in eine Art Schlachtstube. Auf Pritschen, die üblicherweise zum Entborsten von Schweinen benutzt werden, liegen Ihre nackten Vorgänger und werden von den weiss gekleideten Gesundheitssennen mit groben Bürsten und Kernseife abgeschrubbt. Alles dampft, schwitzt und ächzt. Nachdem das krebsrote Fleisch komplett unter Seifenschaum verschwunden ist, kriegt man einen Klaps auf den Hintern zum Zeichen, sich zu trollen.

Dann packt der Senn den Nächsten, legt ihn auf den Schragen und walkt ihn durch, als sei er eine zähe Lederschwarte, die es weich zu kriegen gilt. Benommen taumelt man weiter, unter Duschen, in Dampfgrotten, Warmluftsäle, durch heisse und kalte Wasserbecken bis in eine Art abgedunkeltes Lazarett, wo man ermattet ein Bett besteigt, in eine Armeedecke gehüllt wird und neben den anderen in einen kurzen, erquickenden Tiefschlaf fällt.

Darüber hinaus bietet das Friedrichsbad zusätzliche Massagen, Kuren und Anwendungen wie Thalasso oder Fango. Letzteres ist ebenfalls eine Empfehlung wert: Sie werden in einen Seitenflügel mit Tonnengewölbe geführt und dort in einem Verlies auf einen mit Plastikfolie abgedeckten Rost gelegt. Dann kommt eine Badefrau mit schweren Eimern. Aus denen holt sie heissen Fangobrei und schmiert Sie damit von oben bis unten dick ein. Nun senkt sie den Rost hydraulisch in warmes Wasser, die Folie legt sich um Sie, und Sie treiben schwitzend auf der Brühe, bewusst- und bedürfnislos wie ein Krapfen im heissen Fett. Irgendwann werden Sie wieder herausgefischt, unter eine der Zyklopenduschen gestellt, abgespült und zu Bett geschickt, wo Sie in wohlige Müdigkeit versinken.

Danach rasch in die Konditorei "Rumpelmayer" zum Butterstreusel. Oder wieder ins Café "König", wo man heute noch dem berühmten, streng anliegenden Baden-Badener Turban auf Köpfen alter Damen begegnen kann. Um ihre Füsse wuscheln winzige Hunde, die Nicki heissen. Wenn sie an der Leine zerren, donnern die Damen mit gewaltiger Stimme unter dem Turban hervor: Nick! Aus! Sonst wirst du verkauft! Baden-Baden weist die höchste Millionärsdichte Deutschlands auf.

Auch ein Besuch des Theaters lohnt sich. Egal, was gespielt wird. Das Haus ist von einer solchen Eleganz, dass man als Zuschauer nur gewinnen kann. Ich sah "Figaros Hochzeit". Das Orchester spielte fabelhaft leicht, hell und klar. Die Sänger waren so jung, dass sie im Duett, Terzett oder Quartett noch aufeinander hörten und dadurch die betörendsten Harmonien zu Stande brachten, die ich seit langem vernommen habe. Manche fühlten sich dermassen wohl auf der Bühne, dass sie gar nicht mehr von ihr herunter wollten und sich für ihre Soli deshalb etwas mehr Zeit nahmen als die sie begleitenden Musiker. Zauberhaft.

Zuletzt zur Spielbank, der schönsten der Welt laut Marlene Dietrich: grandios, theatralisch, überwältigend. Hier, im Florentinischen Saal, hat Dostojewski alles verloren, hier hat Tolstoi Abend für Abend in sein Tagebuch notiert "alles verloren", hier verloren Gogol, Gontscharow, Puschkin, Turgenjew, und hier verlieren heute noch alle alles, selbst die weniger Begabten.

Zum Träumen lädt das Kasino vor allem morgens ein, wenn es leer ist und man an einer Führung teilnimmt. Da leuchten die Lüster und die Tische, das Gold glänzt, die Seidentapeten schimmern. Die versprengten Teilnehmer hören Geschichten von gewaltigen Verlusten und Gewinnen, von Blut- und Geldadel, von Scheichs, Milliardärinnen, belgischen Heiratsschwindlern, ukrainischen Auftragsmördern, bayrischen Waffenschiebern und Schweizer Reedern. Alles kommt einem märchenhaft vor.

Am Abend dann, bei Betrieb, wirkt die Spielbank eher abgestanden, stumpf. Es wird darin viel geraucht, die Gesichter sind fahl. Das klickende Geräusch der Plastikchips, die Akrylrechen, mit denen sie zur Seite geschoben werden, und die knisternden Anzüge aus Polyester erwecken einen leicht schäbigen Eindruck. Nacktes Geld hat keine Eleganz, ob gewonnen oder verloren, es bleibt kalt und schal. Die individuellen Tragödien und Euphorien gehen in der getriebenen Menge unter. Die Besitzlosen sind in der Überzahl, jene, die ihr Weniges setzen, es verlieren und bitter feststellen, dass Geld auch hier nur mit viel Geld zu machen ist. Vor hundertfünfzig Jahren wurden die "niederen Volksklassen" noch ausgesperrt, da mag die Atmosphäre glanzvoll gewesen sein - heute dann doch lieber zu "Rumpelmayer".



"Tages-Anzeiger", Zürich, 3.2.2ooo