ACHMED DER RECHTSCHAFFENE

Achmed ist Soldat auf einem Wachturm des Gefängnisses. Er steht hoch oben über einer harten Welt aus Stacheldraht. Müde ist er, aber er zwingt sich, wach zu bleiben, um nicht die große Gelegenheit zu verpassen – zwei Wochen Urlaub gibt es für jeden Gefangenen, der bei einem Fluchtversuch erschossen wird.

Um Achmeds Bereich zu erreichen, muß ein Gefangener das Stacheldrahtgewirr überwinden, das den inneren Gefängnishof umschließt. Ein Schritt in sein Gebiet heißt, daß Achmed schießen darf und den Preis bekommt. Aber selbst wenn ein Flüchtling es an Achmeds Gewehr vorbei schafft, liegen noch zwei weitere Barrieren zwischen ihm und der Freiheit. Flucht ist unmöglich. Dennoch begehen Gefangene manchmal Selbstmord, indem sie die Todeszone betreten, und verhelfen einem glücklichen Soldaten zu einer zweiwöchigen Urlaubsreise.

Achmed kommt aus einer der Republiken aus Mittelasien. Er ist erst vier Monate bei der Armee, und er erträgt die Erniedrigungen und die grausame Schikane kaum, die jeder neue Soldat in der Sowjetarmee durchmacht. Er will nach Hause. Die Armee ist nicht das, was er gehofft hatte. Das schlimmste sind nicht die Abdrücke der Sowjetsterne von Gürtelschnallen auf seinem Rücken. Auch nicht der schmerzhafte Gong der Waschschüssel, die jeden Morgen, Mittag und Abend auf seinen Kopf niedersaust. Am schlimmsten ist das Essen. In seiner Heimat ist das Essen von Schweinefleisch verboten, eine Sünde gegen Allah. Jetzt lebt er im größten Schweinefleisch produzierenden Staat der UdSSR, und das verbotene Fleisch ist überall: in seiner Suppe, in seinem Brei und manchmal sogar in seinem Tee.

Er kann nicht einfach darauf warten, daß sich ein Gefangener in seinen Bereich wagt. Er muß nachhelfen. Er braucht eine Falle, und für eine Falle braucht er einen Köder. Achmed klettert leise von seinem Wachturm herunter und legt eine Schachtel Zigaretten und ein Stück Schmalz auf den Boden, zwei Schritte in sein Gebiet hinein. Die weiße Zigarettenpackung leuchtet auf dem schmutziggrauen Boden. Achmed weiß, was die Gefangenen für eine Schachtel Zigaretten tun würden. Nun ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis ein Gefangener die Grenze übertritt. Dann wird Achmed sich seinen Urlaub schießen, nach Hause, in die Gesellschaft rechtschaffener Menschen, die essen, was Allah wohlgefällig ist. Stolz auf seine Findigkeit, klettert Achmed wieder auf den Turm und lauert auf Beute. Er langweilt sich, aber dies ist die beste Zeit, denn er ist allein, und keiner quält ihn.

Achmeds Magen ist leer, und ein schrecklicher Gedanke kommt ihm. Was ist mit dem Schweinefleisch? In den letzten zwei Wochen kämpft er mit sich. Nachts träumt er von Essen, gutem Essen, dem richtigen Essen. Jetzt, in der Einsamkeit des Wachturmes, fällt ihm der Traum von letzter Nacht wieder ein. Ein sprechendes Schwein kam zu ihm. Es sagte: “Iß Schwein nur in der Nacht, wenn Allah schläft, und du begehst keine Sünde.” Achmed lehnt sich zurück und denkt über den Traum nach, seine verborgene Bedeutung und seine mögliche Prophezeiung.

Ein Teil von Achmed will glauben, daß das Schwein ein Bote des Guten war. Schließlich sah es nicht schmutzig oder sündig aus. Es schien sogar menschlich... Aber eine andere Stimme in ihm sagt, daß der Teufel vielerlei Gestalt annehmen kann, um ihn zur Sünde zu verführen. Ja, es war etwas Verdächtiges an dem Schwein und an der Art, wie es redete. Es schmatzte und zwinkerte, als es sagte, daß Allah nachts schläft. Wenn das Schwein nun wirklich der Teufel gewesen wäre... Es war ein so schöner Traum, so ein freundliches Schwein, bis es sich am Ende in einen Soldaten verwandelte, der Achmed ein brennendes Streichholz zwischen die Finger steckte.

Achmed schaut seine Hände an, voller Brandblasen von solchen brennenden Streichhölzern. Sie nennen das “Balalaika”, weil der Schläfer wild wedelnde Bewegungen macht, wenn er den Schmerz abschütteln will.

“Ich werde meinem Bruder schreiben, daß er mir Handschuhe schicken soll”, denkt Achmed. “Ich werde sie zum Schlafen anziehen. Eine gute Idee. Als ich anfing, mit Stiefeln zu schlafen, konnten sie mir keine Streichhölzer mehr zwischen die Zehen stecken, damit ich wie ein Bär tanzte. Ich schreibe meinem Bruder, er soll mir kein Rasierwasser mehr schicken; die älteren Soldaten nehmen es mir nur wieder ab und trinken es.”

Allmählich verschwimmen seine Gedanken, und er nickt ein, obwohl er dagegen ankämpft. Vielleicht kann er das Schwein wiedersehen...

“Vielleicht hat mir das Schwein eine gute Nachricht gebracht”, denkt Achmed. “Es wäre einfacher, wenn ich Schweinefleisch essen könnte.” Dann umhüllt ihn Wärme. Wenn er einen Flüchtling erschießen könnte, bekäme er Urlaub... Da vorne liegt der Köder... Er träumt von den Bergen seiner Heimat.

Der Ton einer fernen Sirene weckt ihn. Wenn ihn ein Offizier beim Schlafen erwischt, kommt er selbst ins Gefängnis. Der Gedanke an das Strafbattalion weckt ihn vollends.

Achmed schaut auf seine Uhr. Es ist Zeit für das Morgengebet. In seinen Dorf galt er als rechtschaffener und intelligenter Junge, der niemals ein Gebet vergaß, und hier wird er auch keines vergessen, so weit weg von zuhause. Achmed kniet sich hin und betet. Es tröstet ihn. Er ist in Harmonie mit Allah. Achmed steht vom Gebet auf, in ihm ist Frieden, und schaut über sein Gebiet. Zigaretten und Schmalz sind weg. Jemand hat den Köder fortgenommen, aber wer geworden ist, ist Achmed.





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