IWAN UND MR. HYDE

Iwan hat heute Glück gehabt. Er hat dreihundert Rubel gewonnen, beim Kartenspiel mit einem nervösen Soldaten, der für unerlaubte Abwesenheit einsitzt. Jetzt will der junge Soldat sich revanchieren – gerade spielt er um seine Kleider. Seinen Mantel verliert er als erstes. Dann den Gürtel. Bald sind Hose und Stiefel weg. Als er nichts mehr hat, will er seinen Silberzahn ziehen und seine Rationen setzen. Aber im Knast herrscht das ungeschriebene Gesetz, niemals um die Rationen zu spielen. Also endet das Spiel damit, daß der Soldat in Unterhosen zu seiner Pritsche geht und den Kopf in der Wolldecke vergräbt.

Als er sieht, wie schlimm sein Gegner dran ist, wirft Iwan ihm großzügig seine Kleider hin und sagt: “Laß dir das eine Lehre sein, junger Mann. Wenn du um Geld spielen willst, brauchst du Erfahrung.” Iwan lächelt strahlend, als der Soldat seine Kleider aufsammelt.

Iwan ist ein schwerarbeitender Traktorist, der, wenn er nüchtern ist, ein weites Herz und Mitgefühl für seine Genossen hat. Er ist hilfsbereit und sentimental. Aber in ihm, wie in jedem von uns, bekriegen sich zwei Mächte. Sein Leben lang liegen Gut und Böse in einem endlosen Kampf. Iwan hat den alten Leuten nie Geld abgenommen, wenn er ihnen den Garten gepflügt hat, und dafür entlohnten sie ihn mit reichlich Schnaps. Er nahm kein Geld von Leuten, deren Wagen er aus dem Dreck zog, also tranken sie mit ihm Brüderschaft. Es wäre unhöflich von Iwan gewesen, diese Großzügigkeit abzulehnen. Wie jeder freundliche Traktorfahrer war Iwan abends oft angetrunken. Dann wurde der Kampf in ihm zur Schlacht. Dann kam Mr. Hyde hervor und übernahm die Kontrolle über Iwan, und der Wechsel war fürchterlich. Wenn Mr. Hyde das Kommando hatte, wurde der betrunkene Iwan zu einem streitsüchtigen Schläger.

Dann brach Iwan einen Streit in der Kneipe vom Zaun, nahm sich fremde Motorräder oder stahl Hühner.

Mr. Hyde führte den hilflosen Iwan mit Leichtigkeit in Konflikt mit Abschnitt 206 des Strafgesetzbuchs, das für solches Verhalten drei Jahre Gefängnisstrafe vorsieht – nun schon das sechste Mal.

Während sich der Soldat anzieht, schaut Iwan nach einem neuen Gegner zum Kartenspielen. Keiner findet sich, und so beschäftigt sich Iwan mit dem angenehmen Gedanken, wie er seinen Gewinn ausgeben wird. Aber zuerst muß er den Zehnten bezahlen.

“Hier sind 30 Rubel”, sagt er laut und wirft das Geld mitten auf den Tisch. Jeder Gewinner muß in den ,Sozial-Topf‘ der Gruppe einzahlen. Dann überlegt er sich, wie er den Rest verjubeln wird.

Iwan ruft lachend: “Wie soll ich mein Geld ausgeben?”

“Such dir ein Mädchen”, johlt ein Zellengenosse.

Das ist eine hervorragende Idee. Iwan denkt an diesen besonderen Ort im Gefängnis, wo die Untersuchungshäftlinge auf ihren Prozeß warten. Dort gibt es viele Frauen, einige schöne, und fast alle bestens darin ausgebildet, ihre Dienste an einsame Männer zu verkaufen. Es ist lange her, daß Iwan dort gewesen ist, und die Belegschaft wechselt schnell. Nach ihrer Verurteilung kommen die U-Häftlinge in andere Gefängnisse. Alle Frauen dort werden neu sein.

