ABGEMACHT

Es ist die Zeit der Reformen Andropows*, in einem Gefängnis in einer kleinen Republik der Sowjetunion. Der ehemalige Industrieminister ist soeben vom Kreuzverhör wiedergekommen. Sein Name ist Buriak. Er erwartet seinen Prozeß in einer Einzelzelle, und er ist nervös. Sein früherer Stellvertreter sitzt auch hier im Gefängnis.

„Dieser Mistkerl hat gestanden, daß er Bestechungsgelder an mich weitergeleitet hat", murmelt er. "So ein Idiot! Er versenkt sich selbst, und mich zieht er mit runter. – Der Mistkerl hat über 50 Klagen am Hals, und ich habe nur zwei... Jetzt komme ich noch schwerer aus der Sache raus...“

Der Minister läuft nervös in der Zelle auf und ab. Eines der Dinge im Gefängnis, die ihn wahnsinnig machen, ist das Radio. Es ist hoch oben an der Wand angebracht, und er kann es nicht leiser drehen. Er kann nur seinen Wächter bitten, es ein- oder auszuschalten; eine andere Einstellung gibt es nicht. Manchmal wartet er tagelang, bis der Wächter etwas am Radio macht. Wenn es an ist, dröhnt es zu laut, aber wenn es aus ist – wie jetzt gerade –, ist sein brütendes Schweigen noch schlimmer. Der Druck der Stille wiegt so schwer, daß Buriak an die Tür hämmert und den Wächter bittet, wieder Radio hören zu dürfen.

Seit einigen Tagen ist ein Bauernsender eingestellt. Meistens werden landwirtschaftliche Berichte übertragen. Das Radio schwatzt und schwatzt und kreischt über Erträge und Wetter, Zentner, Hektar, Getreide. Es berichtet viel über Rüben, rote und weiße. Jedes Mal, wenn das Radio Rüben erwähnt, zuckt der Minister zusammen. Sein Name, ,Buriak‘, bedeutet Rübe, und jedes Mal denkt er, das Radio rede von ihm. Seit er verhaftet wurde, bedeutet sein Name in den Nachrichten nichts Gutes, und die Zukunft bedrückt ihn.

Lesen kann er nicht, denn eine Lampe ist zu trüb, und die andere blendet. Selbst wenn er besseres Licht hätte, könnte er nicht lesen, und zwar wegen des Radios – und wegen der Läuse. Die Kleiderläuse sind das Schlimmste an seinem neuen Leben. Bisher kannte er die kleinen Schmarotzer nicht, und Läuse hätte Buriak mit vergangenen Zeiten in Verbindung gebracht, mit Typhus und Cholera.

Hier im Gefängnis mußte er die schreckliche Entdeckung machen, daß Läuse durchaus seine Zeitgenossen sind und daß sie in seinen Kleidern wohnen. Was für ein Abstieg für einen Mann, der weiße Anzüge gewohnt war und nie etwas hob, das schwerer war als seine Aktentasche! Die meiste Zeit beschäftigt sich Buriak damit, die kleinen Blutsauger zu erlegen. Manchmal findet er einen Tag lang oder zwei keine, und er denkt, er sei sie los, aber dann kommen sie wieder. Es juckt ihn überall, und der Gedanke, daß dieses Ungeziefer nicht auszurotten ist, bereitet ihm tiefe Depressionen.

Die Wächter verkaufen Anti-Läuse-Lotion, aber sie hilft nicht. Sie verkaufen auch etwas gegen das Jucken, aber jedes Mal, wenn Buriak sich damit einreibt, verwandelt sich das Jucken in einen stechenden Schmerz. Das bringt ihn in ein höllisches Dilemma, wenn es um intimere Körperteile geht.

Vor einiger Zeit hat er sich eine Grippe eingefangen und mußte eine Woche in der Zelle bleiben. Eine Woche lang hat er keines von den Mistviechern gesehen. Der Minister frohlockte schon, daß er endlich den Kampf gegen die Läuse gewonnen hätte. Aber er hatte sich zu früh gefreut. Kaum ging es ihm wieder gut genug, um die Zelle zu Hofgängen und Befragungen zu verlassen, entdeckte er, daß auch die verdammten Viecher wieder da waren.

