
Als Hel durch das Tor geschritten war, zog er sich die Kapuze wieder über den Kopf und marschierte weiter, die Straße entlang. Er sah nicht die Tropfen auf den Gräsern und Büschen, die hie und da aufleuchteten, wie Splitter von Kristallen und die sanfte Schönheit der hügeligen Landschaft berührte ihn nicht. Seine Gedanken weilten in der Vergangenheit. Trauer und unersetzbarer Verlustes waren die Fäden, die auf dem Spinnrad der Schuld zu dem Netzes gesponen wurden, aus dem es keinen Ausweg gab. Mechanisch schritt er aus, so als könnte der monotone Takt seiner Schritte den Schmerz betäuben, gut eine halbe Stunde lang, dann verließ er die Straße und folgte einem kaum sichtbaren Pfad, der sich zwischen den Stämmen knorriger Onubabäume bergan wand. Oft genug waren er diesen Weg gegangen. Zwischen den Stämmen, die den Pfad mit ihren dichten Laubkronen beschirmten, strich er die Kapuze zurück und klemmte sich den Behälter, dessen Kante auf die alte Narbe an seiner Seite drückte, unter den anderen Arm. Er verlangsamte seinen Schritt, so als wöge die kleine Kiste unter seinem Arm mit jedem Schritt schwerer. Im Schatten der Bäume schienen ihm die Gespenster der Vergangenheit zu tanzen, ihm zuzuwinken mit knöchernen Händen und sie wisperten mit den Stimmen der raschelnden Blätter im Wind, riefen ihn und luden ihn zum Tanz. Schweigend wanderte er weiter den Weg hinauf zur Klippe und als sich das Gehölz lichtete und er die Schatten hinter sich ließ, leuchteten zu seine Linken in reinsten Weiß die noch halb geschlossenen Blüten eines wilden Oredija-Stauches. Er verharrte und stellte die Kiste ab und den Spaten. Der Duft der Blüten empfing ihn, wie die tröstende Berührung einer Frauenhand, als er zu dem Strauch trat, seine Hand nach einer Blüte ausstreckte und sie brechen wollte, drang ein Dorn in seinen Finger. Hel zuckte zurück und ein einziger Blutstropfen fiel auf eine andere Blüte, ein purpurener Splitter in einem Meer aus Weiß. Gebannt sah er zu, wie der Tropfen über das Blatt der Blüte in ihren Kelch floß und vorsichtig brach er diese Blüte von ihrem Zweig, barg sie in seinem Lederbeutel und setzte mit seiner geringen Last den Weg fort, der ihn nach kurzer Zeit zu der Lichtung am höchsten Punkt der Klippe über dem Metcha brachte. Der Wind trug den Geruch von Salz und Tang mit sich und der Blick verlor sich in der dunstigen Weite, dort wo See und Himmel eins wurden. Das fast kniehohe Gras wogte im Atem des Windes als er auf einen kleinen Hügel zuschritt, schon nahe am Abruch der Klippe. Ein kräftiger Onubaschößling sproß aus einem Ende dieses Hügels, der die Form eines Grabes hatte. Mit einer fast zärtlich anmutenden Bewegung stellte Hel den Behälter ab und legte Lederbeutel und Schaufel daneben. Er beugte sich hinab und behutsam suchte er nach der Oredijablüte.

Der Regen hatte aufgehört, doch der Wind zerrte in immer neuen Böen an seinem Umhang und ließ ihn flattern, wie ein losgerissenes Segel, als er an den Grabhügel trat und sich davor niederkauerte. Er legte die Blüte, in derem Kelch es rot leuchtete, mit einer behutsamen Geste auf das Grab.
"Tara.": flüsterte er leise und in diesem einen Wort schwang all der Schmerz, den er niemanden zu sehen erlaubte und tiefe Sehnsucht nach Frieden und Vergessen.
"Ich habe dir deinen Vater gebracht."
Er schloß die Augen und seine Hand ruhte lange auf der Grasnabe des Hügels, so als hielte er stumme Zwiesprache und langsam entkrampften sich seine Gesichtszüge, als strömte ihm Trost zu und linderte seine Qual. Als er die Augen öffnete und sich langsam erhob, hatte sich der Dunst über dem Metcha gelichtet und hie und da glitzerten die Wellen der See unter einem Lichtspeer, der durch die Wolken drang. Hel legte seinen Umhang ab, ergriff den Spaten und zur Linken von Taras Grab setzte er den ersten Spatenstich. Lange grub er, bis ihm Arme und Rücken von der ungewohnten Arbeit schmerzten, denn er grub tief. Blasen bedeckten seine Hände, als er aus der Grube stieg und Atem schöpfte. Schließlich entnahm er seinem Lederbeutel das schwarze Bündel und entfaltete es auf dem Boden. Es war ein rechteckiges Stück schweren, schwarzen Samtes, auf dessen Mitte die Umrisse eines Raubvogels, der sich mit gespreizten Krallen auf seine Beute stürzte, unbeholfen eingestickt waren. So gut er es vermochte hatte Hel die Stickerei angefertigt. Er verharrte noch einen Moment bevor er das weiße Tuch von der Holzkiste wegzog und es achtlos zu Boden fallen ließ und den Deckel öffnete.