Bei so vielen Haftstrafen hat Iwan mehr Erfahrung im Kartenspiel als in der Liebe. Er war schon immer schüchtern mit Mädchen und weiß nie, was er zu einer Frau sagen soll. Einmal hat er eine Milchmagd geheiratet. Wenn sie mit ihm sprach, stand er wie festgewurzelt und fühlte sich wie ein Kaninchen bei der Schlange. Eines Abends, als Mr. Hyde die Oberhand hatte, sahen die Nachbarn, wie Iwan seine Frau mit einer Axt an verfolgte und schrie: “Ich bring dich um, Hexe!” Kurz darauf verschwand Iwan für weitere drei Haft-Jahre aus dem Dorf.

Jetzt steht er und sinniert. Am besten ist es, wenn es wie eine kühne, entschlossene Aktion aussieht, sonst verspotten ihn seine Zellengenossen. Er geht zur Zellentür und ruft den Wächter. Es ist Abend, und der Wächter ist sofort da; er schaut Iwan durch das kleine Guckfenster an, das hier das ,Futterloch‘ heißt.

“Ich hab etwas Geld übrig”, sagt Iwan.

Der Wächter sagt nichts, aber er lächelt höflich, um zu zeigen, daß er Iwan ganz zur Verfügung steht.

“Wie wär’s mit einem Mädchen?”, fragt Iwan.

“Kein Problem”, sagt der Wächter. “Du zahlst 40 Rubel, sie 25. Ich schließe euch für ein paar Stunden in eine leere Zelle. Wenn sie kein Geld hat, zahlst du für sie”, fügt er hinzu. Iwan hält das für Nepp, aber Handeln hat mit den Wächtern keinen Sinn – sie haben den Schlüssel.

“Ich kenne kein Mädchen hier”, gibt Iwan zu.

“Gib mir einfach das Geld, und ich bringe dir eine”, sagt der Wächter.

Iwan denkt kurz nach. “Woher weiß ich, wen du mir bringst? Was, wenn wir uns nicht ausstehen können?”, fragt er.

“Kannst du’s dir aussuchen?”, fragt der Wächter bissig. “Du bist hier nicht in der Disco. Du bist im Knast. Hier mußt du glücklich werden mit egal welchem Mädchen – Hauptsache, sie will einen Mann und hat die 25 Rubel.”

“Nein.” Iwan protestiert. Er denkt an diese zwei furchtbaren Frauen, die gestern hier geputzt haben. “Ich kaufe keine Katze im Sack. Zwischen Mann und Frau muß es eine Übereinstimmung geben. Ich muß sie sehen, bevor ich zahle. Ja?”

“Okay”, sagt der Wächter langsam. “Was hast du dir so vorgestellt?”

“Ich weiß nicht”, gibt Iwan zu. “Aber ich muß sie vorher sehen.”

Der Wächter zuckt die Schultern und sagt: “Gut, ich nehme dich mit zu den Mädels, und du kannst es mit ihnen besprechen.”

Iwan merkt plötzlich, daß das die schlimmste Möglichkeit ist, aber nun hat er den ersten Schritt getan und will keinen Rückzieher machen. Er sagt mit einem gezwungenen Lächeln: “Gut. Gehen wir zu den Mädels.” Alle anderen Männer in der Zelle beneiden Iwan. Einer gibt ihm seine Jacke. Ein anderer kramt eine rötlichbraune Krawatte hervor. Iwan will die Krawatte nicht; er findet, zu seiner gestreiften Matrosenjacke sieht sie albern aus, aber seine Zellengenossen sind in der Überzahl.

“Wünscht mir Glück”, murmelt Iwan, als der Wächter die Zellentür aufschließt.

Auf dem Weg fühlt sich Iwan, als wollten in seine Beine nicht tragen, und er wird nervös. Zum Glück ist es nicht weit.

“Da wären wir”, sagt der Wächter. “Soll ich aufschließen, oder bist du so spitz, daß du durch das Futterloch willst?”

Iwan schaut nach drinnen. Es ist dunkel. “Mit offenem Fenster wäre es besser”, sagt er zu dem Wächter.

