DER GEWICHTHEBER

Es ist vier Uhr morgens. Ein riesiger, gorillahafter Mann schlurft auf den Gefängnissportplatz. Der Platz hat sich seit Stalins Zeiten wenig verändert. Das graue Frühlicht umfängt schwarze, metallene Umrisse, und die Stille ist vollkommen. Der Mann wird Tarzan genannt, aber nur hinter seinem Rücken. Er ist immer schon der erste hier gewesen. Dies ist sein Platz. Dies ist seine Zeit. Diese eine Stunde einsamer Anstrengung ist das, was für ihn dem Begriff ,Liebe‘ am nächsten kommt.

Und jetzt sieht er, vor dem rötlichen Hintergrund des Morgenhimmels, den Umriß eines Mannes an der Reckstange. Sieben Jahre lang hat ihn niemand so früh gestört. Wer wagt es heute?

Tarzan geht auf die dunkle Gestalt zu. „Das ist mein Reck, Kumpel. Wie lang brauchst du hier noch?“ – Stille.

Als er dichter herankommt, sieht er, daß der Mann reglos dahängt, die Hände seitlich baumelnd; ein dünnes Seil verbindet den Hals mit der Reckstange. Selbstmord. Es gibt eine Menge Selbstmorde hier, aber diesen nimmt Tarzan persönlich. Er nähert sich dem Gesicht des Mannes und erkennt ihn; der Neue, der in der Küche gearbeitet hat, schmal und blond.

“Ah. Und was, denkst du, soll ich jetzt machen? Schau, was du angerichtet hast! Ausgerechnet hier. Warum hast du mir das angetan?“ Tarzan umkreist den Mann mit langsamen Schritten und einem Kribbeln in der Magengegend. Er atmet scharf ein und merkt, wie seine Ideen in alle Richtungen davonfliegen. Eine braucht er jetzt, eine gute, dringend...

Der einzige Gedanke, der ihm bleibt, bereitet ihm Kopfschmerzen. Die Knie geben ihm nach. "Mein Reck. Als sich das letzte Mal jemand wie du an meiner Reckstange erhängt hat, haben sie die Stangen abgesägt, und zwei Jahre konnten wir nicht trainieren!" Diese Aussicht erschreckt ihn mehr als der Tote selbst. "Du bringst dich um – und mich gleich mit!

Warum hier? Warum gerade hier, ab dieser Stange? Ich brauche sie zum Training. Warum bist du nicht zu mir gekommen und hast gesagt: ,Ich will stark sein wie du. Ich will um mein Leben kämpfen. Bring mir Klimmzüge bei und wie man Gewichte hebt.‘“ Tarzan steht still und schaut den Mann an. „Du hörst mir nicht zu.“

Aber so leicht gibt er nicht auf. Tarzan ist nicht einfach stark, nicht nur abgebrüht – seine rücksichtslose Zielstrebigkeit ist sein besonderes Kennzeichen. Deshalb gehen im die anderen aus dem Weg, am Reck und beim Essen.

Tarzan umkreist den Toten. „Du bist tot, aber ich lebe. Das verstehst du doch. Ich lebe, und ich will nicht zwei Jahre nicht trainieren können.“ Zorn steigt in ihm auf. „Du weißt ja nicht mal, was zwei Jahre Knast bedeuten. Du warst ja nur zwei Monate drin, und schon hängst du dich auf – auf meine Kosten.“

Tarzan wäre jetzt schon bei der zweiten Runde Klimmzüge. Egal was passiert ist, sein Körper hat seine eigenen Bedürfnisse; er muß sich verausgaben und schwitzen, um die Dämonen in seinem Kopf in Schach zu halten. Aufsteigende Panik facht seinen Zorn an. Wie kann er das retten, was ihm in seinem Leben am wichtigsten ist?

“Warum – warum an meinem Reck? Ausgerechnet hier! Ich lasse das nicht zu!“

Tarzan legt den Kopf schief, wie ein Hund, der einen Einfall hat. Er schaut hinüber zur grauen Steinumfriedung des Gefängnisses, und seine Augen suchen nach einem der alten Eisenhaken, die aus der Mauer ragen.

Da ist einer, rostig, aber noch spitz.

Tarzan nimmt die Leiche ab und trägt sie hinüber; er murmelt: "Du warst schwach. Jetzt bist du tot. Du fühlst gar nichts mehr. Wir Lebenden brauchen Training, um stark zu bleiben.“ Er rammt den Körper mit einer derartigen Kraft auf den Haken, daß die Luft aus den toten Lungen entweicht und der Leichnam einen vernehmlichen Seufzer ausstößt.

“Bleib hier, Kumpel. Hier kannst du mir nichts anhaben. Du bist tot. Es ist egal, ob sie dich am Haken oder am Reck finden. Wenn ich mit dem Training durch bin, rufe ich die Wachen, damit sie dich runternehmen.“





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