Von Anfang an war er irritiert, daß die Wächter nichts gegen die Läuseplage unternahmen, aber inzwischen hat er den Verdacht, daß die Wachen sie in seine Zelle einschleusen. „Die Mistkerle müssen da eine Trick haben“, denkt er. „Ich muß mit meinem Wachmann reden.“ Buriak klopft laut an seine Zellentür. In weniger als einer Minute erscheint das schlitzäugige Gesicht eines Wächters im Guckloch.

„Werter Genosse. Hast du ein paar Minuten Zeit für ein persönliches Gespräch?“, fragt der Minister. Der Wächter nickt leicht mit dem Kopf. „Das Leben hier ist Folter für mich“, sagt Buriak. „Blendende Lichter, das laute Radio und diese Läuse... Vor ein paar Monaten war ich in Havanna, mit weißem Anzug, einer guten Zigarre im Mund, und trank besten Rum. Ich hatte schöne Frauen... Aber mein Leben hat sich geändert, und nun bin ich hier, bei dem Radio und den Läusen. Ich muß nun Seife und Mittelchen zum Einreiben von dir kaufen...“ Der Wächter schaut ihn interessiert an.

„Du scheinst ordentlich Geld zu verdienen“, fährt Buriak fort. „Das ist gut; ich habe nichts dagegen, wenn man sich etwas dazuverdient, insbesondere wenn dabei für uns Insassen das Leben leichter wird.“

Der Wächter lächelt. Es gefällt ihm, daß ein Minister so höflich mit ihm spricht. Diese hohen Amtsträger reden gewöhnlich im Befehlston, sogar im Gefängnis, aber der hier ist anders.

Buriak kommt zum Punkt: „Du mußt versehen, ich bin selbst ein Geschäftsmann und weiß, daß der Weg zum Erfolg nicht ohne ein paar Umwege verläuft. Wenn du mehr von deinen Laus-Lotionen verkaufen willst, mußt du vielleicht ab und zu kostenlose Läuse verteilen...“

Das Lächeln verschwindet vom Gesicht des Wächters, und er setzt eine Miene auf, als wisse er nicht, wovon Buriak da redet.

„Ich will damit keinesfalls sagen, daß du das tust, aber dein Warenbestand ist wertvoll. Es ist ein Grundprinzip des Handels, daß du säen mußt, wenn du ernten willst. Ich meine, wenn du Seife und Läusemittel verkaufen willst, dann mußt du die Läuse am Leben erhalten.“

Der Ausdruck des Wächters ist nun voller Verständnis. Offenbar hat er den Eindruck, daß der Minister ihn als intelligenten Mann betrachtet, als seinesgleichen. Er fühlt sich geschmeichelt. „Es gibt keinen Weg ohne Umweg“, bestätigt er lächelnd.

Buriak hat sich an die Tür gelehnt, als wolle er dem Wächter ins Ohr flüstern; der tut dasselbe von der anderen Seite.

„Reden wir offen. Wir sind beide Geschäftsleute, und ich glaube, wir können die Umwege abkürzen, die nicht zu unserem Vorteil sind“, flüstert Buriak. „Ich will, daß du hier keine Läuse mehr absetzt und meine Zelle komplett desinfizierst. Machen wir ab: Ich gebe dir hundert Rubel, und du hebst die kleinen Biester für jemand anderen auf.“

„Abgemacht“, sagt der Wächter und steckt den Hundert-Rubel-Schein ein, der im Guckloch erscheint.

„Vielleicht kannst du auch das Radio leiser drehen?“ setzt Buriak nach.

„Auch das läßt sich einrichten“, sagt der Wächter.

„Genosse, du bist ein angenehmer Geschäftspartner“, sagt der Minister. „Gib mir die Hand darauf. Es war mir eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen.“ Die beiden Männer reichen sich durch das Guckloch die Hände und schauen einander kurz in die Augen.

Buriak denkt kurz nach. „Warte! Es wäre mir einen weiteren Hunderter wert, wenn du meinen Läuse-Anteil bei meinem früheren Stellvertreter absetzen würdest. Seine Zelle ist im Flügel gegenüber...“

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* Im Jahre 1982 wurde Juri Andropow zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt. Er war der erste ehemalige KGB-Chef, der dieses Amt antrat. Er versuchte, streng gegen die Korruption im Staate vorzugehen. Während seiner Amtszeit waren die sowjetischen Gefängnisse voller Staatsmänner, Profiteure und Schwarzmarkthändler. Tausende wurden hingerichtet.





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