Dieser öffnet ein kleines Fenster, damit Iwan drinnen besser sehen kann. Er schaut lange in die Zelle hinein. Zwei Frauen spielen Schach an einem Tisch, ein paar andere lesen, und eine läuft nur hin und her.

“Hallo Mädels”, ruft Iwan zu laut.

Im nächsten Moment wenden sich ihm zwei Dutzend Augen zu.

“Will eine von euch ein bißchen Spaß haben?” Iwan beginnt den Satz im fröhlichen Tonfall eines Partygängers, aber am Ende erkennt er seine Stimme nicht mehr.

“Nimm mich, nimm mich, ich will Spaß”, ruft ein Mädchen und springt auf. Eine der beiden Putzfrauen von gestern.

“Oh, nein”, sagt er. “Vielleicht nimmt dich jemand anders. Wir passen nicht zusammen.”

“Na los schon”, drängelt der Wächter, als er die Zellentür öffnet. “Sei ein Held.”

“Ich muß mich konzentrieren...” Iwan atmet tief durch, als er hineingeht. “Wie wärs mit dir?”, fragt er ein schmales, brünettes Mädchen. “Steh auf und laß dich anschauen.”

“Zieh ab”, antwortet sie und zeigt ihm den Mittelfinger.

Iwan weiß nicht, was er tun soll. Er ist völlig verloren. Da sieht er eine Frau mittleren Alters aufstehen und auf ihn zukommen. Sie hat eine einschüchternde Haltung; offensichtlich ist sie die Zellenchefin.

Sie trägt eine schwarze Jacke über einem weißen Pullover, hat eine anständige Frisur und sieht eher nach Lehrerin aus als nach Strafgefangener.

“Himmel!”, legt sie los. “Wo sind die guten alten Zeiten, als die Kavaliere noch mit Blumen und Ständchen kamen? Wo ist der Respekt vor Frauen? Wo ist die Ritterlichkeit?”

Plötzlich fühlt sich Iwan, wie er es kennt. Er ist völlig erstarrt, wie bei seiner Ehefrau.

“Was haben die Männer nur für Manieren heutzutage?", fährt sie fort. “Du kommst hierher, um ein Mädchen zu umwerben, und führst dich auf wie auf dem Pferdemarkt. Sollen die Frauen sich hinstellen, damit du sie wie Pferde begutachten kannst?”

Iwan war noch nie auf dem Pferdemarkt, aber es tut ihm schon leid, daß er hier hergekommen ist.

Jetzt steht sie direkt vor ihm, schaut ihm in die Augen und erläutert: „Der Pferdehändler geht um das Pferd herum, fragt nach seinem Gewicht und seinem Alter. Dann schaut er ihm in den Arsch, und er zählt seine Zähne.”

Während sie redet, geht sie langsam in der Zelle umher. “Wir sind keine Pferde. Wir sind Damen. Wenn du dich mit einer Dame verabreden willst, kannst du dein Glück hier in der Zelle probieren. Aber der einzige Weg, einer Dame zu gefallen, ist, es ordentlich zu machen, mit einer Flasche Champagner und wenigstens ein paar Süßigkeiten”, belehrt sie ihn, wie in einer Vorlesung für Anthropologie. “Die Seele einer Frau ist das Geheimnis, das ein Mann ergründen muß!”

Iwan hört nicht mehr zu. Er geht hinaus zu dem Wächter. “Puuuh!” Er wischt sich den Schweiß von der Stirn.

“Ich kann Champagner und Schokolade beschaffen”, sagt der Wächter amüsiert. Iwan gibt ihm Geld, und Minuten später erscheint er wieder mit einer Flasche und Süßigkeiten.

“Hallo Mädels”, sagt Iwan, diesmal mit ruhiger und fester Stimme.

Diesen neuen Iwan mögen die Damen, und sie versammeln sich um den Tisch, alle mit Tassen ausgerüstet, und nehmen sich von den Süßigkeiten. Iwan schenkt den Champagner aus, aber bevor er eine Runde gemacht hat, ist die Flasche leer. Ohne ein weiteres Wort geht Iwan zu dem Wächter und bestellt mehr Champagner. Wieder am Tisch, sieht er, daß die Damen ihre Tassen schon geleert haben.