Behutsam und feierlich, so als vollzöge er ein schmerzliches Ritual, entnahm er Knochen um Knochen, die teils angekohlt und von den Flammen des brennendes Hauses geschwärzt waren, dessen Keller er einen ganzen Tag durchwühlt hatte und bettete sie auf das schwarze Tuch. Auch einen geschmolzenen und wieder erstarrten Klumpen edlen Metalles, der nur der Ring gewesen sein konnte, den Periodes auch bei seinem letzen Kampf mit ihm getragen hatte, fügte er den Gebeinen bei. Als Letztes hob er den angesengten Schädel aus der Kiste, der ihn ernst und würdevoll aus leeren Augenhöhlen anzustarren schien. Seine Hand zitterte leicht, als er ihn auf das Tuch legte und auf seinem Gesicht spiegelte sich die Schuld, die er sich zumaß. Kurz ruhte noch seine Hand auf dem Knochen, dann schlug er bedächtig das Tuch zusammen und schlang es zu einem Bündel. Er trug es auf den Armen, wie ein Kind, als er in die Grube stieg und es an das Kopfende des Grabes bettete. Aus einer Tasche zog er die harte Samenkapsel eines Onubabaumes, kauerte sich vor das Bündel, das die Gebeine des toten Freundes enthielt und steckte den Samen des Baumes in eine Falte des Tuches.
"Ruhe in Frieden, alter Freund.": sprach er leise mit kratziger Stimme und seine Finger verkrampften sich im Stoff des Bündels.
"Ich sollte an deiner Stelle hier liegen, neben Tara. Alle Schuld wäre getilgt und ich wäre bei ihr, so wie es sich gehört, für Mann und Frau. Ich vermisse sie und dich auch, Periodes."
Tränen tropften von seinen Wangen auf den Samt des Leichentuches und ein Schluchzen erstickte alle Worte in seiner Kehle. Er brachte es nicht über die Lippen, daß es so sinnlos gewesen war, daß er, Periodes, recht gehabt hatte und der Vertrag, um dessen willen er ihn getötet hatte, nicht die Tusche wert gewesen, mit der er geschrieben worden war. Nach einer Weile hob er langsam den Kopf und als er sich erhob, schien es als müßte er gegen eine unsichtbare Last ankämpfen, die ihn zurück auf den Boden des Graben zwingen wollte.

Er stieg aus der Grube und hob das Gesicht zum wolkenverhangenen Himmel, der Wind trocknete die letzen Tränen und als er die Arme ausbreitete, sie den ziehenden Wolken entgegenreckte und sein Herz der Göttin öffnete, war seine Stimme klar und kräftig.
"Lijan, Herrin des Lebens und des Todes, die du der Weg bist, die du Alles bist, beschirme und behüte Periodes auf dem Weg durch deine Dunkelheit und öffne ihm die Pforte in deine Herrlichkeit. Gib ihm vom Wein des Lebens auf das er erwache aus dem Schlummer des Todes und im Feuer deiner Liebe wandle, denn ohne deine Liebe war nichts, ist nichts und wird nichts sein."
Hoch aufgerichtet stand Hel, als im Wind der Schrei des jagenden Falken erklang, jubelnd und wild. Er ließ die Arme langsam sinken und die Gewissheit, daß die Göttin den Freund willkommen hieß, gab ihm die Kraft, die Erinnerung an jene Nacht zu ertragen, als Periodes, Zzrkiz und er am offenen Grab Taras gestanden hatten. Er griff zum Spaten und Erde prasselte auf das Samtbündel, wie der letzte Trommelwirbel eines Kondukts.
Schaufel auf Schaufel füllte das Grab, bis die frisch aufgeworfene Erde, die er sorgsam zu einem flachen Hügel geglättet hatte, Taras letzte Ruhestätte berührte. Als er den Spaten über den Rand der Klippe hinaus auf den Metcha schleuderte, war es ihm so, als schlüge Vergangenheit und Gegenwart über ihm zusammen, als vermengten sie sich. Er ließ sich zu Boden fallen und starrte vor den Gräbern sitzend blicklos in den Strudel, der Erinnerung und Jetzt vermischte; Taras bleiches, noch im Tode schönes Antlitz und ein geschwärzter Schädel in seiner Hand, Periodes der tröstend die Hand auf seine Schluter legte und eine weiße Blüte auf Taras Grab. So saß er noch da, als die Dämmerung der Nacht wich und nicht nur einmal war es ihm, als hörte er zärtliches Geflüster zweier Stimmen, die er so bitter vermißte und auch er sprach zu ihnen. Langsam und zuerst stockend, doch dann brach der Damm, den er aufgerichtet und Worte floßen wie Tränen in den dunklen Weiher dieser Nacht, bis die Stille Hel und seine Toten umfing und den Frieden brachte.

Das erste Grau der Morgens fand ihn müde und durchgefroren, naß von Tau und Regen. Mühsam streckte er seine längst gefühllos gewordenen Beine und erst nach einer Weile vermochte er aufzustehen. Das weiße Tuch lag noch immer auf dem Boden, durchweicht und naß, wie das Kleid einer Ertrunkenen. Mit steifen Schritten ging er hin und packte es in die kleine Kiste und warf sie anschließend über die Klippe. Nichts, außer dem Wasser des Metcha, sollten es noch berühren. Tau glitzerte auf der weißen Blüte, als Hel noch einmal zu den Gräbern trat und stumm Abschied nahm. Im ersten Sonnenlicht verließ er die Klippe und schritt den Weg zurück in die schweigenden Schatten des Waldes. Noch immer hüllte ihn die Trauer ein, wie ein Mantel, doch der Schmerz hatte seine Klauen eingezogen, wußte er doch, daß Periodes langer Weg ein Ende gefunden hatte. Er war heim gekommen.

Copyright by Josef Mittermann
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