Frisch ausgerüstet, schenkt Iwan von neuem aus, wobei er mit der Hälfte beginnt, die beim ersten Mal noch nichts hatte. Er macht zwei weitere Runden und schenkt den Frauen ein, aber irgendwas stimmt nicht. Die Situation kommt ihm seltsam vor. Niemand bringt einen Trinkspruch aus, und sie trinken mit derselben Gleichgültigkeit, mit der sie auch ihre tägliche Suppenration entgegennehmen.

“Wofür sitzt du?”, fragt ein Mädchen mit Lockenwicklern.

“Ich habe randaliert”, sagt Iwan und leert die nächste Flasche.

Ein Dutzend Damen hat sich um den Tisch versammelt, und alle schauen auf Iwan. Sie warten, was jetzt passiert, als wäre er ein Zauberkünstler.

“Jetzt können wir rauchen”, verkündet Iwan und wirft ein Päckchen hausgemachter Zigaretten auf den Tisch.

“Damen rauchen so etwas nicht”, erklärt die Frau, die Iwan das Geheimnis der weiblichen Seele erläutert hat. “Heute raucht man Camels. Als ich jung war, wären wir dankbar für diesen Bauerntabak gewesen. Aber die junge Generation ist verwöhnt.”

“Ich bin wohl altmodisch”, gibt Iwan zu, als er von dem Wächter wiederkehrt, dem er aufgetragen hat, zwei Päckchen Camels zu besorgen. “Ehrlichgesagt,” fährt er fort, “ich glaube, alle Zigarettenmarken werden aus demselben Tabak hergestellt. Sie haben nur unterschiedliche Namen und Preise. Wenn ich Ihnen die Augen verbinden würde und Ihnen verschiedene Zigaretten gäbe, würden Sie sie nicht unterscheiden können. Wetten!”

“Das ist die Marktwirtschaft”, sagt das Lockenwickler-Mädchen. “Sie füllen Bier aus demselben Faß in unterschiedliche Flaschen und nennen es verschieden. Wenn du cool bist, kaufst du das teure Bier Und wenn du’s nicht so dicke hast, kaufst du das billige Bier. Aber wir trinken alle denselben Mist.”

“Genauso ist es bei den Restaurants”, beteiligt sich eine andere junge Dame an der Konversation. “Gleiches Essen, gleicher Service, aber unterschiedliche Preise...”

“Das finde ich nicht”, hält das Lockenwickler-Mädchen dagegen. “Bei Restaurants ist das anders. In den teuren bist du sicher. Aber in den billigen Spelunken gibt es keine Garantie, daß du nicht das Gesicht von einem Randalierer zerschlagen bekommst.” Als das Wort Randalierer fällt, schauen alle Damen Iwan an. Er ist plötzlich verlegen.

“In meiner Stadt werden in den billigen Kneipen die Tische und Stühle an den Boden geschraubt, wie hier im Knast”, sagt das Mädchen, das Iwan hat abblitzen lassen. “Billige Lokale sind sicherer, weil in teuren Restaurants nichts an den Boden geschraubt ist. Wenn ein Krawall losgeht, kann man einfach ein Möbelstück nehmen. Einmal war ich mit meinem Freund in einem teuren Restaurant, und wir landeten beide im Krankenhaus.

“Ich besorge Bier!” Iwan freut sich, daß er eine Konversation in Gang gebracht hat.

“Kein Bier! Wodka!”, sagt das Mädchen mit den Lockenwicklern. “Bier und Champagner passen nicht zusammen. Das macht nur Kopfschmerzen.”

“Ich will Bier!”, ruft ein gedrungenes Mädchen, das bisher still war. “Kopfschmerzen sind mir egal. Ich will Bier.”

Aus diesem Stoff sind häusliche Konflikte gemacht. Niemand sagt etwas. Alle schauen auf die Zellenchefin und warten auf ihr Urteil.

“Trinken ist eine Kunst”, erklärt sie und steht auf. “Wenn ihr einen Kater vermeiden wollt, müßt ihr zu einem stärkeren Getränk übergehen, nie zu einem leichteren. Außerdem dürfte der Wodka unserem Gast etwas Geld sparen. Der Champagner war sicher schon teuer. Was nimmt der Wächter für eine Flasche?”, fragt sie.

Iwan schaut sie verlegen an. “Das ist nicht wichtig. Wenigstens bekommen wir was bei ihm.” Iwan geht zum Wächter hinüber und bestellt ein paar Flaschen Stolichnaja-Wodka.

“Heutzutage ist Gefängniswächter ein toller Job”, sagt das Lockenwickler-Mädchen. “Hier können sie mehr als ihr Monatsgehalt verdienen, wenn sie den Gefangenen verbotene Sachen verkaufen. Mein Anwalt sagt, draußen vor dem Gefängnis stehen massenweise teure Autos. Jeder Wächter kann sich eins leisten.”

Die Zellenchefin entgegnet: “Ein Wächterjob kostet viel Bestechungsgeld. Und die Wachen müssen ihren Bossen einen Anteil zahlen... Vielleicht sind das die Wagen von hohen Offizieren, nicht von einfachen Wachen. Ich sag dir eins – in den alten Sowjetzeiten waren die Wächter keine Gauner wie heute. Sie mußten den Schein wahren, sonst wurden sie nicht mir Respekt behandelt. Heute ist ihnen nichts mehr heilig.”

Iwan kommt mit einer frischen Flasche Stolichnaja und füllt die Tassen. “Trinken wir auf die Wächter,“ sagt er. “Wenn sie nicht korrupt wären, hätten wir diese Party nicht.“

Alle trinken, und ein paar der Damen holen ihre Vorräte für schlechte Zeiten hervor.

“Ich würde mich nicht über mein Leben beklagen,” sagt Iwan, während ihm das Lockenwicklermädchen ein Käsebrot reicht, “ich bin ein Kartenspieler und verdiene gutes Geld damit. In der Sowjetzeit hatte ich Geld. Aber ich konnte damit nichts kaufen. Im Gefängnis bekam ich dafür nur etwas Tee. Heute bekomme ich hier alles. Was soll ich neidisch auf die Wachen sein – sollen sie doch teure Autos fahren, solange sie es uns schön gemütlich machen.”

“Schenk nochmal ein”, sagt die Zellenchefin. “Warte nicht zu lange zwischen den Runden, sonst ist das Essen schneller alle als der Wodka.” Mit unbewegter Miene kippt sie einen Wodka, als sei er klares Wasser. “Ja, ich erinnere mich an die Zeit, als man im Knast nur Tee kaufen konnte. Und draußen gab es nur Schuhwichse und Hering.

Das waren Zeiten! Als ich jung war, waren wir anders, wild und romantisch. Ich bin meinem Geliebten bis nach Sibirien gefolgt!” Sie starrt durch die Wand hindurch, als sähe sie ihn da. Dann nimmt sie einen weiteren Schluck. “Die jungen Mädchen heute sind faul und unentschlossen. Sie wissen nicht, was Liebe ist. Sie haben nie verrückte Sachen für ihre Männer getan.”

“Ich hab einen Seemann geliebt”, sagt das Putzfrau-Mädchen, das seit Beginn der Party auf der obersten Pritsche, der Palme, sitzt. “Ich habe sogar meinem Vater die Uhr gestohlen, um meinem Seemann ein Geschenk zu machen. Nach ihm hatte ich andere Seemänner...”

“Das war dumm, nicht verrückt,” sagt die Zellenchefin.

“Beweg deinen Arsch hier runter und trink was!”, fährt die Brünette die Putzfrau an.

“Du – paß auf, was du sagst, und du bleibst da oben”, kommandiert die Zellenchefin.

Die Frauen werden still und beobachten, wie Iwan eine weitere Flasche öffnet. Seine Bewegungen sind langsam. Er ist nicht mehr derselbe Iwan, der hier hergekommen ist. Er stiert stumm auf eine Stelle und dreht die Flasche in der Hand. Er ist betrunken.

Nachdem die frische Flasche offen ist und alle Damen einen weiteren Schluck bekommen haben, geht Iwan zu dem Lockenwicklermädchen, und sie setzt sich auf seinen Schoß. Am Anfang hat er sie gar nicht bemerkt, aber jetzt, durch den Stolichnaja-Nebel, scheint sie ihm schön.

“Tut mir leid, daß ich Lockenwickler habe”, sagt sie.

“Das ist in Ordnung,” sagt Iwan, “du siehst damit nett aus, wie eine Hausfrau.”

Sie trinken weiter, aber Iwan sieht müde aus. Er lächelt nicht mehr und wirkt nachdenklich.

“Warum sollte ich für einen Mann etwas Verrücktes tun, wenn alle Männer Schweine sind?”, fragt die Brünette. “Sie sind alle Trinker und Schweine.”

Iwan wirft ihr einen Blick zu, und sie zeigt ihm zum zweiten Mal an diesem Abend den Mittelfinger.

Die Zellenchefin bemerkt es und sagt: “Achte nicht auf sie. Sie hat sich nicht mehr unter Kontrolle.”

Da steht Iwan auf und lehnt sich finster über den Tisch. Alle sehen die Veränderung. Mr. Hyde taucht aus der Tiefe auf. Ohne Vorwarnung nimmt er eine leere Flasche und schleudert sie mach der brünetten Rebellin. Die Flasche zerbirst an der Wand über ihrem Kopf.

Mr. Hyde setzt sich und trinkt weiter. Die Brünette hat auf einmal Angst und schaut sich wild im Raum um. “Ja, zum Teufel!”, kreischt sie.

“Oho!”, sagt das Lockenwicklermädchen und verzieht sich.

Die anderen Mädchen rücken von Iwan ab und schauen zu ihrer Chefin. Einige von ihnen greifen sich leere Champagner- und Wodkaflaschen.

“Geh“, sagt die Zellenchefin ruhig zu Mr. Hyde. “Du hast die Party ruiniert und haust jetzt besser ab.”

Mr. Hyde ist nicht in der Stimmung für eine Abmahnung. Er wirft eine leere Flasche nach der Chefin, aber er hat nicht gut gezielt, und das Geschoß klirrt an die Wand.

“Mädels! Auf ihn!”, ruft die Chefin. “Los!”

In diesem Moment zerbricht eine Flasche an Iwans Kopf. Aus Gewohnheit versucht er den Tisch hochzuheben, aber der ist am Boden festgeschraubt. Genauso wie die Bank. Dann kracht eine weitere Flasche auf seinen Schädel.

Das Poltern und Schreien aus der Zelle füllt den gesamten Gefängnistrakt. Drinnen jagt Mr. Hyde alles, was sich bewegt, und versucht blind, irgendjemanden zu fassen zu kriegen.

Als ein Team von Wächtern schließlich die Zelle stürmt, ist Mr. Hyde wie ein Wolf in einem Hühnerhaus; er sitzt alleine am Tisch und trinkt den Rest Wodka. Die Damen haben sich alle hoch auf die ,Palmen‘ zurückgezogen. Bei Ankunft der Wachen verzieht sich Mr. Hyde, der Feigling, und bald findet sich der arme Iwan in einer Isolationszelle wieder. Ein paar Stunden später ist er so nüchtern, daß er gehen kann. Wie ein geprügelter Hund schleppt sich Iwan zurück in seine Zelle.

Als er hineinkommt, sieht er seine Zellengenossen schon an der Tür stehen und auf ihn warten. “Wie war es?”, fragt einer. “Erzähl uns alles! Du siehst so aus, als hätten sie sich um dich gerissen," bemerkt ein anderer.

“Wer war sie?” Gierig warten sie auf Iwans Eroberungsgeschichte. Alle wollen sie etwas hören; ihre Augen glänzen erwartungsvoll.

Iwan entdeckt den jungen Soldaten auf seiner Pritsche in der Ecke, den Kopf unter einer Decke vergraben. Auch er will Iwans Geschichte hören. Aber während Iwan draußen war, hat er wieder alle seine Kleider im Kartenspiel verloren.





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